Efeu - Die Kulturrundschau
Immer mit einer Prise Geheimnis
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Literatur
Außerdem: Die SZ läutet ihre lose Reihe zum Kafka-Jahr mit einem Text des Schriftstellers und Juristen Bernhard Schlink ein, der angesichts der "großen juristischen Qualität" von Kafkas im Berufsleben abgefasster Texte nicht mehr glauben mag, dass der Prager Schriftsteller in seiner Anstellung nur einen lästigen Brotjob gesehen hat. Nikolaus Bernau wirft in der taz einen Blick auf den aktuellen Stand der Dinge in den Auseinandersetzungen um das Buddenbrookhaus in Lübeck. In den Romanen junger Schriftstellerinnen geht es wieder häufiger um Zweierbeziehungen, fällt Marie-Luise Goldmann in der WamS auf. Patrick Bahners liest für die FAZ die erste Ausgabe des neuen Literatur-Onlinemagazins Berlin Review, das sich in einem Schwerpunkt mit dem Nahostkonflikt beschäftigt. In der FR stellt sich Christian Thomas Bücher von Isaak Babel in seine ukrainische Bibliothek. 54books liefert den zweiten Teil von Isabella Caldarts literarischem Stadtführer durch New York (den ersten gab es 2021). Martin Winter verneigt sich in "Bilder und Zeiten" der FAZ vor dem chinesischen Dichter Nan Ren. Thomas David erzählt in "Bilder und Zeiten" der FAZ von seiner Begegnung mit dem Schriftsteller Aleksandar Hemon. Für die SZ hat sich Sonja Zekri mit Mely Kiyak getroffen, die mit "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" eben ein Buch über das Leben ihres Vaters geschrieben hat.
Besprochen werden unter anderem Timon Karl Kaleytas "Heilung" (taz), eine Neuausgabe von Peter Flamms "Ich?" aus dem Jahr 1926 (taz), Jonathan Lees "Joy" (FR), Alex Capus' "Das kleine Haus am Sonnenhang" (Standard), Michela Murgias "Drei Schalen" (FAS) und Joy Williams' Debütroman "In der Gnade" von 1973 (FAZ).
Kunst
Die türkische Malerin Melek Celal hat nicht viele Bilder gemalt, kann taz-Kritiker Ingo Arend im Sakıp Sabancı Müzesi in Istanbul beobachten, aber ihr Werk hat es in sich. Die "historischen Umbrüche" der Türkei spiegeln sich in ihm wider und vor allem der türkische Kampf für Frauenrechte. Celal malte, schrieb und entwarf immer im Sinne der Frauen und war 1935 die erste Künsterlin mit einer Solo-Ausstellung. Das ist natürlich, so Arend, auch ein politisches Zeichen in der heutigen Türkei: "Die Schau betont ihre 'hidden agenda' nicht demonstrativ. Auf die Präsentation eines ihrer zwanzig Aktbilder, die Melek Celâl in der Galatasary-Ausstellung des Jahres 1922 gezeigt hatte und mit denen sie zu einer der ersten türkischen Künstlerinnen aufstieg, die dieses Genre in ihrem Land ausstellten, verzichtet die Schau. Deren Botschaft teilt sich freilich auch ohne 'nudes' oder feministische Parolen klar genug mit. Mögen Celâls Lebenswerk und Kunst auch ein bourgeoises Exempel abgeben. In ihnen spiegelt sich eines der, wenn nicht das zentrale Emanzipationsversprechen der türkischen Republik und ihres Gründers, das in der Türkei des gegenwärtigen Präsidenten, nicht zuletzt nach dessen 2021 erfolgtem Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt, ausradiert zu werden droht."
Weiteres: Stefan Trinks schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Neoexpressionisten Karl Horst Hödicke. Der "Birkenau-Zyklus" von Gerhard Richter wird dauerhaft in der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz ausgestellt, berichtet Viktoria Grossmann in der SZ. Ann-Kathrin Nezik schildert ebenfalls in der SZ den juristischen Kampf der amerikanischen Künstlerin Karla Ortiz gegen das KI-Unternehmen Stability AI. In der FAS schreibt Katja Petrowskaja über die Fotografin Marta Syrko aus Lemberg, die in ihrer Foto-Serie "Skulpturen" Kriegsversehrte aus der Ukraine zeigt. Phillipp Meier nimmt für die NZZ die apokalyptischen Bilder des Malers John Martin unter die Lupe.
