Vom Nachttisch geräumt

Das Blut von Millionen

Von Arno Widmann
21.01.2020. Romantik und Terror sind alte Wahlverwandte: Das lernt man von Mao und zwei Bänden über dichtende Despoten und Diktatoren-Literatur. Darauf eine falsche Haifischflosse.
Beginnen wir mit dem Einfachsten: "Dictator's Dinners" ist ein Bildband mit Rezepten. Lieblingsspeisen von 26 Diktatoren des 20. Jahrhunderts, von Stalin bis Saddam Hussein. Europa ist mit acht dabei, Afrika mit sieben, Asien mit fünf, Lateinamerika mit vier und der Nahe Osten mit zwei. Das kann ein sehr variantenreiches Silvestermenü werden. Man könnte mit einer Haifischflossensuppe beginnen. Das allerdings ist schon ein Verbrechen. 73 Millionen Haifischflossen sollen jedes Jahr in einer Suppe landen. Die erst einmal nach fast nichts schmeckende Delikatesse hat aus Haien eine bedrohte Tierart gemacht. Aber bei einem Essen am Tisch von Diktatoren muss einem klar sein, dass nicht alles politisch korrekt laufen kann. Das Buch empfiehlt einem darum als Ersatz ein Produkt aus Thailand: die falsche Haiflosse. Der koreanische "Geliebte Führer" Kim Jong-Il (1942-2011) liebte die Suppe. Vorausgesetzt sie war stark gewürzt. Welchen Wein er dazu trank, scheint nicht überliefert zu sein. An Auswahl fehlte es ihm nicht. 10 000 Flaschen soll er in seinem Keller gehabt haben. Außerdem hortete er für 580 000 Euro hochwertigen Cognac. Kim Jong-Il soll Hennessy's größter Einzelkunde gewesen sein.

Hundefleischsuppe mochte Kim Jong-Il ebenfalls. Aber von der liefert das Buch kein Rezept. Schildkrötensuppe war eines der Lieblingsgerichte Fidel Castros. Auch hier bietet das Buch ein politisch korrektes Alternativrezept. Nach der Suppe könnte man sich Antonio Salazars (1889-1970) gegrillten Sardinen mit Bohnen zuwenden. Der portugiesische Diktator war strenger Katholik und schon darum kein Freund Adolf Hitlers. In einer Umfrage des portugiesischen Fernsehens im Jahre 2013 erklärten 41 Prozent der Befragten Salazar für den bedeutendsten Portugiesen, der jemals gelebt hatte. Ob dabei seine Vorliebe für karge Mahlzeiten eine Rolle gespielt hat?

Dictator's Dinner von Mussolini. Abb. aus dem besprochenen Band


Adolf Hitler (1889-1945) verbrauchte im Laufe seiner Karriere fünfzehn Vorkoster. Keiner von ihnen starb an einer Lebensmittelvergiftung. Aber es geht die Legende, dass erst, wenn sie 45 Minuten überlebt hatten, der Führer mit seiner Mahlzeit begann. In den letzten Monaten aß er nur noch Kartoffelpüree und klare Brühe. Stalin lebte ganz anders. Er liebte es, seine engsten Mitarbeiter um sich zu scharen und bis morgens um fünf zu reden, zu essen und zu trinken. 22 Millionen Menschen kostete sein Regime das Leben, heißt es in dem Buch. Ein Spiel liebte er besonders: Es wurden Schnäpse getrunken, deren Temperatur zu erraten war. Diese Sauf- und Fressorgien hatten Folgen: Tito erbrach sich in einen seiner Jackett-Ärmel, Chruschtschow machte ins Bett und selbst der extrem trinkfeste Winston Churchill klagte über nächtliche Kopfschmerzen. Mehr verriet er jedenfalls nicht. Stalin sei wohl eher nicht vergiftet worden, meinen die Autoren des Buches: Seine sechsstündigen nächtlichen Gelage allein hätten wahrscheinlich für einen Schlaganfall ausgereicht. Stalin war Georgier und liebte die dortige Küche. Also auch Satsivi: Geflügel in Walnuss-Sauce. Das Gericht wird lauwarm oder kühl serviert. Ein Starter. Mao Zedong (1893-1976), der wohl erfolgreichste Massenmörder der Weltgeschichte, legte stets Wert auf gutes Essen. Allerdings wollte er auch nicht länger als zwanzig Minuten darauf warten, berichtete einer seiner Köche. "Dictators' Dinners" ist ein Rezeptbuch für Freunde des Makabren. Ein schönes Geschenk für Weihnachten oder auch für Thanksgiving.

