Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
10.07.2002. Kein Fitzelchen mehr auf dem Nachttisch. Arno Widmann hat aufgeräumt: Bildbände von Gerhard Richter, Günter Pfannmüller und Camilo Jose Vergara. Lyrik von Jose Hierro, einen Roman von Ved Mehta, Briefe von Adorno und Thomas Mann. Und dann beklagt er auch noch den Tod des Lektors.
Banales

Die Gerhard-Richter-Ausstellung, die bis zum 21. Mai im Museum of Modern Art in New York zu sehen war, ist jetzt im Art Institute of Chicago zu besichtigen. Zeit, einen Blick in den Katalog zu werfen. In der Ausstellung siegen die Großformate. Im imaginären Museum können die kleineren Arbeiten größte Aufmerksamkeit erregen.

Da ist zum Beispiel "Onkel Rudi" (Seite 121 im Katalog) aus dem Jahre 1965. Eines der Bilder von Richter, die aussehen wie eine verwischte Schwarz-Weiß-Fotografie. Ein Mann in Wehrmachtsuniform vor einem Zaun, hinter dem eine Neubausiedlung zu sehen ist. Er lächelt. Es ist das Gemälde über ein Foto wie es in Millionen Familienalben steckt. Der Großvater als Soldat. Nichts Erschreckendes ist darin. Der Mann, der Neubau, der Zaun, der Baum - alles ohne Harm. Aber die gerade noch als die der Reichswehr zu erkennende Uniform genügt. Und der ganze Schrecken ist da. Die Vernichtungslager, das bis tief nach Russland hinein massakrierte Europa - alles bei diesem lächelnden Mann. Gleichzeitig aber ist das alles so deutlich nicht bei ihm, dass dem Betrachter klar wird, dass sein Blick nicht mehr unschuldig ist. Er weiß zuviel. Richter hat beides dargestellt: das, was man sieht und das, was man weiß. Er hat es freilich nicht darstellen müssen.

Es ist da. So sehr, dass es Eingang in die Lidice Sammlung des Tschechischen Museums für Schöne Künste in Prag gefunden hat. In einem Interview mit Robert Storr, dem Herausgeber des Katalogs und Kurator der Ausstellung, erklärte Gerhard Richter (Bild) im April 2001: "Ich erwähnte die 'Banalität des Bösen', um darauf hinzuweisen, dass das Banale auch manchmal als Angst einflößend beschrieben wurde. Man kann das Banale als das Schreckliche beschreiben wollen. Der Kronleuchter" - Richters Bild "Flämische Krone", auch aus dem Jahre 1965 - "ist ein Monster. Ich muss kein Monster malen; es genügt ihn zu malen, diesen beschissenen, kleinen, banalen Kronleuchter. Ein schreckliches Ding. Vor ein paar Jahren habe ich schon, um mich von Francis Bacon abzusetzen, gesagt: ich muss keine Gesichter verformen. Es macht viel mehr Angst die Gesichter so banal zu malen wie ich sie auf Fotografien finde. Das macht das Banale zu mehr als etwas Banalem."
Gerhard Richter - 40 years of painting, ed. Robert Storr, The Museum of Modern Art, New York, distributed by D.A.P., New York 340 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen. ISBN 1-891023-37-X ISBN 1-891024-39-6 (Broschur)


Der zweite Blick

Der Fotograf Günter Pfannmüller war überall auf der Welt unterwegs und hat Menschen fotografiert. Pfannmüller hat die Großstädte gemieden. Er ist in Steppen und Dschungel gegangen, in Wüsten und Savannen. Aber er hat dort nicht die Kulturen gesucht, sondern die Individuen. Er hat den sechzigjährigen Kamelhirten Bhawalal aus Rajasthan in Nordindien vor einen dunkelblauen Hintergrund gesetzt und fotografiert (Bilder). Vor dem gleichen Hintergrund stand auch der 24-jährige Krieger Koynante aus Kenia. Es ist ein einfaches Verfahren, aber es wirkt Wunder. Ihrer natürlichen und sozialen Umgebung beraubt, beginnen die Menschen selbst zu wirken. Zunächst betrachten wir noch den Kopfschmuck des jungen Mannes, Turban und Bart des Kamelhirten, die Ziegelsteine der Bauarbeiter aus Myanmar, das Heu der Äthiopierin, dann aber tritt die soziale Zuordnung zurück, und wir sind in den Gesichtern selbst. Günter Pfannmüller lenkt so den Blick auf die Einzelnen und auf unsere Wahrnehmung. Er macht uns klar, wie sehr wir, was wir sehen, zunächst sozial rubrizieren, wie sehr unsere Wahrnehmung in erster Linie danach organisiert ist, alles möglichst schnell in Schubladen ablegen zu können. Pfannmüller lehrt uns die Kunst des zweiten Blickes. Sein Buch "Unantastbar" ist auch selbst ein zweiter Blick. Es ist die globalisierte Version von August Sanders "Deutsche Menschen".
Günter Pfannmüller, Unantastbar - Von der Würde des Menschen Mit Essays von Wilhelm Klein, Zweitausendeins, 160 Seiten, viele s/w und farbige Abbildungen ISBN 3-86150-433-2


