Magazinrundschau - Archiv

Radar

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Magazinrundschau vom 10.05.2004 - Radar

"Schlagen, bis er seine Wahrheit, seinen Scham, seine Angst ejakuliert". Aus gegebenem Anlass veröffentlicht die argentinische Radar einen Ausschnitt aus "Der Schmerz" von Marguerite Duras. Dort schilderte die Französin, wie sie nach dem Sieg der Resistance, der sie gegen Ende des Krieges beigetreten war, an der Folterung eines mutmaßlichen Kollaborateurs nicht nur teilnahm, sondern diese Marter auch gut hieß. Es ist ein erschreckender, weil gnadenloser Text. Aus dem Spanischen übersetzt: "Abrissarbeit. Schlag auf Schlag. Man muss aushalten, aushalten. Und in einer Weile wird die Wahrheit wie ein sehr kleines, hartes Körnchen zu Tage treten (...). Sein Gesicht blutet stark. Schon zuvor war er kein Mensch wie alle anderen. Er war ein Verräter von Mensch. (...) Es lohnt sich nicht, ihn zu töten. Es lohnt sich auch nicht, ihn am Leben zu lassen. Er ist zu nichts mehr nütze. Er hat ganz und gar ausgedient. Gerade weil es sich nicht lohnt, ihn zu töten, kann weitergemacht werden."

Außerdem kann Radar mit einem Interview mit Luiz Inacio Lula da Silva aufwarten. Es wurde allerdings bereits 1982 geführt. Damals war der bärtige Gewerkschafter noch nicht Präsident Brasiliens, sondern Gouverneurskandidat einer neugegründeten Linkspartei, der PT. Es bedurfte noch zwanzig Jahre politische Arbeit, bis er an die Macht kam, und dass ein mühsamer Weg vor ihm lag, wusste Lula schon damals: "Es ist, als ob wir eine Treppe mit 16 Stufen hinaufsteigen müssten. Wenn wir nicht eine nach der andere bewältigen, laufen wir Gefahr zu fallen und uns ein Bein zu brechen", sagte Lula seinem Interviewer Felix Guattari. Endziel war damals indes noch die Verstaatlichung der Wirtschaft.

Lesenswert ist auch ein Text über die "Ästhetik des Hungers" des legendären brasilianischen Filmemachers Glauber Rocha (1938-1981), dem dieser Tage im Museum für Lateinamerikanische Kunst von Buenos Aires eine Retrospektive gewidmet ist. Sein Versuch, Armut angemessen und eben nicht romantisch verklärt darzustellen, ist nach Ansicht von Filmdozentin Ivana Bentes leider in Vergessenheit geraten. "Von einer Ästhetik ist man zu einer Kosmetik des Hungers übergangen", schreibt sie. Dabei meint sie nicht nur Pariser In-Lokale, die sich "Favela Chic" nennen, sondern auch Kassenschlager wie "Central do Brasil" und "City of God". "Nun sind wir fähig, unsere eigenen Klischees zu produzieren und in Umlauf zu bringen, jene, in denen propere und strahlende Schwarze, mit der Waffe in der Hand, keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen können, außer den, sich gegenseitig auszulöschen", bemerkt sie scharf.

Argentiniens Vielschreiber Rodrigo Fresan steuert einen furios beginnenden Artikel bei: "Es waren einmal fünf kokainsüchtige Hippies, die Mitte der siebziger Jahre beschlossen, eine ehrwürdige und im Sterben liegende englische Blues-Band namens Fleetwood Mac in eine kraftvolle kalifornische Softrock-Band namens Fleetwood Mac zu verwandeln". Thema der Reportage ist natürlich Fleetwood Mac. Schriftstellerkollege und Journalist Martin Caparros ist indes mit einem Filmteam zusammen in Mexiko auf den Spuren des spanischen Eroberers Hernan Cortes gewandelt: "Alles sehr schön und produktiv, bis wir entdeckten, dass am 30. Juli, dem Tag unserer Ankunft, noch ein anderer, weniger alltäglicher Besucher dieses Land betrat: der Bischof von Rom, Herr Karol Wojtyla".

