Magazinrundschau - Archiv

The New Statesman

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Magazinrundschau vom 24.10.2023 - New Statesman

Der Westen hat die demokratische Standfestigkeit Polens unterschätzt, analysiert David Broder nach der Abwahl der rechtspopulistischen PiS-Regierung. Die hatte sich, führt er aus, zwar tatsächlich daran gemacht, demokratische Institutionen zu demolieren. Aber "das düstere Bild der demokratischen Standards in Polen muss auch die allgemeine Stärke der Zivilgesellschaft und der demokratischen Mobilisierung berücksichtigen. Deren Vitalität zeigte sich an den Wahlurnen: Während in den 1990ern und 2000ern oft weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben (der Tiefpunkt kam im Jahr 2005 mit 40.6 Prozent, und das war auch die Wahl, durch die die PiS erstmals Teil der Regierung wurde), lag die Wahlbeteiligung am 15. Oktober bei über 74 Prozent. Und war damit höher als bei der ersten kompetitiven Wahl 1989, und auch höher als zuletzt etwa in Großbritannien, Frankreich und Italien." Überhaupt ist Polen möglicherweise nicht gar so weit entfernt von den politischen Trends im restlichen Europa, denkt sich Broder. "Das mediale Narrativ, das rechtsautoritäre Tendenzen 'orientalisiert', indem sie der unvollständigen demokratischen Entwicklung des ehemaligen Ostblocks zugeschrieben wird, betrifft nicht nur Polen allein. Im Deutschland werden derzeit die vermeintlich unterentwickelten demokratischen Sitten der früheren DDR-Bürger für den Aufstieg der AfD verantwortlich gemacht. Eine weniger voreilige Analyse würde fragen, warum junge Ostdeutsche deutlich häufiger die AfD wählen als diejenigen, die 1989 bereits erwachsen waren, und auch warum die AfD sogar in den wohlhabendsten westlichen Bundesländern zunehmend erfolgreich ist."

Warum sprechen alle über die Rolle Irans als Unterstützer der Hamas, und niemand über die Rolle Katars, fragt John Jenkins. Selbst Israel hatte die Verbindungen zwischen Doha und Gaza gestärkt, indem Zahlungen aus Katar an die Hamas genehmigt und dadurch die Kontrolle der Terrororganisation über das Gebiet gestärkt wurden - auch in der Hoffnung, dass die politische Spaltung der Palästinenser zwischen Fatah und Hamas deren politische Position insgesamt schwächt. Diese Taktik hatte nun offensichtlich fatale Konsequenzen: "Die Hamas hat sich nicht verändert. Sie steht nicht für die Möglichkeit einer politischen Lösung, sondern für die endlose Fortsetzung des Konflikts. Das wirft die Frage auf, was Katar sich von der Unterstützung der Gruppe erhofft hatte. (...) Israel hätte fragen können, warum Katar derart große Geldbeträge ausgegeben hat, um diverse extrem konservative, oft separatistische und hochgradig spaltende Islamismen in Europa aufzubauen. Es hätte überprüfen können, was genau die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft an Katar durch die Fifa über die Redlichkeit des Regimes aussagt, und was die Cyberattacken auf Katars Kritiker darüber aussagen, wie Doha mit allen umzugehen gedenkt, die die Motive Katars in Frage stellen."
Stichwörter: Iran, Qatar, Hamas, Israel, Polen, PiS-Partei, AfD, Katar

