Vom Nachttisch geräumt

Von den Zähnen zermalmt

Von Arno Widmann
09.09.2015. Bei der Badener Disputation von 1526 ging es ums Abendmahl, die richtige Deutung von Texten und die Macht.
Das ist eine wissenschaftliche Veröffentlichung, kein Sachbuch. Aber - ein dummes Aber - es ist sehr gut zu lesen, großartig gegliedert und verschafft dem Leser Einblicke in die Geschichte von etwas, das wir angeblich heute besonders schätzen: Streitkultur. Das Ganze spielt in Baden im Schweizer Kanton Aargau in der dortigen Stadtpfarrkirche Maria Himmelfahrt. Vom 19. Mai bis zum 8. Juni 1526. Es war eine öffentliche Talk-Show mit zweihundert namentlich bekannten Zuhörern.

Disputant war auf der einen Seite der auch historisch wenig informierten Mitbürgern bekannte Johannes Eck (1486 - 1543). Eck war einer der engagiertesten das Papsttum und die herrschende Lehre verteidigenden Theologen. Er griff Luther immer wieder an, disputierte mit ihm, veröffentlichte eine eigene Bibelübersetzung - eine Anti-Luther-Bibel. Johannes Eck wurde zu dem Feindbild der Reformer. Luther zog das Dr. Eck gerne zu "Dreck" zusammen. Eck warf den Reformern vor, sie verteidigten die Juden, die doch die Weltherrschaft anstrebende Feinde Christi wären.

Auf der anderen Seite stand im Mai 1526 in Baden vor allem Johannes Oekolampad (1482 - 1531). Er hatte seinen Geburtsnamen Hausschein ins Griechische übersetzt. Oekolampad schloss sich den Reformierten um Zwingli an, vertrat aber immer wieder eigene Positionen. Zur Badener Disputation, der ersten auf Schweizer Boden außerhalb von Zürich, war auch Huldrych Zwingli (1481 -1531) eingeladen worden. Er hatte aber abgelehnt. Vielleicht misstraute er der Zusage auf freies Geleit. Vielleicht traute er aber auch seinem Temperament nicht. Martin Luther (1483 - 1546) hatte sich bei der berühmten Leipziger Disputation von 1519 von Eck so in Rage reden lassen, dass er einige Thesen des vom Konzil von Konstanz zum Tode verurteilten und als Ketzer am 6. Juli 1415 verbrannten Jan Hus für "wahrhaft evangelisch" erklärte.

Damit war Luther als Häretiker abgestempelt. Die Kirche brauchte nur noch auf die alten Beschlüsse zurückgreifen. Tatsächlich waren Luthers Ablehnung des Ablasshandels, seine Vorstellungen von der Bibel als dem Grundgesetz des christlichen Glaubens, sehr nahe an dem, was Hus gepredigt und praktiziert hatte. Luther hatte, als er 1517 seine 95 Thesen veröffentlichte, Hus" Schriften noch nicht gelesen. Als er es nachholte, erklärte er: "Wir sind alle Hussiten, ohne es gewusst zu haben". Zwingli mochte keine Lust haben, in ähnliche Fallen zu gehen. Johannes Oekolampad war ein anderer Charakter. Er war Erasmus von Rotterdam bei seiner griechischen Edition des Neuen Testaments zur Hand gegangen und hatte Jahre damit zugebracht, Texte der Kirchenväter herauszugeben und zu übersetzen. Was die Kenntnis der kirchlichen Tradition anging, hatte Eck wohl keinen Vorsprung.

Die Disputation dauerte sechzehn Tage, insgesamt 123 Stunden lang. Manchmal wurde mehr als acht Stunden täglich debattiert. Allerdings sprachen nicht nur die beiden. Es gab Zwischenrufe und auch längere Einlassungen aus dem Publikum. Es war eine ungleiche Schlacht. Der Ausgang - soviel zum Thema Streitkultur - stand vorher fest. Die Altgläubigen hatten die Lage fest im Griff. Aber sie konnten oder wollten auf die Show nicht verzichten. In jenen Tagen der Reformation musste man noch so tun, als spielten Argumente eine Rolle. Streitkultur scheint die Atempause zwischen den Schlachten zu sein.