Magazinrundschau vom 08.03.2004 - Radar

Alles, was Kult ist, in der aktuellen Ausgabe von Radar, der Wochenendbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12:

Ein "Exklusivabdruck" von Passagen aus Oliver Stones' Marathon-Filminterview mit Fidel Castro "Comandante": So, schwarz auf weiß, präsentiert sich das Ganze als ein einziges "Um den heißen Brei"- (wie auch "aneinander vorbei"-) Gerede: "Sind Sie ein Diktator?"- "Was ist ein Diktator? Weiß das jemand wirklich? Und ist es schlecht, ein Diktator zu sein? Denn die US-Regierungen, zum Beispiel, waren sehr gute Freunde der größten Diktatoren. Marx spricht von der Diktatur des Proletariats, nicht von einer persönlichen Diktatur", usw. usf.. Der zweite Exklusivabdruck bietet Fotos und Passagen aus dem Drehbuch von Pedro Almodovars allerneuestem Film "La mala educacion", der das diesjährige Filmfestival von Cannes eröffnen darf.

Ein weiterer Filmartikel resümiert die kursierenden Gerüchte über die Dreharbeiten an noch einer neuen Che Guevara-Biografie, diesmal unter der Regie von Terrence Malick - als wären nicht gerade erst die beiden Che Guevara-Filme von Walter Salles (bei dem Gael Garcia Bernal - der auch eine Hauptrolle in Almodovars "La mala educacion" übernommen hat - den Che gibt) und Gianni Mina (mehr über den Film hier) vorgestellt worden. Malick soll allerdings schon 1967, gerade von Philosophiestudien in old Germany (u. a. bei einem Herrn Heidegger) zurückgekehrt, als Journalist an einem Auftrag gescheitert sein, den er für den New Yorker hätte ausführen sollen: ein Che Guevara-Porträt. Malicks Che ist übrigens Benicio del Toro, der für diese Rolle nicht abspecken muss, denn der Film widmet sich vor allem den letzten Jahren Guevaras.

Außerdem in Radar: Eine Hymne auf die "Clever & Smart"-Verfilmung (im spanischen Original heißen die "Mortadelo y Filemon") von Javier Fesser, mit Benito Porcino in der Rolle des Mortadelo: "Keine Ahnung, ob Porcino ein guter oder ein schlechter Schauspieler ist - aber er ist Mortadelo!", schwärmt Regisseur Fesser. Passend dazu Porträts von zehn Comic-Superhelden, die an der Peripherie von Super-, Bat- und Spiderman in ihren Heimatländern Heldenstatus genießen: So der Italiener Dylan Dog, der Kubaner Supertinosa, die russische Blondine Oktobriana, der Chilene El Manque oder aus Japan Ultraman. Nicht weniger eigenwillig die portugiesische Malerin Paula Rego, die seit vielen Jahren in London lebt, wo sie soeben Charlotte Brontes "Jane Eyre" illustriert hat - Maria Gainza stellt die Künstlerin vor, die auch schon einmal für den Turner-Prize nominiert war.

Wer nach alledem noch nicht genug Bilder im Kopf hat, braucht in Buenos Aires nur den Nahverkehrszug zum Ausflugsort El Tigre am Parana-Delta zu besteigen: Dort erwarten ihn paradiesische Refugien wie El Hornero, wo bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein fröhlicher Homo-Karneval gefeiert wird.

Magazinrundschau vom 23.02.2004 - Radar

Quino lebt! Joaquin Salvador Lavado - "Quino" -, der Erfinder von Mafalda, der neben Charlie Braun weltweit wohl bekanntesten intelligenten Comicfigur, hat der mexikanischen Ausgabe des Playboy zu dessen 50. Jubiläum ein Interview gewährt, das Radar, die Wochenendbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, entzückt abdruckt: "Früher hatten wir wenigstens Flash Gordon, um uns gegen Ming zu wehren. Heute gibt es nur noch Ming, und das ist George Bush. Dafür sind die Nordamerikaner zur Zeit mit einer anderen Gegend des Planeten beschäftigt, da lassen sie uns vielleicht einmal ungestört etwas Gutes mit unseren Ländern anstellen."