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - New Statesman

Lawrence Freedman ist, wie viele derzeit, geschockt von den Hamas-Attacken auf Israel. Wie andere Beobachter fühlt auch er sich an den Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 erinnert, der mit einem überraschenden Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel begann. Doch er sieht auch Unterschiede: "Umfang und Art der Angriffe sind begrenzter und terroristischer, wenn man sie mit der Kanalüberquerung und den Vorstößen mit Panzerfahrzeugen im Jahr 1973 vergleicht. Außerdem bekämpft Israel bislang nur einen Gegner, anders als 1973, als es sich nicht auf die Ägyptischen Angriffe konzentrieren konnte, bevor die dringlichere Gefahr von Seiten Syriens behoben war. Das Land ist sich sicherlich bewusst, dass sich das ändern kann, entweder durch ein Anschwellen der Gewalt in der West Bank oder dadurch, dass die Hisbollah den Krieg vom Libanon aus aufnimmt, mit noch tödlicheren Folgen. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass der Krieg im Jahr 1973 zur Diplomatie hinführte. Vorher hatten sich alle arabischen Staaten geweigert, Israels Existenzrechr anzuerkennen und Vorschläge für direkte Verhandlungen zurückgewiesen. Der ägyptischen Präsident Anwar Sadat wollte das ändern und nutze seinen Prestigegewinn aufgrund der ersten erfolgreichen Kriegstage dazu, einen Prozess in Gang zu setzen, der mit einem Friedensvertrag mit Israel endete. Woraufhin er, leider, umgebracht wurde. Dem gegenwärtigen Krieg hingegen gingen wichtige Verhandlungen und Durchbrüche in den israelisch-arabischen diplomatischen Beziehungen, besonders was die Golfstaaten betrifft, voraus. ... Der saudische Kronprinz Mohammed Bin Salman besteht weiterhin darauf, dass die palästinensische Frage nicht vergessen ist, aber die Palästinenser haben in der Region nur wenige Freunde, so populär ihre Sache auch bei den einfachen Menschen ist. Die Anschläge wurden vor der jüngsten Phase des saudi-israelischen Dialogs geplant. Da dieser Normalisierungsprozess jedoch schon seit einiger Zeit im Gange ist, ist es möglich, dass ein Motiv darin bestand, ihn zum Entgleisen zu bringen."

Magazinrundschau vom 19.09.2023 - New Statesman

David Broder ist sich nach wie vor nicht sicher, wie Giorgia Melonis Politik sich auf die Dauer gestalten wird. In der Außendarstellung bleibt die italienische Premierministerin oft vage, wobei die Rhetorik langsam schärfer wird, auch aufgrund der Konkurrenz von (noch weiter) rechts: "Melonis Tonfall ist weicher als der Roberto Vannaccis, aber auch sie ruft völkische Diskurse auf. Diesen April wurde ihr Agrarminister Francesco Lollobrigida scharf kritisiert, als er von 'ethnischen Säuberungen' sprach, einem Begriff, der den vermeintlichen Austausch einheimischer Italiener durch Ausländer aufruft. In ihrem Buch schreibt Meloni, dass diese Anschuldigungen gegenstandslos sind, da 'Ethnizität' sich auf 'Kultur' beziehe, nicht auf 'physische' Eigenschaften. Sie fügt hinzu, dass in der Tat 'Pläne' bestünden, die italienische Identität auszulöschen. 'Große ökonomische Mächte' bevorzugten afrikanische Migranten gegenüber Osteuropäern, da sie 'besser dazu geeignet' seien, das Italienertum in einem 'Melting-Pot-Plan, einer Mischung, die verdünnt' aufgehen zu lassen." Wenn es um konkrete Politik geht, bleiben die Konturen hingegen vage: "Abgesehen von formalen Dingen beschäftigt sie sich wenig mit den zentralen Problemen der Gegenwart, auch ihre EU-Politik hat wenig Substanz. Ihre Auseinandersetzung mit Ökologie bringt ein wichtiges Thema in den Fokus: Europa darf nicht mehr so abhängig sein von chinesischen Importen. Ihre 'anti-globalistische' Position bleibt allerdings widersprüchlich, da sie weiterhin auf das Reagan'sche Mantra setzt, demzufolge der Staat sich aus der Wirtschaft herauszuhalten habe."

Außerdem: Auch Quinn Slobodian liest, wie derzeit alle Welt, Walter Isaacsons Elon-Musk-Biografie und außerdem ein Buch Jonathan Taplins über vier Milliardäre der Gegenwart. Er steigt etwas tiefer ins Thema ein und stellt den die Weltwirtschaft revolutionierenden südafrikanischen Unternehmer neben einen seiner Vorgänger: Henry Ford. Es gibt einige interessante Gemeinsamkeiten wie etwa die Vorliebe für Verschwörungstheorien, aber letztlich fällt der Vergleich zuungunsten Musks aus: "Worin sich der Unterschied von Fordismus und Muskismus am deutlichsten zeigt: Musk ging es nie darum, eine Welle auszulösen, die alle Schiffe hebt. Es geht um einen Geysir bestehend aus Raketentreibstoff, der ein einziges Schiff - wortwörtlich ein Raumschiff - in die Höhe wirft und ihn selbst mitsamt seinen (bislang) zehn Sprößlingen weit weg bringt von uns Zombies. Was gut für Tesla ist, ist gut für den Mars, ist gut für Musk. Auf der Privatinsel des Milliardärs Larry Ellison hebt Musk seinen Sohn X Æ A-Xii zu einem Teleskop empor und sagt: 'Schau, das ist, wo wir einmal leben werden.' Die schmerzhafte Ironie dieser angeblich futuristischen Vision besteht darin, dass sie in Wirklichkeit alt und angestaubt ist. Seine Fluchtpläne kehren zu dem Ort zurück, an dem er begonnen hat: die vergilbten Landkarten des Großen Treks der Boers nach Südafrika, mit dem Auftrag, die Nachkommenschaft jenseits der verschwindenden Grenze zu mehren. Wie Taplin im besten Kapitel seines Buchs klarstellt, gibt es keine wissenschaftliche Rechtfertigung dafür, einen Fuß auf den Mars zu setzen. Der einzige Grund bestünde im überwältigenden Verlangen danach, allein zu sein."