Eigenartige Laute

Jose Hierro
(mehr hier) wurde 1922 in Madrid geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten spanischen Dichter der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Es ist wenig von ihm übersetzt. Desto schöner ist es, dass sein letztes großes Buch "Cuaderno de Nueva York" jetzt in einer zweisprachigen Ausgabe vorliegt. Margrit Klingler-Clavijo hat Hierros Gedichte übersetzt und eine knappe Einführung geschrieben. Das Präludium zu den 32 Gedichten des "Cuaderno" sei hier mitgeteilt:

"Nach Tausenden, Millionen Jahren,
viel später
als die Dinosaurier ausstarben,
kam er an diesen Ort.
Begleitet von anderen wie er,
aufrecht wie er
(wie er, wahrscheinlich leicht gebückt).

Aus Lautmalereien,
Einsilbern, Murren
entwickelt er ein System von Klangfolgen.
So konnte er vergangene Ereignisse behalten,
seine Weissagungen artikulieren,
da die Gegenwart - das ahnte er - weder in sich selbst
anfängt noch endet, vielmehr der Schnittpunkt
zwischen dem Geschehenen und dem zu Geschehenden ist,
Flamme zwischen Holz und Asche.

Die besänftigten Laute bedeuteten
weitaus mehr als sie bedeutet hatten
(sie erzeugten konzentrische Kreise
- wie der ins Wasser geworfene Stein -
die sich vermehrten, sich ausdehnten,
ausklangen, bis sie zurückkehrten zu Glätte und Ruhe):
und alle ihrer geheimen Essenz gewahr wurden,
die sie nicht zu entziffern vermochten.

Mit zaghafter Ehrfurcht
vernahmen sie so unverständliche Botschaften
wie die der Flamme, der Welle, des Donners
(Wahrscheinlich mit der gleichen Unruhe, mit der wir dem Arzt zuhören,
der unsere Krankheit diagnostiziert
und nie zuvor gehörte Fachausdrücke benutzt,
so dass wir nicht wissen
ob er - unerschütterlich und professionell -
unseren Tod verkündet
oder das Leben).

Niemand verstand damals seine Worte.
Daher schwirren jetzt die Worte herum,
blasen in den Winden,
begierig von jemand aufgenommen zu werden,
Jahrhunderte nachdem sie gesprochen wurden.
Und warten hier, dass jemand sie hört,
hier, wo Broadway und Seventh Avenue ineinanderfließen.
Hier war es, wo er mich sah,
wo er die Chronik
des Augenblicks, in dem ich ihn evoziere, erzählte.
Hier, zwischen Leuchtreklamen,
in der Stadt New York."

Wie sehr das "evoziere" stört! Das ist so gewählt, so akademisch verquält. Gerade davon aber hat bei aller Gelehrtheit, bei aller Zitierlust Hierro so gar nichts. Er spielt mit den Traditionen, aber er spielt mit ihnen. Es macht ihm und dem Leser Spaß sie herbeizuzitieren und sie einzuspeisen in die Gegenwart. Das erste Gedicht seines New York Zyklus heißt "Rhapsodie in Blue" und darin springt Hierro vom jungen Mozart, der seinem Vater "die Entdeckung eines ganz eigenartigen Lautes" mitteilt, auf die Baumwollfelder des amerikanischen Südens und von dort - immer noch diesem einen Klang hinterher - zur Skyline von New York.