Luis Bruschtein stellt den Regisseur Miguel Rodriguez Arias vor und dessen gerade angelaufenen Film "El Nüremberg argentino", der den Prozess im Jahr 1985 gegen neun Mitglieder der argentinischen Junta dokumentiert. 530 Verhandlungsstunden wurden seinerzeit gefilmt - acht davon konnten Rodriguez Arias und sein Team aus den Archiven freikämpfen: "An der Erinnerung der Argentinier muss gearbeitet werden, da ist so viel Vergessen. Wichtige Rituale konnten nicht vollzogen werden, Begräbnisrituale. Der entscheidende Schritt bei der Ausbildung der menschlichen Kultur ist die Entwicklung von Sprache und Begräbnisritualen - Begräbnisrituale bilden den Anfangsbuchstaben im Alphabet der Kultur."

Ein Ritual neueren Datums seziert Rodrigo Fresan in seiner Besprechung der kürzlich von dem Dichter Robin Robertson vorgelegten Anthologie "Mortification: Writer's Stories of their Public Shame": Die immer stärker "Eventcharakter" annehmenden Dichterlesungen, deren Ursprung Fresan bei Charles Dickens und dessen ständiger Flucht vor der verhassten Ehefrau in öffentliche Vortragssäle verortet: "Jedenfalls beruht diese Angelegenheit auf einem Missverständnis: Wir wünschen uns, die von uns bewunderten Schriftsteller persönlich kennen zu lernen, und erwarten, dabei etwas Besonderes und Unverzichtbares zu erfahren, das unsere Lektüre erst vollständig macht. Wir halten den Autor für 'die wirkliche Sache', sein Buch dagegen für eine Art Auswuchs seiner Person. Während eigentlich das Buch 'die wirkliche Sache' ist, der Autor an sich aber eine Ablenkung, ein Missverständnis, eine Täuschung: jemand, den man lesen - hören -, aber nicht sehen soll."

Magazinrundschau vom 16.02.2004 - Radar

Das Phänomen kurioser Namensgebungen ist in ganz Lateinamerika verbreitet, nirgends aber so ausgeprägt wie in Uruguay, wo es jede Menge Menschen gibt, die "Lukas Delirium" heißen, "Vergissmichnicht" oder auch einfach nur "Telefon". Dieser Skurrilität des Nachbarlandes hat die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12 nun eine amüsante Reportage gewidmet. Schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fielen dem ein oder anderem Forscher allerlei merkwürdige Namen auf. Zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ging es dann sehr politisch und antifaschistisch zu: noch heute finden sich im nationalen Telefonbuch Uruguays, "nur ein Hitler und nur ein Mussolini, aber zwei Josef Stalins, acht Stalins, ein Stalingrad und neun Churchills", wie Autor Leonardo Haberkorn recherchiert hat. Kurios auch, dass es in dem kleinen südamerikanischen Land sechs Männer gibt, die "Trademark" oder -etwas spanisch klingender- "Trademar" heißen. Beliebt als Inspiration sind auch heute noch Populärkultur ("Walt Disney") und Geografie ("Addis Abeba"). Erst neuerdings versuchen Uruguays Behörden der allzu blühenden Fantasie ihrer Landsleute Schranken zu setzen, eine gesetzliche Grundlage dafür gibt es allerdings nicht.

Ebenso in Radar: ein Bericht von Juan Forn über eine liebenswürdige Geheimloge argentinischer Liebhaber des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa sowie viele Buchbesprechungen. Besonders hervorgehoben wird ein offensichtlich schöner Sammelband über Züge und Zugreisen in der argentinischen Literatur ("En la via" von Christian Kupchik), die Neuausgabe eines der Hauptwerke von Ernesto Sabato ("Über Helden und Gräber") sowie eine durchaus kritische Biografie des legendären argentinischen Journalisten Jacobo Timerman ("Timerman. El periodista que quiso ser parte del poder" von Graciela Mochkofsky).