Schwieriger ist der Hinweis auf einen Band über die oft übersehenen literarischen Ambitionen vieler Diktatoren. Der Schotte Daniel Kalder, der heute in Texas lebt, ist ihnen nachgegangen. Hitler hielt nicht viel vom Schreiben. In "Mein Kampf" diktierte er Rudolf Hess: "die größten Umwälzungen auf dieser Welt sind nie durch einen Gänsekiel geleitet worden! Nein, der Feder blieb es immer nur vorbehalten, sie theoretisch zu begründen. Die Macht aber, die die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Wortes." Er hatte Recht. Wer Literatur auf das geschriebene Wort beschränkt, der verzichtet zum Beispiel auch auf Homer. Hitler sah sehr genau, was er konnte und was nicht: Dem damaligen Reichsminister ohne Geschäftsbereich, dem nachmaligen Schlächter Polens, Hans Frank soll Hitler im Frühjahr 1938 erklärt haben: "Ich bin kein Schriftsteller. Welch schönes Italienisch spricht und schreibt Mussolini! Ich kann nicht dasselbe auf Deutsch. Die Gedanken gehen mir durch beim Schreiben. 'Mein Kampf' ist eine Aneinanderreihung von Leitartikeln für den Völkischen Beobachter, und ich glaube, selbst dort würde man sie aus sprachlichen Gründen nur ungern annehmen."

Ich glaube nicht, dass Adolf Hitler in der Lage war, die Qualität von Mussolinis Prosa zu beurteilen, aber die Erfolge seiner Beredsamkeit entgingen ihm nicht. Womöglich kannte Hitler aber doch "Die Mätresse des Kardinals", so der deutsche Titel eines Romans von Mussolini. Der war 1910 in Fortsetzungen in der von ihm redigierten sozialistischen Tageszeitung Il Popolo veröffentlicht worden. Das spätere Projekt, den Roman zu verfilmen, brach der Duce ab. Mussolini hatte als junger Sozialist auch eine Biografie des tschechischen Reformators Jan Hus geschrieben. Benito Mussolini war ein umtriebiger Geist, ein Intellektueller, wie Adolf Hitler Züge eines Bohemiens hatte.

Mussolini schrieb auch noch als Duce Theaterstücke. Ihm fehlte Stalins und Hitlers fanatische Entschlossenheit, Literaten und Künstler zur Schaffung einer der eigenen Ideologie folgenden Kunst zu zwingen. Der von ihm bewunderte Futurist Anton Bragaglia sackte zwar gerne die faschistische Staatsknete ein, brachte aber dann keine faschistische Propaganda auf die Bühne seines Teatro delle Arti, sondern Dadaisten, Surrealisten, Expressionisten, Shaw und Brecht. Also legte Mussolini selbst Hand an. Er schrieb u. a. ein Stück über Julius Cäsar, den Diktator, dessen Karriere mit seiner Ermordung endet, und schrieb zusammen mit einem sehr erfolgreichen Autor von Historiendramen, Giovacchino Forzano, den aus elf Szenen bestehenden Einakter "Napoleon: Die einhundert Tage". In Italien wurde Mussolini nicht als Ko-Autor genannt. Im Ausland sehr wohl. 1936 wurde das Stück verfilmt mit Werner Krauss in der Titelrolle, ein Beispiel für die Zusammenarbeit der Achsenmächte. Die New York Times pries den Film damals als ein Produkt, das den Vergleich mit besten Hollywoodproduktionen nicht zu fürchten brauche. Mussolini stand beim Zeitungsmagnaten Randolph Hearst mit einer Kolumne unter Vertrag und er war Ehrenvorsitzender der Mark Twain Gesellschaft.

