Vom Nachttisch geräumt

Vaterlandsverräter

Von Arno Widmann
09.09.2015. Selbst 1952 war "Rituelle Distanz" zwischen Israel und Deutschland schwierig, wenn der eine in seinem Englisch so schwäbelte wie der andere, beobachtet Dan Diner.
Dan Diner war bis zu seiner Emeritierung 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Seit 2001 lehrt er Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sein neuestes Buch beschäftigt sich mit den Anfängen der Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland. Er schildert wie sich 1952 in Luxemburg im Stadtpalais am Place d"Armes Delegationen der Bundesrepublik und Israels gegenübersitzen. Es ging um ein Abkommen über Restitution und Entschädigung. Verhandlungssprache war Englisch, vorgesehen war eine frostige Atmosphäre. Beides ließ sich nicht konsequent aufrechterhalten. Diner beschreibt das mit der Kühle des genauen Beobachters. Wenn zwei an einander den schweren schwäbischen Akzent ihres Englisch beobachten, dann entsteht ein Kontakt. Wenn Sie dann noch feststellen, dass sie an derselben Schule waren und denselben Lehrer verehrten, beginnen sie mit einander zu reden.

Einige sehr schöne Seiten sind Jakob Altmaier (1889 - 1963) gewidmet. Der Flörsheimer, seit 1913 Mitglied der SPD, war 1918 in Frankfurt am Main bei der Revolution dabei gewesen. Der Sozialdemokrat und Jude verließ das Land 1933, bekämpfte Nazideutschland auf der Seite der Allliierten. 1949 kehrte Altmaier nach Deutschland zurück. Er war der einzige Jude und der einzige Sozialdemokrat, der auf deutscher Seite am Verhandlungstisch saß. Dan Diner erzählt von ihm und er erzählt von dem "Bann" unter dem Deutschland und die Deutschen damals standen. Der junge Staat Israel hatte an seine Bürger Pässe ausgegeben, in denen stand ein Vermerk: Für alle Staaten, außer Deutschland. Juden, die Deutschland nicht verlassen, Juden, die gar nach Deutschland einreisen wollten, wurden geschmäht und als Verräter betrachtet. Diner zitiert die theologische Tradition, auf die sich die politischen Sprecher damals explizit oder durch ihre Wortwahl beriefen.

Man versteht das nur zu gut. Aber es wird auch deutlich, wie gefährlich es ist, wenn ein Staat seinen Bürgern eine moralische Haltung aufzwingen möchte. Das Verbot der Reise nach Deutschland, das der jüdische Staat verhängt hatte, führte zur Etablierung eines blühenden Geschäftszweiges. Wer nach Deutschland wollte, konnte ein Reisebüro aufsuchen, das ihm für die Dauer seines Deutschlandaufenthalts - gegen Hinterlegung einer Kaution - den Pass eines lateinamerikanisches Landes gab, den er abgeben musste, um seine Kaution, zurück zu erhalten. Die Einfuhr von Gütern aus Deutschland nach Israel war verboten. Es galt aber eine Ausnahme. Juden, die aus Deutschland nach Israel emigrierten, durften mitbringen, was immer sie wollten. Einer brachte 130 MAN-Lastwagen mit.

Man liest diese Passagen schmunzelnd und denkt an das Scheitern der Prohibition und ähnliche Unternehmungen. Aber hier geht es doch um etwas ganz Anderes. Es geht darum, welches Verhältnis der Staat der Opfer zum Staat der Mörder haben darf, haben kann, haben soll. Man versteht jeden, der sagt: Schämt Ihr Euch nicht, diese Hände zu drücken! Aber darf ein Staat Schamgrenzen vorschreiben? Es ist eine vertrackte Geschichte. Es ist auch ein Stück Autobiografie des 1945 in München geborenen Juden Dan Diner. Er wuchs nicht nur auf im Antisemitismus der frühen Bundesrepublik, erzogen von Lehrern, von denen der eine und der andere noch immer Nazis waren, er wuchs auch auf unter dem jüdischen Bann. Er war einer von denen, oder doch ein Kind von denen, die nicht beim Aufbau Israels, sondern beim Wiederaufbau Deutschlands halfen. Vaterlandsverräter.

Ein kluges, ein ergreifendes Buch.

Dan Diner: Rituelle Distanz: Israels deutsche Frage, Deutsche Verlagsanstalt, München 2015, 172 Seiten, s/w Fotos, 19,99 Euro