Magazinrundschau vom 09.02.2004 - Radar

Auch Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, widmet ihre aktuelle Ausgabe dem 20. Todestag Julio Cortazars, unter anderem mit Auszügen aus Texten über Cortazar von Carlos Monsivais, Jose Lezama Lima und Alejandra Pizarnik sowie mit einem Interview, das Rodrigo Fresan mit Francisco Porrua geführt hat, dem legendären Verleger von Julio Cortazars Roman "Rayuela" und von Gabriel Garcia Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit". Porrua und Cortazar waren viele Jahre lang eng befreundet, aus dieser Zeit erinnert Porrua so schöne Szenen wie diese: "Cortazar konnte sehr ruhig und schweigsam sein, und dann überkamen ihn unversehens die heftigsten Gefühlsanwandlungen. Einmal unterhielten wir uns gerade über irgendetwas, da trat einer dieser seltsamen Momente völligen Schweigens ein, das Cortazar schließlich unterbrach, indem er sagte: ?Alles, was nicht gesagt worden ist, ist für immer gesagt worden.' Dann stand er auf, kam zu mir und umarmte mich."

Erinnert sei an dieser Stelle außerdem an das Projekt "Rayuel-o-matic", bei dem Cortazar-Fans und wer immer sich dazu berufen fühlt den Roman "Rayuela" als Hypertext im Internet nachbauen. (Perlentaucher - bzw. die Zeitschrift Cambio - berichtete.)

Magazinrundschau vom 02.02.2004 - Radar

In der spanischsprachigen Welt ist er der wohl derzeit am höchsten gehandelteste Schriftsteller: Enrique Vila-Matas aus Barcelona. Sein neuestes Buch, "Paris no se acaba nunca" hat vergangenes Jahr in Spanien regelrechte Begeisterungsstürme ausgelöst. Vereinfacht gesagt handelt es sich um eine Art Memoiren über die Pariser Lehrjahre des Autors. Sein Kollege Rodrigo Fresan hat Vila-Matas für Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12 interviewt. "Einverstanden, in all meinen Büchern kommen Schriftsteller vor und Bücher (...). Es ist, als ob für mich die Figur des Schrifstellers ein perfekter Behälter wäre, ein Glas, das meine ganze Sicht auf das Leben und den Sinn der Dinge enthält. Das ist mein Thema, das sind meine Themen. Es geht um die Art und Weise, wie Literatur überall auftaucht", gibt Vila-Matas zu Protokoll.

Außerdem in Radar: die Wiederentdeckung eines kuriosen US-Comics, mit dem 1959 die damals erst sechs Monate alte kubanische Revolution gepriesen wurde. Schöpfer der Bildgeschichte mit dem schönen Titel "The Man with the Beard!" war Stan Lee, der später mit Spiderman berühmt werden sollte. Zudem bespricht die Kulturbeilage die Ausstellung "Die Rückkehr der Giganten", die derzeit in Buenos Aires zu sehen ist. Dabei geht es um deutsche Malerei zwischen 1975 und 1985. Die Werke von Georg Baselitz, Markus Lüpertz, Jörg Immendorf und vielen anderen stammen aus der Sammlung der Deutschen Bank. Kritikerin Maria Gainza kommt zu einem zwiespältigen Urteil und fühlt sich "in eine Sackgasse gedrängt": gute Künstler seien das allemal, aber die Auswahl ihrer Werke lasse doch einiges zu wünschen übrig.

Magazinrundschau vom 05.01.2004 - Radar

In Argentinien ist ein aufsehenerregender Film namens "Ay Juancito" abgedreht worden. Es geht um die Geschichte eines korrupten, aber liebenswerten Lebemannes: Juan Duarte. Der Bruder der legendären Evita war in den fünfziger Jahren zugleich Privatsekretär ihres Ehemanns, des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Peron. Der Film beginnt und endet mit einer schauderlichen, aber leider wahren Szene. "Juan Duarte starb neun Monate nach seiner Schwester (?). Sein Leichnam wurde exhumiert und sein abgetrennter Kopf dann im Polizeihauptquartier und im Kongress zur Schau gestellt", berichtet Luis Bruschtein. "Ich habe mich gefragt, warum es möglich war, dass die Italiener so viele wunderbare Filme über die Mussolini-Ära drehten, und die Spanier über die Ära Francos, während wir Argentinier die fünfziger Jahre kaum verwertet haben", erklärt Regisseur Hector Olivera seine Beweggründe.

