Redaktionsblog - Im Ententeich

Fantasie über die Zukunft des Schreibens

Von Thierry Chervel
14.03.2010.
Am 14. März 2000 gründeten Anja Seeliger, Niclas Seeliger, Adam Cwientzek und ich bei einem Hamburger Notar die Perlentaucher Medien GmbH. Das Wetter habe ich als noch winterlich, aber nicht unfreundlich in Erinnerung. Am Tag darauf gingen wir mit der ersten Feuilletonrundschau online, die heute verloren ist, weil wir die Feuilletonrundschauen zunächst noch Tag für Tag überschrieben. Erst ab 2. April 2001 sind sie archiviert. Die erste Bücherschau des Tages lässt sich aber auf den 15. März 2000 datieren. Um nicht bei Null anzufangen hatten wir außerdem die Herbstbeilagen von 1999 ausgewertet. Das erste Buch in unserer Datenbank ist Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen". FAZ-Literaturchef Thomas Steinfeld umkreist es wie eine scharfe Handgranate, ohne selbst Stellung zu beziehen, resümierten wir.

Einige Tage vor dem 15. März 2000 hatten die Börsen ihren höchsten jemals gemessenen Stand erreicht. Die erste Internetblase platzte. Die alten Medien waren wieder obenauf. Sie platzten vor Geld. Der Internetboom war durch seine unglaublichen Anzeigenbudgets auch ein Medienboom gewesen. Der letzte, aber das war noch nicht klar. Welche Abenteuer des Geistes noch folgen würden, konnte man nicht ahnen. Die Journalisten hatten sich durch den Boom gerade noch als Player der New Economy gefühlt, nun waren sie froh, dass sie ihre sicheren Inseln des Geistes und der Warenwirtschaft nicht aufgegeben hatten. Einen SZ-Artikel von Sonja Zekri, die heute als Moskaukorrespondentin exzellente Arbeit leistet, werde ich nie vergessen. Sie sagte Amazon am 25. Juli 2001 das nahe Ende voraus. Wir zitierten sie in unserer Feuilletonrundschau, nicht ohne einen kleinen Kommentar:

Süddeutsche Zeitung, 25.07.2001

Sonja Zekri berichtet, dass Amazon vor der Pleite steht: "Schon heute dürfte Amazon in die Netz-Geschichte als eines der am stärksten überschätzten Unternehmen eingehen, ein Riesenbluff, der im Vertrauen auf den steigenden Aktienkurs wirtschaftete und die Aktionäre nicht mit Bilanzen versöhnte, sondern mit den Anekdoten und dem ansteckenden Lachen des Firmengründers Jeff Bezos." Ähem, nur eine ganz winzige Anmerkung: Allein in Deutschland macht Amazon nach kurzer Zeit einen Umsatz von 200 Millionen Mark und dürfte damit zu den zehn größten Buchhandlungen des Landes zählen. Bol.de hat es trotz riesiger Kampagnen und der Milliarden des Bertelsmann-Konzerns gerade mal auf 36 Millionen Mark Umsatz gebracht. Nicht nur, dass Bertelsmann die Idee nicht hatte - sie haben es nicht mal geschafft, sie zu kopieren!

Und so entwickelte sich seit Zekris Artikel der Aktienkurs von Amazon (die rote Linie zeigt zum Vergleich den Dow Jones, die gelbe die New York Times).



Journalisten soll man antizyklisch lesen!

Nach dem Platzen der Blase hatte man aber auch glauben können, dass das mit dem Netz wieder vorübergeht. Als Suchmaschine nutzte man noch Metager. Die Vorteile Googles waren kaum bekannt. Formen wie das Blog oder die Wikipedia nicht mal ausgedacht. Das E-Book scheiterte in seiner ersten Version. Dann folgt auf den letzten Medienboom die jüngste Zeitungskrise.