Magazinrundschau vom 12.09.2023 - New Statesman

Anlässlich des G20-Gipfels in Brasilien analysiert Shruti Kapila sowohl die gegenwärtige geopolitische Stellung als auch die innenpolitischen Dynamiken Indiens. Die Spannungen zwischen China und dem Westen spielen Premierminister Narendra Modi derzeit in die Hände. Aber das kann sich schnell ändern, meint Kapila. Und die Probleme im Inneren wird Modi sowieso nicht los: "Die internationale Presse nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Heuchelei, wenn nicht die Inkonsistenz zu benennen, die darin besteht, der Einheit der Welt das Wort zu reden, während Indien selbst nach neun Jahren Modi-Herrschaft immer gespaltener erscheint. Die Rückschritte in Sachen Demokratisierung, die Unterdrückung der muslimischen Minderheit sowohl durch alltägliche, als auch durch außerordentliche Gewalt, die Erosion der einst stabilen und freien Medienlandschaft: All das zeigt, dass Indien nicht länger als ein Beispiel für eine funktionierende multikulturelle Demokratie taugt. Kritiker des Modi-Regimes werden mit der ganzen Härte der Staatsmacht bekämpft, seien es Wissenschaftler, Filmstars oder Spitzensportler. Anführer und Anhänger der Oppositionsparteien werden in Rechtsstreitigkeiten verwickelt, in denen es etwa um Diffamierung oder Korruption geht. Der Staatsapparat tut alles dafür, politischen Widerstand zum Schweigen zu bringen. Um sein negatives Image auf der globalen Bühne aufzupolieren, bemühen Modi und seine Getreuen die Rhetorik der Dekolonialisierung und zivilisatorische Grandezza in Indiens Version der brodelnden Kulturkämpfe."