Der ehemalige fliegende Händler Juan Duarte wurde praktisch von der Straße weg die rechte Hand des Präsidenten und wusste dies auch zur persönlichen Bereicherung zu nutzen. Er bestach aber auch als ausgebuffter Playboy und Begründer der argentinischen Filmförderung. Dass er überhaupt zum Privatsekretär ernannt wurde, erklärt sich Drehbuchautor Jose Pablo Feinmann im Interview als "ein gelungenes Ehemanöver" von Evita, die somit immer bestens über das Treiben ihres Gatten informiert war. Wie am Rande zu erfahren ist, hat übrigens Argentiniens derzeitiger Präsident, Nestor Kirchner, schon einmal für Hector Olivera gearbeitet: 1974 heuerte er als Statist in einem Film über Anarchisten in Patagonien an.

Lesenswert auch ein Vorabdruck aus "Sechzig Wochen in den Tropen", einem Reisebericht des spanischen Soziologen Antonio Escohotado. Der ist unter anderem Autor einer dreibändigen Geschichte der Drogen (mehr) und im spanischen Raum sehr bekannt. Im Jahr 2000 vermasselte er seine Ehe und flüchtete voller Gewissensbisse nach Asien. Zuvor hatte er bei seiner Universität ein Forschungsprojekt mit dem schönen Titel "Ursachen von Armut und Reichtum im Orient und Okzident" eingereicht. Seine Feldforschung scheint sich jedoch darauf beschränkt zu haben, an Marihuana, Heroin und andere Drogen heranzukommen und sich zudem in den einschlägigen Rotlichtvierteln Thailands, Vietnams, Birmas und Singapurs herumzutreiben. Wie einfältig er das erzählt, sagt viel darüber aus, wie kolonialistisch sich manche Spanier noch heute in der Welt aufführen. "Der Saigoner neigt zum Betrügen, kompensiert das aber mit Fleiß und Geistesgegenwart; sein Eifer macht ihn daher zu einem nützlichen Begleiter", schreibt Escohotado allen Ernstes über seine Gastgeber in der Hauptstadt Vietnams.

Allemal angenehmere Zeitgenossen sind da Moreno Veloso, Domenico Lancelotti und Kassin, drei junge Männer, die derzeit Brasiliens Musikszene aufmischen und mit ihrer wahlweise Moreno +2, Domenico +2 und Kassin +2 genannten Band bereits zwei hochgelobte Alben veröffentlicht haben. Der Clou dabei: sie sind ganz unmittelbar die zweite Generation der hierzulande hauptsächlich durch den älteren Bossa nova bekannten Populärmusik Brasiliens, kurz MPB genannt. Moreno ist Sohn des herausragenden Caetano Veloso, während Domenico den Komponisten Ivor Lancelotti seinen Vater nennt. Begonnen haben alle drei mit experimentellem Rock: "Mein Vater beschwerte sich, ihm gefiel das gar nicht; mein Haus war eine Art Hauptquartier der MPB, es war furchtbar", erzählt Domenico. Wie seine Kollegen ist er ein begeisterter Björk-Fan. Solcherlei musikalische Einflüsse verarbeiten sie nun in ihrer eigenen Rezeption des schier unerschöpflichen musikalischen Reichtums Brasiliens.

Magazinrundschau vom 29.12.2003 - Radar

Was lesen die Argentinier heute?, Teil 2: Kurz vor Weihnachten präsentierte N, die Kulturbeilage der Tageszeitung Clarin, die aus argentinischer Sicht 100 wichtigsten Bücher des Jahres (Perlentaucher berichtete), nun ist Radar - oder vielmehr Radarlibros - an der Reihe, die Beilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12: "Los libros del ano". Mit berechtigtem Stolz verweist die Redaktion von Radarlibros auch auf die zahlreichen in diesem Jahr erschienenen Publikationen ihrer Mitabeiter, zu denen u. a. der Schriftsteller und Kritiker Alan Pauls gehört, dessen Roman "El pasado" dieses Jahr mit einem der angesehensten spanischen Literaturpreise, dem Premio Herralde ausgezeichnet wurde, oder Rodrigo Fresan, dessen neuester Roman "Jardines de Kensington" einer der Geheimtipps der diesjährigen Frankfurter Buchmesse war.

