Jürgen Habermas will die Ukraine zwar unterstützen, aber mit dem Ziel, möglichst schnell in Verhandlungen einzutreten. Im Gespräch mit Thomas Meaney, das im Juli geführt wurde, kommt er zurück auf die Debatte, die er in Deutschland ausgelöst hatte - und bleibt bei seiner Position: "Die
westlichen Regierungen wollen eine formelle Beteiligung an dem Krieg vermeiden. Was mich jedoch von Anfang an beunruhigt hat, ist die
fehlende Perspektive. Sie versichern der Ukraine immer wieder unbegrenzte militärische Unterstützung bis zu dieser Schwelle, ohne jedoch
ihre eigenen politischen Ziele zu erklären. Offiziell überlassen sie alles andere der ukrainischen Regierung und ihren Soldaten. Diese fehlende öffentliche Artikulation politischer Ziele ist umso unverständlicher, je mehr der Verlauf des Krieges zeigt, wie sich die geopolitischen Konstellationen zu Ungunsten der im Niedergang befindlichen Supermacht USA und der international handlungsunfähigen EU verändern. Deshalb habe ich im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz in einem weiteren Artikel in der
Süddeutschen Zeitung - 'Ein Plädoyer für Verhandlungen' (unser
Resümee) - daran erinnert, dass der Westen mit der militärischen Hilfe, die letztlich die
Verlängerung des Krieges ermöglicht, eine moralische Mitverantwortung übernommen hat. Ganz abgesehen von der Entschlossenheit der Ukrainer, sich der Invasion zu widersetzen, trägt der Westen mit seiner logistischen Unterstützung und seinen Waffensystemen eine
moralische Mitverantwortung für die täglichen Opfer des Krieges - für alle zusätzlichen Toten und Verletzten und alle zusätzlichen Zerstörungen von Krankenhäusern und wichtiger Infrastruktur. Es wäre daher kein Verrat an der Ukraine, sondern eine klare normative Forderung, wenn die Vereinigten Staaten und Europa darauf bestehen würden, alle Möglichkeiten für einen Waffenstillstand und einen gesichtswahrenden Kompromiss für beide Seiten auszuloten."
In dieser
Ausgabe, die übrigens
Deutschland gewidmet ist, gibt es auch ein sehr sehr langes
Gespräch mit
Eyal Weizman,
Gründer von
Forensic Architecture, und die Veranstaltungskuratorin und Aktivistin
Emily Dische-
Becker, die die
Erinnerungskultur in Deutschland kritisieren, weil sie das Judentum "mystifiziere", der rechten Regierung in Israel in die Hände spiele und nicht akzeptiere, dass der Holocaust nur ein Unterfall des Kolonialismus sei. "Es ist nun offensichtlich, dass das Thema
Antisemitismus ein Laboratorium für eine umfassendere
antidemokratische Politik darstellt und als Präzedenzfall für das Verbot anderer Protestformen dient", ist Dische-Becker überzeugt. "Erst wurden die palästinensischen Demonstrationen aufgelöst, jetzt werden andere Demonstrationen der Linken verhindert. So hat die Regierung beispielsweise begonnen, mit Maßnahmen wie Präventivhaft gegen Umweltaktivisten vorzugehen." Was Dische-Becker allerdings mit keinem Wort erwähnt, ist der Slogan, der jahrelang bei propalästinensischen Demonstrationen gerufen wurde, bis es der trägen deutschen Öffentlichkeit mal auffiel: "Hamas, Hamas, Juden ins Gas."
In einem zweiten, ebenfalls sehr langen
Gespräch mit Weizman und Dische-Becker, das
nach dem 7.
Oktober geführt wurde, bekennt Weizman: "Als Nachkomme einer Familie von Pogrom- und Holocaust-Überlebenden kann ich nicht leugnen, dass die Ermordung von Familien aus nächster Nähe
emotional sehr aufwühlend war. Aber das Trauma, das auch ich erlebe, kann die Verantwortung der historischen Analyse nicht ersetzen. Die israelische Gesellschaft scheint im 7. Oktober festzustecken, wie in einer endlosen Gegenwart. ... Das Trauma erzeugt einen metageschichtlichen psychologischen Zustand der permanenten Verfolgung. Das ist sehr gefährlich, vor allem, wenn Israel eine
so große Armee hat, mit so viel internationaler Unterstützung und einer
Vernichtungsmentalität. Israelische und deutsche Politiker sagen: 'Nie wieder ist jetzt'. Das artet in eine groteske Parodie des historischen Gedächtnisses aus, wenn der israelische Botschafter bei der UNO mit einem Davidstern als Rechtfertigung für die Vernichtung des Gazastreifens dasteht und die völkermörderischen Aussagen der israelischen Regierung und Armee wiederholt. ... Der Tag nach diesem Krieg wird nicht viel anders sein als der Tag davor, solange wir nicht die Frage der Befreiung und Gleichheit der Palästinenser adressieren. Dass Palästinenser
Rechte haben über Palästina? Das ist nicht die Frage, sondern das Ziel unseres Kampfes. Eine andere Frage ist: Welche Rechte haben Juden in Palästina?"