
Arthur Asseraf ist
Historiker und Franzose mit
marokkanischen Vorfahren. Zwischen beidem tut sich für ihn eine seltsame Verbindung auf, als seine Großmutter und später sein Vater an
Demenz erkranken, erzählt er in einem sehr lesenswerten
Essay für die Onlineausgabe. Seine marokkanische Großmutter kam ihm schon als Kind vor "wie ein Alien. Damals dachte ich, ich könnte ihre Geschichten nicht verstehen, weil ich zu jung war." Um ihre Geschichten besser zu verstehen, wurde er Historiker und lernte,
Geschichte aus der Distanz zu betrachten. Damit stellte sich nicht nur Kontext her, die Distanz half ihm auch zu verstehen und darüber zu sprechen, dass seine Großmutter, Tochter einer jüdischen Familie,
eine Rassistin war. "Ihre Familie lebte in Marokko, soweit wir sie zurückverfolgen können. Und als die Franzosen kamen, öffneten sie ihren Mund für den Kolonialismus, aßen ihn, verdauten ihn und machten ihn sich zu eigen. Als sie mir sagte, sie sei nach Frankreich 'zurückgekehrt', als sie 1956 ihre Heimat Marokko verließ, war das keine Lüge: In ihrer Vorstellung hatte sie ihr ganzes Leben
in einem imaginären Frankreich gelebt. ... Ich wollte mit dieser Welt nichts zu tun haben. Ich analysierte sie aus der Ferne. Auf Konferenzen stand ich vor Rednerpulten und konnte den Leuten ihre Vergangenheit besser erzählen als sie selbst." Bis er nach einer Panikattacke seiner Großmutter, die glaubte, man wolle ihn
in ein Konzentrationslager verschleppen, begriff, dass sie - und später sein Vater - ganz in der Vergangenheit lebte, die plötzlich
unmittelbar anschaulich wurde: "Als Historiker wird uns gesagt, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit der Vergangenheit bedeutet, sich von der Gegenwart zu entfernen. Wie alle Formen der Isolation von der Welt, vom Mönchstum bis zur Zwangseinweisung, kann dies Trost oder Schmerz bringen. Aber während mein Vater langsam stirbt, fällt es mir immer schwerer, diesem Grundsatz zu folgen. Ich möchte
nicht in einer anderen Zeit leben als er. Es gibt mehr als eine Möglichkeit, von der Gegenwart aus in die Vergangenheit zu gelangen. Man kann einen alten Briefumschlag öffnen und spüren, wie die Worte darin über die Lippen kommen; man kann versuchen, das genaue Rezept der Tajine seiner Großmutter wieder aufleben zu lassen, um es im Mund zu spüren. Ich würde gerne glauben, dass die Beobachtung, wie die Menschen, die ich am meisten liebe, den Verstand verlieren, mich zu einem besseren Historiker gemacht hat als meine Diplome und Bücher. Vielleicht müssen die Fähigkeiten, die ich so lange in der Schule gelernt habe, nicht wie Skalpellmesser benutzt werden, um die Geschichten meiner Familie zu sezieren. Vielleicht können sie mir helfen, ihnen
näher zu kommen. Vielleicht ist es dieselbe Biegsamkeit des Gehirns, die uns dazu bringt, Geschichte und Demenz zu studieren. Eine familiäre
Veranlagung für Zeitreisen."
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