"An welchem Ort der Zeit ist die Musik
die die Sterne destillierten
mit der verschmolzen, die der Alkohol
und der Schatten komponierten?
Auf die morgendlichen Gestade
bei Ebbe scheint das Blau des Himmels.
Schade, dass soviel Traurigkeit wahr gewesen ist!"

Jose Hierro, Heft aus New York, spanisch und deutsch, aus dem Spanischen von Margrit Klingler-Clavijo, teamart Verlag, 177 Seiten, ISBN 3-908126-14-4
Gedichte auf Spanisch von Jose Hierro finden Sie hier


Prima

Zunächst hatte er Ameisenforscher werden wollen, doch als er zwölf Jahre alt war, erlag er den Gorillas. Von da an verbrachte er jede freie Minute in der Primatenforschung. Auf der Universität freilich wandte er sich ab vom Berggorilla und konzentrierte sich auf Steppenpaviane. Mit denen beschäftigt sich Robert M. Sapolsky, Professor für Biologie und Neurologie an der Stanford University, nun seit zwanzig Jahren mit wechselnden Erfolgen. Sein Buch "Mein Leben als Pavian" ist die witzigste Einführung in das Leben eines Primatologen. Schon deshalb, weil sein Autor niemals vergisst, dass der Primatologe auch nur ein Primat ist. Reflexion ist das Vermögen, anderswo erworbene Einsichten auch auf sich selbst anwenden zu können. Man nennt das in anderen Zusammenhängen auch gerne Ironie. Die schlägt gerne um in Satire.

Sapolsky reflektiert unentwegt und immer schön hin und her. Da wird der Primatologe gegen den Primaten ausgespielt, aber nur um gleich im nächsten Satz Revanche zu spielen. Es gibt keinen festen Standpunkt, von dem aus die anderen sich dem friedlichen Beschauer zu Gefallen organisieren. Es gibt nur verwirrend radikal wechselnde Ansichten, die die Gewissheiten durcheinander bringen. Sapolsky ist wie alle Ironiker sehr von sich überzeugt und es mag den einen oder anderen Leser geben, den sein Narzissmus stört. Aber wer von einem Autor nicht unbedingt Bescheidenheit verlangt, der wird Sapolskys Rückblick auf zwanzig Jahre Pavianforschung mit Genuss lesen. Es ist auch ein Buch über einen jüdischen Jungen aus der amerikanischen Mittelklasse, der Afrika und die Afrikaner und mitten unter ihnen sich selbst entdeckt.
Robert M. Sapolsky, Mein Leben als Pavian - Erinnerungen eines Primaten, aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz, 456 Seiten, Claassen Verlag ISBN 3-546-00249-0


Hasswort

Ganz sicher ist "nigger" ein Hasswort. Randall Kennedy von der Harvard Law School hat seine Geschichte geschrieben. Ein kleines, wunderbar klares Buch. Kennedy belegt, wie "nigger" dazu benutzt wurde Hass zu säen, wie das Wort eingesetzt wurde, um Wut hervorzurufen, bei denen, die es gegen die Schwarzen gebrauchten - es half ihnen sich hineinzusteigern in ihren Rassenhass - , wie bei denen, die "nigger" genannt wurden, um sie zu erniedrigen und um sie aufzustacheln zu Handlungen, um derer willen man sie aufknüpfen konnte. "Nigger" hat auch eine Rechtsgeschichte. Der Gebrauch des Wortes wird in zahlreichen Urteilen der letzten Jahre mit Körperverletzung gleichgesetzt. Wer es verwendet, stellen die US-Gerichte heute fest, schlägt zu.

Kennedy sieht den Fortschritt darin. Er sieht aber auch, dass "nigger" in letzter Zeit von Schwarzen positiv besetzt wird. Ein "nigger" ist ein richtiger Kerl. Kein Rapper kommt ohne "nigger" aus. Die Kunst bereichert sich parasitär an dem Hitzegrad des Wortes. Es ist den jungen Rappern gleichgültig, was politisch korrekt zu "nigger" zu sagen wäre. Sie interessieren sich nicht für kritische Urteile. Sie verwenden, was ihnen brauchbar scheint und funktionieren es um. Wie der Vietcong aus dem Schimpfwort den Ehrennamen des zukünftigen Siegers machte, so greift die Musikszene nach dem "nigger". Es hat also - so Kennedy - keinen Sinn, das Wort zu verbieten. Es kommt ganz auf den Zusammenhang an, in dem es steht, in dem es eingesetzt und verwendet wird. Ein Hasswort ist es immer. Aber was damit gehasst wird, das hängt von der Situation ab, in der es verwendet wird.
Randall Kennedy, Nigger - The strange career of a troublesome word, 230 Seiten, Pantheon Books, New York, ISBN 0-375-42172-6
Ein Interview mit Randall Kennedy in Atlantic Monthly finden Sie hier
Zur Etymologie des Wortes "nigger" schauen Sie ins Oxford English Dictionary