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - New Statesman


Robert D. Kaplan wusste es schon vor 30 Jahren, als er über das ausgetrocknete Mali flog: "Die am meisten benachteiligten Länder Westafrikas waren ein Mikrokosmos, wenn auch in übertriebener Form, für die Unruhen, die uns rund um den Globus erwarten würden. Von Afrika können wir sicherlich etwas lernen", erinnert er uns im New Statesman. Überbevölkerung, Dürre, ethnische Konflikte, Korruption und Kriege werden einen gewaltigen Migrationsdruck auf Europa schaffen, das an diesen Entwicklungen nicht gerade unschuldig ist, warnt Kaplan. Was könnte die Lösung sein? Mehr Demokratie? So einfach ist es nicht, zuallererst sollte man genau hingucken, empfiehlt er: "Um diese Welt zu begreifen, ist es wichtiger, sich mit den Realitäten vor Ort zu befassen als mit politikwissenschaftlichen Abstraktionen. … Im Jahr 2006 machte ich mit Spezialkräften der US-Armee in Mali eine extreme Erfahrung. Dort erfuhr ich, dass die Stadt Timbuktu mit ihren Lehmziegelhäusern und gelegentlichen Satellitenschüsseln nicht, wie das Klischee besagt, das Ende der Welt ist, sondern ein Teil der modernen Welt, die ich hinter mir ließ, als ich tiefer und nördlicher in die Sahara vordrang. Ich war auf dem Weg nach Araouane, einem Ort mit wenigen Brunnen oder Einwohnern, der dennoch auf einer Landkarte verzeichnet war, als wäre er Cleveland. Aber niemand in Timbuktu, geschweige denn in der weit im Süden und Westen gelegenen Hauptstadt Bamako, hatte eine Ahnung, ob in Araouane noch Menschen lebten und wie es um ihre Sicherheit und Gesundheit bestellt war. Die Green Berets mussten das herausfinden, indem sie sich tatsächlich dorthin begaben. Sie rechneten damit, dass sie von Timbuktu aus vier Stunden bis nach Araouane brauchen würden. Wegen platter Reifen, überhitzter Autobatterien und wiederholtem Steckenbleiben im Sand dauerte es 11 Stunden. Araouane war ein Trümmerhaufen, in dem nur noch Frauen, Kinder und alte Menschen lebten, während die Männer auf den Karawanenrouten Banditentum und Handel betrieben. Mit der Einführung der Demokratie in Mali wurden die Politiker unter Druck gesetzt, die gesamten Hilfsgelder im bevölkerungsreichen Süden, in der Nähe der Hauptstadt Bamako auszugeben, wo die Wähler ihre Stimme abgaben. Dies war nur eine Art, wie Demokratie die unmöglichen Grenzen Malis noch unwirklicher machte. Die Situation in diesen Wüstengebieten hat sich seit meinem Besuch durch den Zustrom radikaler islamistischer Gruppen in gewisser Weise verschlimmert. Als die französischen Kolonialherren im 19. und frühen 20. Jahrhundert diese Grenzen zogen, platzierten sie die Hauptstädte so weit südlich und so nah an der Savanne wie möglich - zum Teil, damit die Städte lediglich eine nördliche Verlängerung der westafrikanischen Küste darstellen, wo sich die Kolonialtruppen meist aufhielten. Die Hauptstädte und die in ihrer Nähe lebenden Menschen sind eigentlich Teil der Sahelzone, einer ökologischen Übergangszone zwischen Wüste und Grasland. Doch aufgrund der vom Imperialismus gezeichneten Landkarte sind die Regierungen von Niger und Mali auf die Zuständigkeit für riesige Wüstengebiete angewiesen, die sich über die Sahara erstrecken und den größten Teil ihres Rechtsgebiets ausmachen. Niger ist so groß und leer, dass die libysche Grenze im Nordosten von der Hauptstadt Niamey weiter entfernt ist als die Großen Seen Nordamerikas vom Golf von Mexiko."

Magazinrundschau vom 15.08.2023 - New Statesman

Zoe Strimpel berichtet von ihrem Besuch eines Festivals des von Viktor Orbáns Fidesz-Partei betriebenen Mathias Corvinus Collegium (MCC) in Esztergom. Erlebt hat sie die Veranstaltung als Mischung aus kulturellem Allerlei mit nationalistischen Untertönen und Netzwerktreffen der internationalen Neuen Rechten. Insbesondere über Antiamerikanismus und die Allgegenwart von Warnungen vor der vermeintlich allmächtigen "Woke-Kultur" weiß sie zu berichten: "Hinter dem oberflächlichen Gleichklang der Reden über Familienwerte sowie die Gefahr durch 'woke', EU und Amerikaner, traten die Widersprüchlichkeiten und auch der düstere Kern des neuen, radikalen Konservativismus zutage. Die anti-woke-Bewegung begann als berechtigter und wichtiger Kampf um Redefreieheit angesichts einer linken Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit, die offen den Versuch unterninmmt, die Freiheit der Rede, der Gedanken und von Institutionen zu beschränken. Aber dieser Freiheitsimpuls scheint inzwischen vergessen, beziehungsweise wurde er ersetzt durch die Ambition einer transatlantisch aktiven Bande, ausschließlich die Rechte der politischen Rechten zu betonen und die Heilsversprechen konservativer Werte zu predigen - all das im hyperbolischen Modus der plumpen Verhöhnung, der Feindschaft und der exzessiven Schmähung der sogeannten 'libtards'."