Not macht erfinderisch: Zur "verlegerischen Unternehmung des Jahres" wählten die Redakteure von Radarlibros das Projekt "Eloisa cartonera" (s. a. hier), für das drei junge argentinische Schriftsteller verantwortlich zeichnen: Originalausgaben von Kultautoren wie Cesar Aira, jeder (Papp)Einband ein Unikat - eigenhändig gestaltet und signiert von einem Brüderpaar, das seinen Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Pappe und Altpapier bestreitet und dabei mit den Gründern von "Eloisa cartonera" ins Geschäft kam. Eine Auswahl der Titel war bereits im Goethe Institut von Buenos Aires zu sehen. Felicisimo 2004 allen Büchermachern jenseits wie diesseits des Oceano Atlantico!

Magazinrundschau vom 10.11.2003 - Radar

Die Schwierigkeit - und das offenkundige Bedürfnis - zu vergessen, beschäftigt die aktuelle Ausgabe von Radar, der Literaturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12. In einem langen Artikel äußert sich Umberto Eco zum Thema "La memoria del mundo" und klärt darüber auf, daß es offensichtlich unmöglich ist, absichtlich zu vergessen: "Gesualdo schlug in seiner Plutosophie das folgende Experiment vor: Man denke sich ein Zimmer, randvoll mit den Symbolen von Erinnerungen, die man vergessen möchte; sodann sich selbst, wie man sich daran macht, all diese Erinnerungen zum Fenster hinaus zu werfen: Alles, was man damit erreicht, ist, dass die Erinnerungen nur um so fester im Gedächtnis verankert werden." Erstaunlicherweise gilt das jedoch nicht für kollektive Erinnerungen, was Eco zufolge daran liegen könnte, "dass unser kollektives Gedächtnis an Spezialisten delegiert wird, an Historiker, Archivare, Journalisten, die die Wahl haben zwischen verschweigen, verdrängen, zensieren."

In einem anderen Beitrag berichtet Cecilia Sosa unter der Überschrift "The Villegas Affair" von einem Besuch in General Villegas, der Heimat(klein)stadt des zu Lebzeiten "skandalumwitterten" argentinischen Schriftstellers Manuel Puig, wo man auch 30 Jahre nach Erscheinen von "The Buenos Aires Affair", dem vielleicht skandalösesten von Puigs Romanen, die Affären um Puigs Leben nicht vergessen zu können scheint - so wenig, wie es Puig offensichtlich selbst gelang, jemals die Erinnerung an seine gehasst-geliebte Heimat(klein)stadt loszuwerden: "Auf der Toilette des 'Club Social Eclipse' machen sich drei Mädchen vor dem Spiegel zurecht. 'Puig?' - 'Der ist doch hier geboren.' - 'Er war schwul.' - 'Schwul?' Die Lockige mit der Brille reißt die Augen auf: 'Mir hat man gesagt, er sei homosexuell gewesen.' - 'In diesem Kaff ist alles möglich.'"

Magazinrundschau vom 29.09.2003 - Radar

Roberto Bolano allerorten: Nach dem furiosen Rundumschlag des (exil-)chilenischen Autors gegen die zeitgenössische spanisch-lateinamerikanische Literaturszene in der Zeitschrift Reportajes, bringt Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, in ihrer aktuellen Ausgabe einen, ebenfalls postum veröffentlichten, überaus lesenswerten Text Bolanos über "Die Krankheit des Schriftstellers". Gewohnt sarkastisch stellt Bolano, der im Sommer einem schweren Nierenleiden erlag, zu Beginn die Gleichung auf: "Literatur + Krankheit = Krankheit", um sich sodann in einen delirierenden Exkurs über "Krankheit + Dionysos + Apollo + Baudelaire + Mallarme + Kafka ..." zu stürzen, bis ihm eine Ärztin die Überlebenschancen nach einer Nierentransplantation mit sechzig Prozent beziffert und, als er das ziemlich wenig findet, entgegenhält: "In der Politik wäre es die absolute Mehrheit."

Ebenfalls in Radar: Ein begeistertes Porträt des US-amerikanischen Autors Chuk Palahniuk. "Wird er der neue Stephen King?", fragt sich der argentinische Schriftsteller Rodrigo Fresan - der seinerseits den Auftrag erhalten haben soll, Roberto Bolanos unvollendet hinterlassenes opus magnum "2666" zu Ende zu schreiben.