Falsch gelaufen

Bernard Lewis ist einer der besten Kenner der islamischen Welt und ihrer Geschichte. Sein neuestes Buch "What went wrong? - Western Impact and Middle Eastern Response" ist der Versuch einer Antwort auf die im Titel gestellte Frage, die ja nach dem 11. September gerne radikalisiert umformuliert wurde: "Warum hassen sie uns?". In sieben beneidenswert klar formulierten Kapiteln schildert Lewis vom Scheitern auf den Schlachtfeldern, über das Nachhinken beim Bruttoszialprodukt und in der wissenschaftlichen Entwicklung bis hin zu den ganz weichen Faktoren des kulturellen Wandels, die zentralen Niederlagen der islamischen Welt. Lewis erinnert daran, dass noch vor 250 Jahren die islamische Welt einen völlig anderen Blick auf den Westen hatte.

Sie lebte im Bewusstsein ihrer vollkommenen Überlegenheit. Sie hatte die besseren Waffen, die klügeren Köpfe, die schöneren Frauen, die besseren Sitten, den gottgefälligeren Glauben. Europa war über Jahrhunderte in den Augen der islamischen Welt Barbarenland. Das mochte ethisch begründet werden, gegründet war es auf einer militärischen Überlegenheit, die jedem Zeitgenossen deutlich wurde, wenn er sich klar machte, dass islamische Armeen gleichzeitig über Europa, Afrika, Indien und China herfielen. Der Islam war eine Supermacht. Es dauerte lange, bis er keine mehr war, und es dauerte noch länger, bis die Muslime sich dessen bewusst wurden. Der frühe Islam - daran erinnert Lewis - hatte alles, was ihm auch an wissenschaftlicher Literatur wichtig erschien - zum Beispiel auch aus dem Griechischen - übersetzt.

Später änderte sich das radikal. Bis ins späte 18. Jahrhundert gab es nur ein einziges medizinisches Buch, das in eine mittelöstliche Sprache übersetzt worden war: eine Abhandlung über die Syphilis aus dem 16. Jahrhundert. Man war zu groß geworden. Man glaubte, man habe alles und brauche nichts mehr. Von Renaissance, Reformation und technologischer Revolution hatte die islamische Welt nichts mit bekommen. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Lewis beschreibt, wie spätestens seit der französischen Revolution immer wieder versucht wurde, westliche Elemente zu orientalisieren. Sadik Rifa Pascha (1807-1856) verfasste ein Reformmemorandum für das Ottomanische Reich, als er dessen Botschafter in Wien war. Der Bey von Tuni rief 1861 eine Verfassung aus. Sie wurde 1864 abgeschafft, als Tunis unter französisches Protektorat gestellt wurde.

Der europäische Kolonialismus des 19. Jahrhunderts war eine Demütigung für die einstige Weltmacht. Aber die Frage "Wer hat uns das angetan?" hat - so Lewis - "nur zu neurotischen Phantasien und Verschwörungstheorien geführt". Sie muss abgelöst werden von den Fragen: "Was haben wir falsch gemacht?" und "Wie machen wir es richtig?" Das sind Fragen, auf die ein Historiker - und sei es ein so kenntnisreicher wie Lewis - keine Antwort haben kann. Aber wer sich einen Einblick verschaffen möchte in die sachliche und die emotionale Gemengelage der Beziehungen zwischen Ost und West, der muss "What went wrong" lesen.
Bernard Lewis, What went wrong? - Western Impact and Middle Eastern Response, Oxford University Press, 180 Seiten, s/w-Abbildungen, ISBN 0 19-514420-1
Auszug aus dem Buch in Atlantic Monthly hier