Vom Nachttisch geräumt

Aus Klecksen eine Welt

Von Arno Widmann
09.09.2015. Peng + Hu machen es vor: Man braucht einen Hirameki und etwas Mut, um einen Klecks zu verwandeln.
Eine Seite nach der anderen nichts als Kleckse und wieder Kleckse. Große und kleine. In allen Farben auf bestem Papier. Sie sehen so freundlich, so heiter, so einladend aus. Sie sind nicht ganz allein. Manche von ihnen sind mit ein paar Strichen zu mit riesigen Füßen wichtig voranschreitenden Männern geworden, andere zu Katzengesichtern oder verführerischen Damen, die den Fleck dazu nutzen, ihre Blöße zu bedecken. Wenn ich nicht so völlig gehemmt wäre, hätte ich mich längst anstecken lassen, auch einen Stift genommen und dem einen oder anderen Fleck eine Funktion gegeben, eine Bedeutung. Ich hätte ihn erlöst aus seinem unnützen Fleckendasein, ihn in einen Bischof oder in einen Gartenzwerg verwandelt, in ein Knie oder eine Wange.

Aber ich traue mich nicht. Dabei machen Peng und Hu es einem vor. Es kann doch nicht so schwierig sein, den blauen Fleck mit ein paar Tentakeln zu versehen und so in einen Tintenfisch zu verwandeln. Aber die beiden machen es einfach zu gut. Heitere Metamorphosen, eine Portion guter Laune. Wenn mein Enkel hier wäre, würde ich mich trauen, es mit ihm zusammen zu versuchen. Ich erinnere mich daran, wie ich, als ich sechs, sieben Jahre alt war, die Figuren aus Emil und die Detektive mit Wasserfarben nachmalte. Die Verklemmungen stellten sich offenbar erst später ein. Unser Bildungssystem, so mein Verdacht, spielt dabei eine nicht unwichtige Rolle. Die Vorstellung, man müsse etwas gut machen - was immer das heißt - oder die Finger davon lassen, ist ein Hemmschuh für jeden. Sie ist es erst recht, wenn man daran denkt, dass 90 Prozent der pädagogischen Anstrengungen nicht darin bestehen, zum Tun zu animieren, sondern darin, Fehler aufzuspüren und anzustreichen.

"Hirameki" heißt das Buch. Das ist japanisch und bedeutet so viel wie "Geistesblitz", also eine plötzliche Einsicht, ein Einfall. Hier ist es der Moment, da der Betrachter erkennt, was in einem Fleck steckt und was er tun muss, um es heraus zu holen. Wer das kann, der sieht, dass in einem Fleck ganz unterschiedliche Geschichten stecken. Das Problem des begabten Betrachters ist nicht, etwas zu finden in dem Klecks, sondern sich zu entscheiden zwischen den verschiedenen Dingen, die sich ihm aus dem Klecks entgegendrängen. Eine ihn überwältigende Heerschar. Er ermordet die meisten von ihnen, um einigen wenigen zum Leben zu verhelfen.

Wer sich länger mit den Klecksen beschäftigt und mit dem, was Peng und Hu aus ihnen machen und wie sie es tun, der kann leicht auf die Idee kommen, unsere Wahrnehmung verfahre nicht anders: Schafft sie sich nicht auch aus sehr diffusen Zusammenballungen Einheiten, die sie versteht? Diese Wolke aus Milliarden von Zellen der unterschiedlichsten Lebewesen - ist tatsächlich die einzige Weise sie zu betrachten, ein Exemplar des homo sapiens in ihr zu erblicken? Ich weiß nicht, wer ich für Anja bin. Aber wer erst bin ich für eine der hundert Billionen Bakterien, die auf oder in mir leben? Die Einheiten, aus denen sich unsere Welt zusammensetzt, sind nur das. In den Welten der anderen setzt sich womöglich einiges aus anderen Einheiten zusammen.

Ich habe, Sie sehen das, meinen Narren gefressen an diesem Buch. Ich deliriere. Stattdessen sollte ich einen Zeichenblock nehmen und ein paar Kleckse darauf schütten und mich dann daran machen, meine eigenen Bilder, Weltbilder auch sie, daraus zu machen. Aber ich fürchte, dass mir das Ergebnis meiner Bemühungen nicht gefallen wird. Also fange ich gar nicht erst an. Aus Feigheit.

Peng + Hu: Hirameki - Der geniale Klecks+Kritzel-Spaß, Kunstmann Verlag, München 2015, 192 unpaginierte vielfarbige Seiten, 14,95 Euro.