Essay

Domenico Scarlatti - Der latente Zeitgenosse

Von Daniele Dell'Agli
20.07.2007. Horowitz liebte ihn, und der Cembalist Scott Ross ebenfalls. "Domenico Scarlatti does not belong" - nicht zu einem historischen Stil, einer Schule oder Tradition, nicht zu einer Epoche, nicht einmal zu einem Land. Genau hierin liegt seine Aktualität.
Wenn Jubiläen im Kulturbetrieb einen Sinn haben, dann am ehesten den, ein Werk der Tradition auf seine Aktualität zu überprüfen, also auf Elemente einer latenten Zeitgenossenschaft, die darauf warten, als solche von einer Epoche oder wenigstens einer günstigen Konstellation des Zeitgeists erkannt zu werden. Domenico Scarlattis 300. Geburtstag hatte 1985 einige neue Aspekte der Quellenforschung und der Interpretation zutage gefördert, von der Neuentdeckung eines lange verkannten Komponisten konnte nicht die Rede sein, selbst wenn einige ambitionierte Essays oder Analysen dies (wie in den Musik-Konzepten) nahe legen mochten. Dass es in der Zwischenzeit auch mehrere Anläufe gegeben hat, das Gesamtwerk der 555 Sonaten für Cembalo aufzunehmen, ist auch eher der digitalen Aufnahme- und Reproduktionstechnologie zu verdanken als einer kairologischen Einsicht in die Affinität dieser Klangwelt zur musikalischen Sensibilität unserer Tage. Vielleicht kann die erhöhte Aufmerksamkeit anlässlich des 250. Todestags jetzt - vor dem Hintergrund einer ungleich reichhaltigeren diskografischen Situation - anstoßen, was der überwiegend rituellen Betriebsamkeit vor zwei Jahrzehnten versagt geblieben ist.

Die Gründe für die langanhaltende Unterschätzung Domenico Scarlattis unterscheiden sich deutlich vom historischen Verfallsindex älterer Musik überhaupt und sie haben mit den Geheimnissen um seine Persönlichkeit ebenso zu tun wie mit den Provokationen seiner Musik. Vor dem 20. Jahrhundert hat kein anderer Komponist es gewagt, sich derart radikal von seinen kulturellen Traditionen abzuwenden wie Scarlatti. Er ignoriert schon bald, nach beachtlichen Talentproben, die damals modischen und erfolgversprechenden Gattungen der italienischen Oper und der Kammerkantate, kündigt 32-jährig das höchste kirchenmusikalische Amt Italiens - die Leitung der Cappella Giulia im Vatikan -, um 1720 nach Portugal auszuwandern und eine Stelle als Hofkapellmeister in Lissabon anzunehmen. Diese Tätigkeit gibt er ebenso wie die Kirchenmusik, die er in seiner römischen Zeit unter anderem bereits um ein bedeutendes Stabat Mater bereichert hatte, endgültig auf, als er im Gefolge seiner Klavierschülerin und designierten spanischen Königin Maria Barbara 1729 erst einige Jahre nach Sevilla und schließlich nach Madrid übersiedelt, um bis zu seinem Tode 1757 nur noch als Privatcembalist bei Hofe, aber abseits der Öffentlichkeit zu wirken. Von nun an sollte er ausschließlich Cembalosonaten komponieren - eine in dieser Konsequenz einzigartige Beschränkung des Repertoires, die eine ebenso einmalig luxurierende Entfaltung des Potenzials dieses Instruments zur Folge hatte. Zu keiner dieser für die Werkgenese bedeutsamen biografischen Entscheidungen, die von einer souveränen Verachtung aller nur denkbaren Konventionen des 18. Jahrhunderts zeugen, gibt es Dokumente - nur Gerüchte, Legenden, Mutmaßungen.

Desgleichen fehlen Autografen seiner Sonaten, die eine zuverlässige Chronologie erlauben, auch ist nicht gesichert, ob er bis zuletzt nur auf dem Cembalo gespielt oder bereits den Klang des Fortepiano oder der Cristofori-Flügel beim Komponieren im Ohr hatte. Für immer im Dunkeln werden die Orte und Gelegenheiten bleiben, an denen er die spanische Folklore kennenlernte, die das Schaffen der letzten drei Jahrzehnte maßgeblich beeinflusste. Man mag diese desolate Quellenlage kontingenten Faktoren wie dem Erdbeben von Lissabon zuschreiben, bei dem angeblich ein Großteil der Autografen vernichtet wurden, oder einer erst in unseren Tagen allmählich Kontur gewinnenden spanischen Musikwissenschaft, die ihre Archive noch erschließen muss; doch manifeste Rezeptionshindernisse sind immer auch Symptome einer misslungenen, unmöglichen oder gar vereitelten Kanonisierung eines unbequemen Werks.

So musste Scarlatti 200 Jahre auf seinen ersten Biografen und die erste verlässliche Ausgabe seiner Sonaten warten, und nicht zufällig wurde diese archäologische Meisterleistung von einem amerikanischen Stipendiaten in Europa, Ralph Kirkpatrick vollbracht. Ein halbes Jahrhundert später veröffentlichte der Cambridge-Professor W. Dean Sutcliffe 2003 die erste - in Deutschland bislang nicht zur Kenntnis genommene - Gesamtdarstellung des Sonatenwerks, die einen Wendepunkt in der Scarlatti-Rezeption markiert. Und wieder ist es kein Zufall, dass das unbeirrbare Interesse für diesen Komponisten aus dem angelsächsischen Raum kommt, wo bereits Hunderte von Veröffentlichungen seinen Rang bezeugen.