Heute ist das Wehklagen groß. Google hat Millionen Bücher gescannt und ins Netz gestellt, und alle möglichen Akteure sind froh, wenn sie dem Konzern ab und zu ein Steinchen in den Weg legen können. Die Zeitungsverlage versuchen durch Leistungsschutzrechte ein paar Brosamen von den Milliarden abzubekommen, die die einst belachten Konzerne nun scheffeln. Sie kündigen Paywalls und Abomodelle an, an die sie selber nicht glauben. Atemlos sehen sie dem Kampf der Giganten Google, Apple, Amazon zu, in dem selbst Nokia und Microsoft wie Statisten wirken. Der Spiegel ist von 400 auf 150 Seiten geschrumpft, die Süddeutsche entlässt unauffällig Jahr für Jahr ein paar Journalisten mehr. Man engagiert sich ermüdete Pioniere wie Jaron Lanier und lässt sie Sätze schreiben wie "Noch nie hat jemand einen guten Rat für die sterbenden Zeitungen gehabt, aber man hält es immer noch für angemessen, ihnen die Schuld an ihrem eigenen Schicksal zu geben" oder "Unter dem Strich produzierte die Blogosphäre leeres Gerede, wie es in den heute hochgejubelten flachen und offenen Systemen eigentlich immer geschieht". Das Internet zermanscht das Hirn, sekundiert Frank Schirrmacher. Er will die Kontrolle zurückgewinnen. Aber die ist perdu. Die Revolution frisst ihre Kinder, ihre Väter und ihre Verächter.

In ihrer Bangigkeit stellen die Medienindustrien verständlicherweise zunächst die Frage nach der Zukunft ihrer selbst: Was wird aus dem Journalismus? Was wird aus dem Buch? Aber wer so fragt, macht bereits Voraussetzungen. Er nimmt an, dass sich diese überkommenen Formen von Geist - und damit die Macht der sie repräsentierenden Konzerne und Institutionen - in den neuen Aggregatzustand der Zeichen hinüberretten lassen. So einfach ist das nur nicht. Seit es das Netz gibt, ist für die Medien alles Netz. Eine Zeitung ist eine Internetdatei, die man druckt, ein Buch ist eine Website, die man bindet, eine Sendung ist ein Live-Stream, den man funkt. Die bisherigen Gegebenheiten werden dadurch zutiefst verändert. Grenzen verwischen, Genres vermischen sich, Autoritäten wanken, neue Akteure haben sich Produktionsmittel angeeignet. Die Frage der Bezahlschranke ist letztlich sekundär. Selbst wenn das Ipad kommt und damit die von Apple gewünschte gefälligere Ästhetik, die nach professionellerer Aufarbeitung verlangt, wird für die Medien immer klar sein, wer in diesem Spiel die Kasse hält: Steve, nicht Rupert.

Durch die Digitalisierung lösen sich die Zeichen von den Dingen. Der Roman braucht das Buch nicht mehr. Musik kommt ohne Platte aus. Vielleicht sollte man zunächst fragen, was sich mit diesen losgelösten, schwebenden, stets neu konfigurierbaren Zeichen alles machen lässt, um herauszufinden, was aus "dem Buch", "dem Journalismus" und am Ende vielleicht sogar "der Literatur" werden wird.

Die Zukunft ist ja längst angebrochen. Das Netz hat Formen von Text hervorgebracht, die ohne es nicht existieren könnten, zum Beispiel das Blog und das Wiki, also eine extrem individualistische und eine extrem kollektive Art des Schreibens. Diese Formen können Funktionen des Journalismus wie die der Kritik oder der Information übernehmen, ohne Journalismus zu sein. Wer nach der Zukunft des Journalismus fragt, ist also gezwungen über diese Formen des digitalen Schreibens nachzudenken, die ihn untergraben, vielleicht sogar ersetzen könnten.

Ein Beispiel: Während des Georgienkrieges vor zwei Jahren kursierten in den Medien und im Netz unterschiedliche Versionen des Geschehens, eine prorussische und eine progeorgische Version. Je nach Fraktion variierte zum Beispiel die Erzählung vom Ablauf der Kriegshandlungen. Wer hatte angefangen und wann? Welche Quellen sprachen für welche Informationen? Welche NGOs hatten sich wie geäußert? Wer in den Archiven der Presse und Sender oder bei Google recherchierte, fand allenfalls fragmentarische Informationen. Ein Bild von dem, was sich über den Konflikt sagen ließ, konnte man so nicht zusammensetzen.

Dieses Bild lieferte erst - und zwar schon in dem Moment des Konfliktes - die Wikipedia. Sie bot eine lexikalische Information in Echtzeit. Die Tatsache, dass sich auch in den betreffenden Artikeln der Wikipedia unterschiedliche Fraktionen stritten, zwang jede der Seiten, ihre Informationen durch Quellen zu belegen. Wer sich über die strittigen Fragen informieren wollte, konnte die Diskussionsseiten zu den Artikeln lesen.