Besprochen werden die Valie Export-Retrospektive im C/O Berlin (FAS) und die Ausstellung "Sehnsuchtsblaue Ferne! Der Münchner Landschaftsmaler August Seidel (1820-1904) und Weggefährten" in der Städtischen Galerie Rosenheim (FAZ).
Film
Hanns-Georg Rodek hat derweil für die WamS einen Blick aufs Festivalprogramm geworfen und vermisst die ganz großen Highlights. Um einen neuen Scorsese zeigen zu können, muss das Festival mittlerweile mit dem Ehrenbär locken: Dies "illustriert die so hervorragende wie problematische Stellung der Berlinale. Sie genießt weltweit Respekt und Sympathie - aber kaum einer der heißerwarteten Filme landet bei ihr. 'Made in England' ist ein Nebenwerk (und er nur Co-Regisseur), der nächste 'echte' Scorsese, der historische Thriller 'The Wager', wieder mit Leonardo DiCaprio, dürfte anderswo Premiere feiern." Andreas Busche vom Tagesspiegel findet dennoch 25 Filme im Programm, auf die er sich freut. Nadine Lange stellt im Tagesspiegel queere Filme aus dem Berlinale-Programm vor.
Weiteres: In der FAZ empfiehlt Kira Kramer Martina Müllers unter anderem von Sandra Hüller gesprochene "Lange Nacht" des Dlf Kultur über Ernst Lubitsch. Martin Scholz spricht für die WamS mit der Schauspielerin Lily Gladstone, die sich ihrer Leistung in Martin Scorseses "Killer of the Flower Moon" (unsere Kritik) als erste Native American Hoffnungen auf einen Oscar machen kann. Kracauer-Stipendiat Leo Geisler bringt im Filmdienst die erste Lieferung seiner Essayreihe "Disziplin & Kontrolle" über die Wandlungen des Heist-Movies. Esthy Baumann-Rüdiger porträtiert in der NZZ die Schauspielerin Sandra Moser, die als erste Schwarze im Schweizer Fernsehen gespielt hat.
Besprochen werden Blitz Bazawules Neuverfilmung von Alice Walkers Roman "Die Farbe Lila" (Standard), Nikolaus Geyrhalters in Österreich startender Dokumentarfilm "Stillstand" über den Corona-Lockdown (Standard) und der ARD-Film "Boom", in dem die Schauspieler mit einer KI improvisieren (FAZ),
Bühne
Der Generalintendant des Theaters Erfurt, Guy Montavon,wurde nach Vorwürfen des Machtmissbrauchs beurlaubt. Endlich, ruft Peter Laudenbach in der SZ. Hinweise auf sein problematisches Verhalten gab es schon vor Jahren, meint Laudenbach, die Stadtverwaltung hätte Konsequenzen ziehen müssen. Aber ob Montavon wirklich gekündigt wird, ist immer noch nicht klar, so Laudenbach: "Da die Vorgänge im Theater zwar gegen alle Anstands- und Compliance-Regeln verstoßen, aber offenbar weder strafrechtlich noch arbeitsrechtlich relevant sind und vor einem Arbeitsgericht keine fristlose Kündigung rechtfertigen dürften, wollte sich die Stadtverwaltung mit Montavon auf einen Auflösungsvertrag und eine Abfindung verständigen. Der gleiche Stadtrat, der Montavons Vertrag vor zwei Jahren bis 2027 verlängert hat, war nicht bereit, ihm diese Abfindung zu bewilligen. Montavon ist also beurlaubt, aber nicht gekündigt. Wie es weitergeht: völlig offen. Finden sich nicht doch noch Beweise, die eine fristlose Kündigung rechtfertigen, wird die Stadt ihn wohl weiterbezahlen müssen."
Weitere Artikel: Jakob Hayner trifft für die WAMS die slowenische Theaterregisseurin Mateja Koležnik. Besprochen werden Heinz Kreidls Inszenierung von James Shermans "Der muss es sein" in der Frankfurter Komödie (FR).