Magazinrundschau vom 13.06.2023 - New Statesman

Die Stadt Marseille droht im Chaos zu versinken, konstatiert der britische Autor Andrew Hussey. Zwar büßen die Sehenswürdigkeiten der Stadt, zum Beispiel die Notre-Dame de la Garde, nichts von ihrem Charme ein, so Hussey - doch viele Stadtteile müssen sich mit einer steigenden Zahl von Drogenbanden herumschlagen, die immer brutaler vorgehen. Präsident Macron versucht, die Kriminalität mit Hilfe von Spezialeinheiten einzudämmen, war damit aber bisher nicht erfolgreich. Gleichzeitig sieht Hussey in Marseille, das "schon immer seine kriminelle Kultur mythologisiert hat", eine falsche Nostalgie blühen: Da wird das "Goldene Zeitalter" der Bandenkriminalität im 20. Jahrhundert verklärt und die Eigenständigkeit gegenüber Paris betont. Diese Einstellung prägt auch einige neue Serien über das aufregend gefährliche, kriminelle Marseille. Angesichts der Machtverhältnisse heutzutage findet Hussey das nicht mehr zeitgemäß: "Dieses sogenannte 'Goldene Zeitalter' ist lange schon verblichen. Heutzutage ist Marseille - insbesondere das quartier nord - das Lehnsgut von Drogenlords, viele von ihnen aus Nordafrika, die ihr Geld außerhalb von Frankreich für luxuriöse Villen in Marokko, Spanien oder der Schweiz ausgeben, während sie die Stadt ihren verfeindeten Fußsoldaten überlassen. Die Polizei, verdorben durch die Korruption, ist weder in der Lage, die Anführer der Banden zu schnappen, noch die internen Kleinkriege der Banden untereinander zu stoppen. Auch den zusätzlichen Eliteeinheiten aus Paris, die von Macron finanziert wurden, ist es nicht gelungen, diesen trostlosen Kreislauf zu durchbrechen."
Stichwörter: Marseille, Marokko, Notre Dame

Magazinrundschau vom 16.05.2023 - New Statesman

Haiti versinkt in Anarchie. Kriminelle Banden haben das Land in ihre Gewalt gebracht, der allseits verachtete Premierminister Jovenel Henry klammert sich ohne Mandat an die Macht, die Menschen leben in einem permanenten Zustand von Angst und Schrecken. Pooja Bhatia blickt auf ein Land in völliger Verzweiflung: "Hier einige Strategien zur Vermeidung einer Entführung, wie sie unter Freunden und Bekannten, die noch in Haiti leben, kursieren: 'Vermeide Port-au-Prince, wenn Du kannst. Schränke Deine Bewegungen ein. Gehe nicht nach 18 Uhr auf die Straße. Nimm keine Abkürzungen. Wenn Du ein Auto hast, benutze es nicht; Menschen in Autos sind Zielscheiben und die Autos selbst auch. Nimm ein Motorrad - damit bist Du schneller und unauffälliger. Geh zu Fuß. Fahr mit dem Bus... Geh nicht zur Arbeit. Schicke Deine Kinder nicht zur Schule, wenn diese noch geöffnet ist. Kein Ort ist sicher, nicht einmal die Kirche. Niemand ist sicher, nicht der bekannte Fernsehproduzent, nicht die Marktfrau, nicht das Kind. Vermeide es, in den sozialen Medien zu posten. Vermeide Zoom-Meetings. Sichere Deine WhatsApp-Gruppe, damit sie nicht von Bandenmitgliedern infiltriert wird. Organisiere Deine Nachbarschaft. Sammel Geld für das örtliche Kommissariat, denn die Polizei kann sich kein Benzin, keine Lebensmittel und keine Waffen mehr leisten. Sammel Geld für die Straßenbeleuchtung. Stell private Wachleute ein, zwei an jedem Eingang des Viertels. Wenn Bandenmitglieder einen der Wachmänner entwaffnen, errichte eine massive Betonmauer an einem der Eingänge. Wenn die Bande einen der Wachmänner tötet und die Sicherheitsfirma den Vertrag für das Viertel kündigt, suche eine andere Sicherheitsfirma. Wenn die Bande eines Nachts die Mauer mit einem Bulldozer einreißt und alle in Angst und Schrecken versetzt, ersetze die Mauer durch einen Schiffscontainer. Fülle den Container mit Steinen und stelle zwei Halbcontainer darauf. Fülle auch diese mit Steinen. Überrede den Bürgermeister, eine nahe gelegene Brücke abzureißen, damit die Bande keine schweren Maschinen mehr in Dein Viertel bringen kann, um die Container abzutransportieren.'"
Stichwörter: Haiti, Soziale Medien