Wikipedia-Artikel sind Texte, die atmen, wachsen und innerlich grollen. Sie haben sicherlich nicht immer in der Realität, aber der Möglichkeit und dem Anspruch nach, den gleichen Willen zu Wahrhaftigkeit und Aktualität wie Journalismus. Sie greifen journalistische Information auf. Aber sie sind kein Journalismus. So wie sie, schon wegen ihres Echtzeit- und stets offenen Charakters auch keine Artikel einer Enzyklopädie sind. Und doch haben sie sich an die Stelle der Enzyklopädien gesetzt.

Auch das Blog stellt journalistisches Selbstverständnis zutiefst in Frage - hierüber ist oft diskutiert worden. Wie radikal anders das Blog ist, zeigt der Vergleich mit einem ebenfalls extrem subjektiven Genre des Journalismus, der Kritik: Kritiker waren daran gewöhnt, das letzte Wort zu sprechen. Danach diskutierte allenfalls noch das Publikum im privaten Rahmen. Anders als bei jedem anderen Genre hatte das Objekt der Kritik stillzuhalten. Ein Blog wie Nachtkritik.de zeigt, dass sich diese richter- oder priesterähnliche Position in der Verwaltung der Kunstwahrheit nicht halten lässt: Hier können die Kritisierten zurückschlagen. So krude, unfertig, halb bedacht Blogbeiträge oft sein mögen - durch die Kommentarmöglichkeit und den Hyperlink ist ein Blog doch immer ein Dialog, mit den Lesern, mit anderen Blogs oder Medien, und mit den Kritisierten.

Für die Debatte gilt das gleiche. Am jüngsten Streit über den Islam könnten Medienwissenschaftler wunderbar die unterschiedlichen Argumentationsstrategien der unterschiedlichen Medien studieren. Verkürzt könnte man es so ausdrücken: In den Zeitungen redete man über die Gegner, im Netz redet man mit ihnen. Deutlich wurde es in den Artikeln, in denen sich Thomas Steinfeld (hier) oder Claudius Seidl nach der ersten Runde der Debatte gegen Kritik verteidigen, häufig ohne die Adressen der sie kritisierenden Artikel (etwa hier im Perlentaucher) anzugeben. Im Netz verlinkt man zu den Artikeln, auf die man antwortet, im Journalismus teilt man die Information über die Gegner in Portiönchen aus. Und auch wenn es an Journalismushochschulen als ungehörig gelehrt wird, verzichten Journalisten häufig auf die Nennung von Quellen. Darauf basierte ja ein Teil ihrer Macht, solange die Öffentlichkeit die Filter der Medien brauchte: Was sie nicht nannten, existierte eigentlich nicht. Das SZ-Feuilleton zum Beispiel ließ in der Islamdebatte keinen einzigen Beitrag zu, der Steinfeld widersprach. Keiner der von Steinfeld Attackierten durfte antworten. Es galt nur Steinfelds Version ihrer Ideen. Das ist das Pfäffische am klassischen Journalismus, der selbst entscheiden will, was die Schäfchen wissen dürfen. Die Leser der SZ kennen dadurch allerdings nur einen Ausschnitt aus der Debatte. Im Blog kann der Blogger natürlich kritische Kommentare entfernen, aber auf die Dauer macht das sein Blog steril. Es geht nicht ohne Diskussion.

Wenn die Zeitungen sich nun einfach weiter für Zahlschranken entscheiden (die ja bei er FAZ oder der SZ nie abgeschafft wurden), schneiden sie sich auch von Möglichkeiten ab, die Text bietet, und von Erwartungen, die legitimer Weise an Text gerichtet werden. Sie konservieren, für ein Weilchen, die alte Welt in der neuen. Der Zeitungsartikel ist hermetisch, der Blogbeitrag porös, die Kritik ist rund (oder spitz), der Blogbeitrag fragmentarisch.

