Vom Nachttisch geräumt

Lektüre zur Buchmesse

Von Arno Widmann
09.09.2015. Wie und wovon lebt der Buchmarkt? Jürgen Christensen erklärt es in 60 Minuten.
Ein wenig länger habe ich schon gebraucht, aber ich habe es in einer ausführlichen samstäglichen Badewannensitzung gelesen. "Buchmarkt in 60 Minuten" von Jürgen Christen ist ein Blitzkurs für die Vorbereitung auf die in einem Monat drohende, lockende Frankfurter Buchmesse. Ein Buch für Leute, die nicht wissen, was ein Verlag ist, die sich fragen, wozu Lektoren taugen und wozu nicht. Wie wichtig sind Vertreter? Für wen? Auf wahrscheinlich weit mehr als hundert solcher oder ähnlicher Fragen weiß Jürgen Christen, jahrelanger Mitarbeiter von Buch Report und Buch Markt, einer der Erfinder der Mammut-Veranstaltungsreihe "Leipzig liest" usw., eine - oder wo erforderlich - auch mehrere Antworten.

Er weiß die Arbeit von mit dem Autor zusammenarbeitenden Lektoren sehr wohl zu schätzen, aber er weiß auch, "dass ein Text nicht unbedingt besser wird, wenn viele Köche im Brei herumrühren". Wer seine Gedanken und Geschichten lieber ungefiltert veröffentlichen möchte, der kann heute an Verlagen vorbei sein Glück im World Wide Web versuchen. Beim Selfpublishing können Autoren ihre Texte auf öffentlichen Plattformen vorstellen. Sie legen selbst den Preis fest, für den das Publikum ihn erwerben kann. "In der Regel", schreibt Christen, "gehen 30 Prozent an den Autor, der Rest an die Plattform". Ein Supergeschäft - wenn es denn überhaupt eines ist - für die Plattform. Siebzig Prozent für fast nichts. Der Gerechtigkeitssinn - verzeihen Sie bitte das Wort - jault auf. Aber Christen erinnert: "Die Autorenhonorare für eine herkömmliche, geprintete Verlagsausgabe liegen zwischen 5 bis 15 Prozent des Netto-Ladenverkaufspreises ..." Für den Autor ist das Nicht-gedruckt-werden in vielen Fällen dann vielleicht doch das bessere Geschäft. Christen weist freilich auch darauf hin, dass kaum jemand der im World Wide Web erfolgreich ist, darauf verzichtet, es nicht auch in der Gutenberg-Galaxis zu versuchen.

10 Milliarden Euro Umsatz macht die Branche im Jahr. Mit Bio-Lebensmitteln - Tendenz steigend - wurden 2014 in Deutschland 7,9 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Die Buchbranche wandelt sich. Das tut sie schon lange. Es sei mehr als zwanzig Jahre her, dass man das Ende des Buches vorausgesagt hat. Es ist noch immer da und nährt seinen Mann und signifikant mehr Frauen. Darauf kommt Christen nicht zu sprechen. Die Branche ist weiblich und längst nicht mehr nur unten und im Mittelfeld. Es gibt deutlich mehr erfolgreiche Verlegerinnen und Topmanagerinnen als noch vor zwanzig Jahren. Gibt es Untersuchungen darüber, wie sich diese Entwicklung auf die Branche ausgewirkt hat? Reagiert eine weibliche Industrie anders auf Herausforderungen als eine männliche? Wird eine Industrie weiblicher, weil sie weniger abwirft, die Männer sie also eher aufzugeben bereit sind? Mit solchen Spekulationen beschäftige ich die wenigen Leser, die ich habe. Christen tut das nicht. Er bringt Fakten.

Haben Sie schon einmal ein Buch des Springer-Verlages gekauft? Nein, nicht Axel Springer ist gemeint, sondern der Wissenschaftsverlag Springer Science + Business Media. Er ist der Umsatzspitzenreiter unter den deutschen Verlagen. Am meisten Geld wird nicht mit Belletristik, nicht einmal mit Sach-, sondern mit Fachbüchern gemacht. Das hat sicher mit der Preisgestaltung dieser Sparte zu tun. Darüber hat Christen sicher schon andernorts geschrieben. Nach Springer kommt die Ernst Klett Gruppe und die Franz Cornelsen-Bildungsholding. Erst an vierter Stelle kommt Random House (Bertelsmann). Danach geht es erst einmal weiter mit Westermann, Haufe, Kluwe, Wolters usw. Alles Verlage, die davon leben, dass Schüler oder Schulen, Studenten oder Universitäten ihre Produkte kaufen müssen. Erst auf den Plätzen zwischen 20 und 30 stößt man auf Verlage wie Diogenes oder DuMont. Wie viel Markt gibt es in diesem Markt? Die Vorstellung, über Erfolg oder Misserfolg der meistverkauften Bücher würden die Leser an den Kassen der Buchhandlungen entscheiden, hat mit der Realität des Gewerbes, das ganz wesentlich von seiner engen Vernetzung mit den Ausbildungsinstitutionen lebt, nichts zu tun. Zu diesem Schluss jedenfalls komme ich nach der Lektüre.

Jürgen Christen: Buchmarkt in 60 Minuten, Thiele Verlag, München und Wien 2015, 108 Seiten, 8,00 Euro.