Der andere große Dichter unter den Diktatoren war Mao Zedong. China hatte Mitte der sechziger Jahre die Millionen Menschenleben fordernde Hungersnot während des Großen Sprungs hinter sich. Mao musste zugeben, dass der Große Sprung in eine Katastrophe gemündet war, aber er schrieb sie nicht dem oder gar seinem übergroßen Revolutionseifer zu, sondern im Gegenteil dem Mangel daran. Dem sollte jetzt abgeholfen werden. Mao bereitete die Kulturrevolution vor. Im Jahr zuvor war das Kleine Rote Buch, eine Sammlung von Sprüchen Mao Zedongs, in Millionenauflage in der Volksbefreiungsarmee verbreitet worden. Von Ungarn ausgehend machte damals das Wort vom "Gulaschkommunismus" die Runde. Im Herbst 1965 schrieb Mao Zedong:

Gespräch zweier Vögel

Vogel Rock breitet seine Flügel aus,
Neunzigtausend Li,
Und stöbert einen rasenden Zyklon auf.
Den blauen Himmel auf seinem Rücken schaut er hinab,
Überall sind Städte und Mauern der Menschen.
Tagelanges Kanonenfeuer,
Und Einschusslöcher allerorts,
Erschrecken den Spatz im Busch.
Wohin soll das noch führen,
Ach, ich muss von hier wegfliegen.
Darf ich den Herrn fragen, wohin er zieht,
Der Spatz erwidert: zum Jadeschloss im Elfenreich.
Hast du im hellen Herbstmond vorletztes Jahr nicht gesehen,
Wie drei Parteien einen Vertrag unterzeichneten.
Es gibt auch Nahrung,
Weichgekochte Kartoffeln,
Und dazu Rindfleisch.
Quatsch keinen Unsinn!
Schau, die Welt wird aus den Angeln gehoben.

Nach sozialistischem Realismus klingt das nicht, wenn dem, der die Nahrungsfrage stellt, entgegnet wird: "Quatsch keinen Unsinn!/ Schau die Welt wird aus den Angeln gehoben." Das war Maos berühmte "revolutionäre Romantik", ohne die es in seinem Reich keinen sozialistischen Realismus geben durfte. Romantik und Terror sind alte Wahlverwandte. Im zwanzigsten Jahrhundert haben sie sich auf allen Seiten des politischen Spektrums mit einander verbunden. Daniel Kalder, der zur Diktatorenliteratur auch deren Prosa zählt, beendet sein Mao-Kapitel mit dem Satz: "Im Zentrum von allem stand ein kleines, rotes Buch, das von einem Mann geschrieben worden war, der an seinen Händen das Blut von Millionen hatte."

Schon 2011 erschien der Band "Despoten dichten" auf den ich in diesem Zusammenhang hinweisen muss. Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij, beide damals Universität Konstanz, hatten ihn herausgegeben. Ein Dutzend Autoren von Richard Bosworth bis Slavoj Zizek schreiben über Nero, Mussolini, Stalin, Hitler, Kim Il-sung, Mao Zedong, Muammar al-Gaddafi, Sadam Hussein, Saparmyrat Nyyazow und Radovan Karadzic. Den Essays über die dichtenden Despoten ist jeweils ein kurzer Text des jeweiligen Helden vorangestellt. Der Band der beiden Konstanzer Literaturwissenschaftler ist intellektuell deutlich anregender als Kalders Buch.

Die Herausgeber weisen darauf hin, dass all die genannten Despoten "in irgendeiner Weise das Erbe der Kunstavantgarden zu Beginn des Jahrhunderts ausagieren, die bekanntlich die Kunst mit dem Leben verschmelzen wollten - ein schon von Richard Wagner formuliertes Programm, der seinerseits 'unter dem Einfluss der revolutionären Ideen Bakunins' stand. In der Ansicht, dass der politische Herrscher ein Künstler höchsten Grades sei, stimmten Mussolini, Hitler, Goebbels mit russischen Konstruktivisten wie Malewitsch überein. Auch wenn das dafür gebräuchliche Bild dasjenige des Bildhauers war, der das Volk wie einen 'Block kostbaren Materials' zu formen hatte (Mussolini) - woraus sich die Option ableiten ließ, politisches Scheitern der Unzulänglichkeit des 'Materials' anzulasten -, diente als wichtigstes Medium dieser Formung doch das gesprochene oder geschriebene Wort."