Die Badener Disputation. Darstellung in der Reformationschronik von Heinrich Bullinger (1504-1575)

Die berühmte Abbildung der Badener Disputation, bei der in einem großen Kirchenraum auf zwei Kanzeln zwei Prediger einander gegenüberstehen, gibt die wirkliche Situation nicht wider. Sie stammt ja aus Bullingers Reformationschronik von 1567. Aber die dichtgedrängte, interessierte Zuschauermenge dürfte die Atmosphäre einfangen. Vielleicht waren aber damals doch auch ein paar Frauen dabei. Über die Debatte ist man gut informiert. Es wurden Protokolle geführt, es gibt Berichte darüber. Nicht alles ist erhalten. Was erhalten ist, haben Alfred Schindler und Wolfram Schneider-Lastin unter Mitarbeit von Ruth Jörg, Detlef Roth und Richard Wetzel zusammengetragen und akribisch kommentiert. Martin H. Jung hat eine fast zweihundert Seiten lange Einleitung dazu geschrieben, ein Buch im Buch, dessen Lektüre ich dringend anrate. Diese Einleitung ist das freundliche GPS-System, das einem auf dem Weg in die Vergangenheit und durch ihre Dickichte hilft.

Allein vom 21. bis zum 29. Mai wurde fast ausschließlich über Realpräsenz und Transsubstantiation debattiert. Es ging also darum, ob es sich bei dem beim Abendmahl gebotenen Brot und Wein um Zeichen für Leib und Blut Christi handele, oder ob sie sich real dahinein verwandeln sollten. Johannes Eck zitierte die Tradition, aber er sagte den Reformatoren auch: Wenn ihr schon solo scriptura sagt, dann haltet euch daran. Matthäus 26,26 steht: "Nehmt und esst, das ist mein Leib." Daran, fand Eck, war nichts herumzudeuteln. Oekolampad konterte mit Augustinus, mit der Tradition also. Ein Rollentausch, der einige Zuhörer sicher amüsierte.

Irgendwann sollte auch der Laienleser aus der Einführung aus- und in den Text des Protokolls einsteigen. Erst dort ist er mitten im Geschehen. Er erlebt, wie die Redner einander unterbrechen, wie Zwischenrufe sie neu ansetzen, Argumente verstärken lassen. Er merkt, es handelt sich nicht um platonische Dialoge, die sich ein Autor ausdachte, nicht um ein Kunstprodukt, sondern um Realität.
Das zu wissen ist wichtig, gerade weil es in der Diskussion um den Unterschied von Zeichen und Wahrheit geht. Sind Wein und Brot wirklich Blut und Leib Christi? Darum ging es. Johannes Eck erinnert daran, dass die Lehre des Berengar von Tours (999 bis 1088) von der Kirche verworfen worden war. Brot und Wein, das war Berengars Auffassung gewesen, verwandelten sich nicht, sondern blieben Brot und Wein, die Eucharistie verändere die geistige Bedeutung, nicht aber die materielle Substanz. Berengar wurde gezwungen, von dieser Auffassung zurückzutreten. Er musste erklären: "dass Brot und Wein, welche auf den Altar gelegt werden, nach der Konsekration nicht bloß ein Sakrament (d. h. geheiligtes Zeichen), sondern auch der wahre Leib und Blut Christi seien und in sinnlicher Weise (sensualiter), nicht nur sakramentlich, sondern in Wahrheit von den Händen der Priester gefasst, gebrochen und von den Zähnen der Gläubigen zermalmt werden."

Es ging um den Unterschied zwischen Hermeneutik und Zauberei. Zwischen der Widerständigkeit der Dinge und den Allmachtträumen der Fantasie. Also auch zwischen dem von Text und Interpretation. Das Protokoll zeigt, wie sehr es in dieser Auseinandersetzung um die richtige Auslegung eines Textes ging. Wie viel Wert beide Seiten darauf legten, ja keinen Fehler zu machen bei der Erläuterung der Heiligen Schrift. Erst wenn wir das Protokoll lesen, beginnen wir zu begreifen, dass das Seelenheil und das Überleben davon abhing. Darum handelt es sich - um eine Disputation und nicht etwa um einen Dialog zwischen einander achtenden Partnern. Huldrych Zwingli, der große Abwesende der Badener Disputation, wurde am 11. Oktober 1531, als die von ihm zum Krieg gegen die katholischen Kantone ermunterten Zürcher die Schlacht bei Kappel am Albis verloren, gefangen genommen und getötet. Sein Leichnam wurde gevierteilt und verbrannt. Die Asche in alle Winde verstreut.

Alfred Schindler, Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg): Die Badener Disputation von 1526 - Kommentierte Edition des Protokolls, Theologischer Verlag Zürich (TVZ), Zürich 2015, 752 Seiten, 90 Euro.