Vom Nachttisch geräumt

Dem Denken beim Schreiben zuschauen

Von Arno Widmann
09.09.2015. Wim Wenders nimmt den Leser in seinen Aufsätzen mit, wohin er allein niemals gegangen wäre.
Ich bin der Letzte, der es gemerkt hat: Wim Wenders ist einer unserer besten Schriftsteller. Die paar, die mir nicht glauben, seien zum Beispiel auf seine Aufsätze in "Die Pixel des Paul Cézanne" verwiesen. Der früheste Text darin stammt aus dem Jahre 1988. Wir hatten viele Gelegenheiten zu bemerken, dass Wenders nicht nur einer der wichtigsten deutschen Filmregisseure ist, sondern auch ein großer Autor. Während ich das schreibe, erinnere ich mich daran, dass ich das einmal wusste. Vor vielen, vielen Jahren. Wenders gehörte zu meinen Lieblingsautoren in der Filmkritik (mehr hier und hier). Dann drehte er Filme und ich vergaß ihn. Jetzt habe ich wieder begonnen, ihn zu lesen und ich werde jede Zeile, derer ich habhaft werden kann, lesen.


"Er hat damals schon so gemalt, als ob er wüßte, daß nur auf der Leinwand eines Malers die physische Realität der Dinge bestehen könnte, nirgendwo sonst. Deshalb hat er die Realität bis zum Äußersten verdichtet: Bilder wie Wackersteine. Gemauerte Bilder. Asphaltierte Bilder. Verglaste Bilder." Wim Wenders 1996 zum Erscheinen von "Edward Hopper: A Catalogue Raisonné". Aus: Wim Wenders, "Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler". Vorgeblättert in Faust-Kultur. Bild: Edward Hopper, Sun in an Empty Room, 1936.

Er schreibt exakt so, wie unsere Lehrer erklärten, dass wir nicht schreiben sollten. Er denkt nicht erst und teilt dem Leser dann großzügig mit, worauf er gekommen ist. Wenders schreibt, um auf Gedanken zu kommen und so sind die Leser dabei, wie sie ihm zuströmen, wie sie sich manchmal sperren, wie eine Assoziation die nächste hervorlockt, wie ein Gedanke einen anderen ebenso naheliegenden verdrängt. Der Leser bekommt nichts gesagt. Er denkt mit. Dazu gehört auch, dass er manchmal - sehr selten! - schneller ist als Wenders und schon in eine Kurve geht, die Wenders noch gar nicht gesehen hat. Das gefällt dem Leser natürlich, aber noch mehr gefällt ihm, dass Wenders ihn mitnimmt, wohin er allein niemals gegangen wäre. Ich liebe seine Texte vor allem an den Stellen, an denen er sich Gedanken über sie macht. "Selbstreferentiell" schimpfen die Gebildeten unter den Verächtern der Reflexion ein solches Schreiben. Lesen Sie:

Ein Text, der gerade im Entstehen ist/
(wie jetzt dieser hier),/
mag fremde Umgebungen,/
und es ist ihm ein Vergnügen umzuziehen./
Ob ich besser denken kann, frage ich mich?/
Nicht unbedingt./
Ich habe mich nur noch mehr daran gewöhnt,/
dem Denken beim Schreiben zuzuschauen./
Meine komische Versform, die sie hier sehen,/
hilft mir dabei sehr./
Sie schafft Muster oder "sichtbare Gedankenblöcke",/
jedenfalls eine Struktur,/
in der mir eine Art Bildgrammatik hilft,/
die Denkgrammatik im Auge zu behalten./
Mit "Versen" als solchen hat das wenig zu tun,/
eher mit dem Wunsch,/
dass die Gedanken eine Rhythmus finden mögen,/
der sie in Bewegung bringt,/
so wie zum Beispiel auch ein Filmschnitt/
einen Fluß von Bildern herstellen will./
Das Denken gerät mir, im besten Fall,/
bei dieser Art von Schreiben in solch ein Fließen.

Womöglich kommt alles darauf an, sich selbst zu einem Instrument zu machen. Wenders weiß, wie er sich und wie er seine Texte organisieren muss, um sie offen zu halten für den Einfall der Musen. Hätte man früher gesagt. Die Musen sind in Wahrheit niemand anderes als die Anderen. Es geht also darum, zu lernen, welche Haltung man einnehmen muss, um frei zu sein, für die Aufnahme der anderen und ihrer Vorstellungen. Man kann das bei Wim Wenders lernen. Nicht, weil er es einem sagt, sondern weil er es einem vormacht, ja mit einem trainiert. Am 14. August wurde Wim Wenders siebzig Jahre alt. Ich gratuliere nachträglich.

Wim Wenders: Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler, Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2015, 211 Seiten, zahlreiche s/w Abbildungen, 15 Euro.