Ich glaube Mussolini hatte Recht und nicht seine beiden Interpreten. Das wichtigste Medium bei der Formung des Volkskörpers war nicht das gesprochene oder das geschriebene Wort, sondern die Vertreibung oder Ermordung all der Teile des Volkes, die der Verwirklichung der Vision des despotischen Bildhauers im Wege standen. Das "Volk der Diktatoren" ist kein verbales Kunstgebilde, sondern das, was vom realen Volk nach den Interventionen der Diktatoren übrig blieb oder bleiben sollte. Hitlers Vision erkennen wir besser als bei der Lektüre von "Mein Kampf" an seinen Vernichtungskriegen gegen Juden, Andersdenkende, Untermenschen und alles "unwerte Leben". Da war der "Bildhauer" am Werk.

Dobrenkos Kapitel über Stalin erinnert an den jungen romantischen Dichter, von dem 1901 in einem georgischen Lehrbuch der Literaturtheorie ein Gedicht abgedruckt wurde als eines "der besten Beispiele georgischer Literatur." Dobrenko sieht zwischen dem romantischen jungen Stalin und dem Verfechter des sozialistischen Realismus keinen Gegensatz. Er schreibt: "Die frühe romantische Dichtung trieb nicht nur den sozialistischen Realismus hervor, sondern auch die politische Prosa des Stalinismus." Wie das funktionierte, ist nicht nur ein Stück Literaturgeschichte, sondern zeigt auch, wie Spiel und Terror im 20. Jahrhundert zusammenfanden.

Aber dieser Grundakkord bestimmt jeden der Beiträge des Bandes. Die künstlerische Seite der Tyrannen erscheint nicht wie bei Kalder als Kuriosum, sondern verrät etwas über die das grundsätzliche Verhältnis von Kunst und Tyrannis. Die Welt nach seinem Bilde zu schaffen - darum geht es Dichter und Diktator. Boyan Manchev schreibt in seinem Epilog zum Buch "Tyrannische Poesie oder Poesie von Tyrannen: "Stalin war es tatsächlich. Hosif Vissarionovic Dzugasvilis Pseudonym leitet sich ja vom russischen Wort für Stahl ab: er war der Stahl-Künstler, der sich der erhabenen Aufgabe annahm, so weiches Material wie menschliche Seelen zu formen. War der 'Stählerne', war Stalin, die Muse von Nikolaj Ostrovskijs 'Wie der Stahl gehärtet wurde' (1932), dieses Modellromans des sozialistischen Realismus? Auch Stalins Pseudonym ist nach der Logik des Symptoms zu lesen. Manufaktur wird schrittweise in industrielle Produktion übersetzt: Industrialisierung der Dichtung, Produktionskunst - 'Ein Sender, Millionen Empfänger', 'Sozialismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung'. Über das Verhältnis des Totalitarismus ist eine Menge geschrieben worden. Heideggers berühmt-berüchtigtes Wort von der 'Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern' (1949) hat zu empörten Reaktionen geführt; es hätte ganz anders geklungen, wäre es im Kontext von Horkheimers und Adornos 'Dialektik der Aufklärung' aufgetaucht."

- Victoria Clark and Melissa Scott: Dictators' Dinners - A bad taste guide to entertaining tyrants, Gilgamesh Publishing, London 2014, 173 Seiten, 129 s/w und farbige Abbildungen, 15 Euro.
- Daniel Kalder: Dictator Literature - A history of bad books by terrible people, Oneworld Publications, London 2018, 381 Seiten, 19,15 Euro.
- Despoten dichten - Sprachkunst und Gewalt, hrsg. Von Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij, Konstanz University Press, Konstanz 2011, 364 Seiten, 26,90 Euro.