Magazinrundschau vom 20.12.2022 - New Statesman

In einem düsteren Text verabschiedet John Gray den Glauben an eine demokratische Weltordnung. Wir sehen einer Zeit reiner Realpolitik entgegen, in der sich rivalisierende Mächte in Schach halten werden, prophezeit er. Anhänger internationaler Ideale hält er für so verblendet wie Nikolai Bucharin, der an einen "Bolschewismus mit menschlichem Antlitz" glaubte und in den Moskauer Prozessen als Verräter zum Tode verurteilt wurde. Arthur Koestler lehnte seinen Roman "Sonnenfinsternis" an Bucharins Geschichte an. Gray begründet die Parallele nicht, aber er malt sie eindrücklich aus: "Die Diktatur war von Anfang an die logische Konsequenz des sowjetischen Projekts. Das Eingeständnis dieser Wahrheit hätte Bucharins Bild der Geschichte und seines eigenen Platzes darin zunichte gemacht. Bis zu seinem Tod scheint er sich nie die Frage gestellt zu haben, die der Schriftsteller Isaak Babel 1920 in seinem Tagebuch aufgeworfen hat, als er während des Russischen Bürgerkriegs Zeuge der Gräueltaten der Rote Armee wurde, in der er damals diente: 'Wir sind die Vorhut, aber wovon?'. Zwanzig Jahre später wurde Babel im Lubjanka-Gefängnis von Stalins oberstem Henker Wassili Blochin erschossen, der im selben Jahr im Massaker von Katyn Tausende von polnischen Offizieren erschoss. Koestler verstand die bolschewistische Denkweise, denn auch er hatte um der Sache willen die Wahrheit verschwiegen. Er verbrachte den Winter 1932/33 in Charkiw, der damaligen Hauptstadt der Sowjetischen Ukraine, auf dem Höhepunkt des Holodomor, der politisch herbeigeführten Hungersnot, bei der vier Millionen Menschen oder mehr verhungerten. Als er mit dem Zug durch das Land reiste, fand er 'die Bahnhöfe gesäumt von bettelnden Bauern mit geschwollenen Händen und Füßen, die Frauen hielten schreckliche Säuglinge mit riesigen wackelnden Köpfen, staksigen Gliedmaßen und geschwollenen, spitzen Bäuchen an die Wagenfenster'. Als er diese Szenen erlebte, arbeitete Koestler für die Komintern, die 1919 gegründete Dritte Kommunistische Internationale. Die Artikel, die er über seinen Besuch schrieb, waren Lobeshymnen auf die raschen Fortschritte, die im Rahmen des ersten Fünfjahresplans erzielt wurden. Die Hungersnot wurde nicht erwähnt. Aus Protest gegen die Schauprozesse brach Koestler 1938 seine Verbindungen zur Partei ab, doch erst Jahre später, in 'Der Yogi und der Kommissar' (1945) und in seinen in den 1950er Jahren veröffentlichten Memoiren, beschrieb er den ganzen Schrecken dessen, was er gesehen hatte."

Magazinrundschau vom 02.08.2022 - New Statesman

William Boyd fühlt sich durch Iain MacGregors "großartiges" neues Buch über die Schlacht von Stalingrad unwillkürlich an den Krieg Russlands gegen die Ukraine erinnert. Diesmal sind die Rollen allerdings vertauscht: "Durch die deutsche Luftüberlegenheit und Artilleriebeschuss wurde Stalingrad bald in Schutt und Asche gelegt. Paradoxerweise kam diese Zerstörung den Russen zugute. Jedes zerstörte Haus, jeder Wohnblock, jede abgerissene Schule oder jeder Bahnhof wurde zu einem Bunker - man denke nur an die jüngsten Szenen in Mariupol oder Sewerodonezk. Die überwältigende Übermacht hatte kaum Auswirkungen auf die hartnäckige, improvisierte Verteidigung, und die Schlacht wurde unweigerlich zu einem kostspieligen Feuergefecht. Ein paar Meter gewonnen, ein paar Meter verloren. Die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten ging in die Zehntausende. Das Ausmaß der Schlacht ist fast unvorstellbar. Die russische Armee passte sich jedoch besser an die Überlebenstaktik an als die Deutschen. Das Konzept der 'aktiven Verteidigung' war geboren. General Wassili Tschuikow, der Kommandant von Stalingrad, sagte in einem Interview, dass 'die Besonderheiten der Kämpfe in Stalingrad ... sich auf alle Kampfsituationen übertragen lassen. Jedes besiedelte Gebiet kann in eine Festung verwandelt werden und den Feind zehnmal besser zermalmen als eine Garnison.' Kommt Ihnen das bekannt vor?"

Außerdem: John Gray liest zwei Bücher über Nietzsches Zusammenbruch in Turin.
Stichwörter: Mariupol, Stalingrad