Architektur
SZ-Kritiker Jörg Häntzschel beobachtete kopfschüttelnd, wie der Grundstein für das neue Museum "berlin modern" gelegt wurde. Die "Scheune", wie sie ursprünglich genannt wurde, ob der angeblichen Schlichtheit, wurde im Geheimen immer "fetter und fetter", seuft der Kritiker: "Als die SZ 2018 berichtete, dass intern mit Baukosten zwischen 400 und 600 Millionen Euro gerechnet wurde, tauchte Monika Grütters ab. Ein Jahr später musste sie zugeben, dass die Kosten auf 364 Millionen steigen würden, mit Risikozulage auf 450. Doch der Bundestag störte sich nicht daran, über den Tisch gezogen worden zu sein, und nickte ab." Es hätte mehrere Möglichkeiten gegeben, das Projekt zu stoppen, aber das Prestige war wohl wichtiger, meint der Kritiker. Immerhin hat man das Ganze zumindest ein bisschen klimafreundlicher gemacht, seufzt Häntzschel, aber für so ein Monsterprojekt reicht das nicht aus: "Wenn man schon überreichlich anämische Museen besitzt, dann sollte das neue wenigstens irgendeine Idee formulieren: von Berlin, von der Moderne, von der Kunst, von unserer Zeit. Doch die ist nicht zu erkennen. Was für aufregende Dinge könnte man mit den 450 Millionen in Berlins Museen machen. Jetzt kommt ein weiteres dazu, in dem das Geld wieder knapp sein wird."
Dirk Peitz weiß auf Zeit Online auch nach den Reden bei der Grundsteinlegung nicht, was "berlin modern" eigentlich für ein Museum werden soll: "Je länger man nun bei der Grundsteinlegung des berlin modern den Reden lauschte, desto weniger kam Kunst darin vor; je raumgreifender wurde die Idee beschworen, dieses neue Museum solle eine Art Begegnungsstätte und gar kein Raum in erster Linie für Kunstbetrachtung werden...Dort kann womöglich alles und nichts ausgestellt werden, konnte man da kurz denken, aber Biesenbach hat ja auch noch ein paar Jahre Zeit für die Programmplanung. Hauptsache, das Haus wird zum Publikumsmagneten..."
Auch FAZ-Kritiker Andreas Kilb schaut verdrießlich den Baggern zu. Auch über die Maßnahmen zum Klimaschutz freut er sich nicht so richtig. Claudia Roth erreichte, "dass das Dach, mit seinen transparenten Glasziegeln ursprünglich der ästhetische Stolz des Museums, mit Sonnenkollektoren versiegelt und auch die Fassade aus Energiespargründen weniger offen und einladend ausfallen wird. Die 'Scheune' ... wird also noch scheunenhafter werden, als Pessimisten befürchtet haben, und mit sechzehntausend Quadratmetern Gesamt- und neuntausend Quadratmetern Ausstellungsfläche größer als jedes andere Haus, das die Staatlichen Museen zu Berlin bespielen."
In der Berliner Zeitung schreibt Harry Nutt zur Grundsteinlegung. Im Tagesspiegel berichtet Nikola Kuhn. Tagesspiegel und BlZ verweisen auf Lucy Ravens Videoinstallation "Ready Mix" in der Neuen Nationalgalerie, die sich kritisch mit dem Projekt auseinandersetzt.
Musik
Außerdem: Nicholas Potter spricht für die taz mit Sascha Disselkamp von der Clubcomission Berlin über die politischen Konfliktlinien in der Berliner Clubszene seit dem 7. Oktober. Samir H. Köck spricht mit Ex-Kraftwerker Karl Bartos über dessen Neuvertonung von Robert Wienes Stummfilmklassiker "Das Cabinet des Dr. Caligari". Luzi Bernet berichtet in der NZZ vom Schlagerfestival in San Remo, das heute zu Ende geht. Im Tagesspiegel spricht Yuliia Valova mit dem ukrainischen Sänger Andriy Khvylnyuk. Für die WamS plaudert Gunnar Meinhardt mit Metal-Ikone Doro Paesch, die vor kurzem auch in Jan Müllers Podcast Reflektor zu Gast war. Nick Joyce und Jean-Martin Büttner haben für den Tages-Anzeiger den Yello-Musiker Boris Blank besucht, der gerade ein Soloalbum herausgebracht hat.
Besprochen werden diverse neue Jazzklavier-Alben (Standard), das neue Album von Usher (Standard), ein gemeinsames Klavier-Album von Michael Wollny und Joachim Kühn (Tsp) und das neue Album von Brittany Howard (Standard, Zeit Online).