Und das Buch war eine Insel!, rief Kevin Kelly in seinem klassischen New York Times-Essay "Scan this Book". Für Kelly werden Bücher durch die Digitalisierung gewissermaßen in eine Nährlösung gelegt. Aus Inseln werden Zellen. Die Bücher entwickeln Synapsen. Durch Links, Tags, Kommentare schaffen sie physische Verbindungen zueinander. Der unendliche Dialog ist nicht mehr nur Metapher. Jürgen Neffe hegt in einem Zeit-Artikel ähnliche Hoffnungen und setzt dabei auf die Urheber: "Den Autoren als Urhebern (und ihren Partnern, den Lesern) eröffnet die Ära des entleibten Buches ungekannte Dimensionen - falls sie tun, was Kulturschaffende immer getan haben, wenn sich ihnen neue Techniken und Entfaltungschancen bieten. Aus ihrer 'Feder' wird das Buch der Zukunft kommen, das über die Zukunft des Buches entscheidet."

Verlagen und Autoren steht die schwierigste, aber auch aufregendste Zeit seit Erfindung des Buchdrucks bevor. Ist ein Buch, das nicht in Gestalt eines Buchs erscheint, überhaupt ein Buch? Jürgen Neffe träumt von "undruckbaren Büchern", die nur in digitaler Form existieren können und neue Formen der Erzählung und Darstellung ausprobieren. Ist die Entscheidung eines heutigen Autors, einen Roman im klassischen Sinne zu schreiben, bereits so etwas wie die Entscheidung eines Oulipo-Autors, ein Gedicht ohne den Buchstaben "e" zu schreiben, eine willkürliche, selbstauferlegte Regel und geistige Askese? Wird das Genre des Romans außerhalb des Gegenstands zwischen Buchdeckeln überleben?

Das Buch verschwindet von seinen Rändern her, oder genauer: Es löst sich auf in den neuen Aggregatzustand der Zeichen wie Eisschollen im Klimawandel. Bestimmte Formen sind obsolet geworden: Die Wikipedia ersetzt den Brockhaus. Wozu noch Loseblattsammlungen? Reiseführer lassen sich in digitalisierter Form viel besser aktualisieren - und mit Leserkommentaren versehen. Naturwissenschaftliche Erkenntnis wird nicht mehr in Büchern verbreitet, sondern in Zeitschriftenartikeln - und diese Artikel sind in Wirklichkeit Dateien in Onlinedatenbanken, die man durch supermassive Bezahlschranken abschottet, sofern sie nicht open access sind. In den Geisteswissenschaften könnte eine ähnliche Entwicklung bevorstehen - der "Heidelberger Appell" war die Immunreaktion der traditionellen Akteure gegen das Kommende.

Nur das ans breite Publikum gerichtete Sachbuch und die Literatur stehen scheinbar unangefochten da. Jahr für Jahr werden neue Romane veröffentlicht, unsterbliche Meisterwerke darunter wie Roberto Bolanos "2666" oder David Foster Wallace' "Unendlicher Spaß". Nur wenige Schriftsteller scheinen sich für die neuen Formen von Text und Schreiben zu interessieren, die im Netz entstanden sind. Kaum einer führt ein Blog, wo er skizzieren und experimentieren und nebenbei auf neue Art mit seinem Publikum diskutieren könnte. Manche Autoren lassen sich mit ihrer Schreibmaschine filmen.

Aber auch der Roman ist nichts Ewiges. Er ist entstanden durch den Buchdruck und die Existenz eines breiteren Publikums, das lesen konnte. Damals galt er als das ganze Neue und Verdächtige. Seine Sprache war ungebunden - also lose. Anders als Versepen deklamierte man ihn nicht in Gesellschaft, sondern las ihn in seiner Kammer. Der Rahmen fehlte. Der Roman, das waren Bücher, die man "mit einer Hand" las. Pastoren und Professoren rieten besonders den Mädchen und Frauen ab. Das Autoerotische am Genre war zutiefst verdächtig, die entfesselte Imagination in einer Sprache, die sich durch ihren Prosacharakter selbst zum Verschwinden brachte. Wo ist der Halt, die Kontrolle? Der Roman zermanschte das Gehirn!

Hm, vielleicht sollte man das Genre mit den neuen Mitteln neu ausprobieren?

Thierry Chervel

Am 20. März diskutieren Daniela Seel (Kookbooks), Jürgen Neffe und Thierry Chervel
über die "Zukunft des Schreibens", moderiert von Susanne Führer, Deutschlandradio.

Datum: 20. März 2010
Uhrzeit: 11:30 - 12:30 Uhr
Ort: Sachbuchforum Halle 3, Halle 3, Stand E211

Das Deutschlandradio Kultur wird diese Diskussion aufzeichnen. Sendung der Diskussion in der "Werkstatt" am 16. Mai, 0.05 - 1.00 Uhr.