Bis heute ist die Scarlatti-Forschung in Italien hingegen eher dürftig zu nennen, die spanische ist noch gar nicht vorhanden. Die einen spielen seine Emigration samt Aufkündigung der Maniera zugunsten hispanisierender Modi herunter, um ihn wenigstens halbherzig als italienischen Komponisten reklamieren zu können; die Spanier finden es offenbar unvereinbar mit ihrem Stolz, dass ausgerechnet ein Ausländer als erster und exemplarisch jenes andalusische Idiom in die Kunstmusik integriert hat, das man spätestens seit Lorca getrost als klingendes Emblem spanischer Identität bezeichnen darf. Lapidar kommentiert Sutcliffe: "Domenico Scarlatti does not belong" - nicht zu einem historischen Stil, einer Schule oder Tradition, nicht zu einer Epoche, nicht einmal zu einem Land.

Scarlattis Sonderstellung glich schon zu Lebzeiten einem riskanten Balanceakt, der ihm wohl nur dank der Protektion der Königin nicht zum Verhängnis wurde: Zu einem Zeitpunkt, da am spanischen Hof die italienische Oper triumphierte und Elemente des internationalen barocken Stils die spanischen Regionaltraditionen verdrängten, griff just ein Italiener den melorhythmischen Reichtum der iberischen Folklore auf, um mit ihrer Hilfe Generalbass und barocken Sonatensatz zu sprengen. Barbara Zuber hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass dieser musikhistorische Affront mit einem nicht minder brisanten gesellschaftspolitischen einherging, handelte es sich bei der Folklore um die Musik der damals noch verfolgten Gitanos, der andalusischen Zigeuner, in der überdies noch Elemente der einstigen maurischen und jüdischen Musikkultur überlebten. Im Zentrum der sich allmählich abschwächenden Gegenreformation war so ein Werk von radikal heidnischer Diesseitigkeit entstanden, eine profane Kunstmusik, die sich an keiner Stelle des gigantischen Oeuvres zu Repräsentationszwecken herbeilässt, die nichts und niemanden feiert außer der schieren Freude an der Intensität des Daseins - selbst oder gerade in seinen abgründigsten Momenten.

Und die auch ethnomusikalisch erst im 20. Jahrhundert ihresgleichen findet: Kein anderer Komponist hat vor Bartok (der nicht zufällig eine Auswahl von Scarlatti-Sonaten ab 1907 in sein Konzertprogramm aufnahm) ein volksmusikalisches Idiom - ein in zahllose tänzerische und sangliche Charaktere aufgefächertes Idiom - derart genau registriert und sich stilistisch anverwandelt, geformt und gebändigt. Wie sonst nur in Ravels spanischen Stücken und bei Bartok erscheint das Folkloristische dank des Verzichts auf direkte Zitate in der kompositorischen und spieltechnischen Brechung gefiltert und zur Kenntlichkeit verwandelt.

Was darin an volksmusikalischen Rhythmen und Melodien "ursprünglich" anmutet, ist nichts als jene verblüffende Schlichtheit und Evidenz des Nichtgemachten, die kollektiv-musikalischen Schöpfungen eigen ist. Gerade, weil Scarlatti die spanischen Motive nirgends direkt zitiert, vermag er den Geist des Flamenco, lange bevor er sich in den uns heute bekannten Stereotypen verfestigte, als eines zeitlosen Fundus von Melodien und Rhythmen zu beschwören, dessen Magie sich wiederum als zeitloses Moment auf seine Musik überträgt.

Zu den mentalitätsgeschichtlichen Verfemungen kommen die Scheuklappen der Zunft als weiteres Rezeptionshindernis hinzu. Dass die beschriebene hochaktuelle Dimension der Musik Scarlattis bis heute fast durchweg verkannt oder unterschätzt wurde, hat Sutcliffe zufolge mit einem musikwissenschaftlichen Denken zu tun, das traditionell der Harmonik einen höheren Rang beimisst als dem Rhythmus, dem geistigen Nachvollzug größere Bedeutung als der physischen Ergriffenheit. Für Probleme der musikalischen Syntax - etwa Scarlattis exzessiven Gebrauch funktional sinnloser Wiederholungen oder seine eigenwillige Phrasierungskunst - gäbe es weder eine differenzierte Wahrnehmung noch eine entsprechende Begriffsbildung. Desgleichen dürfe sich eine "postmoderne Musikologie" die Analyse "freipolyphoner" Phänomene, wie sie bei Scarlatti unentwegt begegnen, künftig nicht länger von den Kriterien des strengen Kontrapunkts vorgeben, will sie flexibel genug sein, der unorthodoxen Logik eines "mixed style" auf die Spur zu kommen. Es geht darum, einen musikologischen Diskurs zu finden, der Scarlattis "militant kreativer Verachtung" der Regeln und Topoi, Gesetze und Konventionen des Generalbasszeitalters, aber auch der abgerichteten Affekte und einstudierten Gesten des Rokoko gerecht zu werden vermag.

In dem Bachtins Romantheorie entlehnten Begriff der "Heteroglossie" fasst Sutcliffe das Charakteristische von Scarlattis musikalischer Sprache zusammen - und führt durchgehend Merkmale auf, die wir seit der Postmoderne je nachdem als Crossover oder als Polystilistik bezeichnen. Nur dass bei Scarlatti mehr auf dem Spiel steht: es geht nicht nur um das kontrastierende Ausspielen barocker, galanter und "barbarischer" Elemente, nicht nur um den Kampf von kollektivem Idiom und individuellem Ausdrucksbedürfnis; sondern ebenso um die Ergänzung, ja Versöhnung von spanischen, italienischen und französischen Topoi, um die ins Werk gesetzte Verwandtschaft von neapoletanischen und andalusischen Elementen einer panmediterranen Musiksprache. Ferner um den ersten musikalischen Entwurf eines zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion, Kalkül und Spontaneität, Ironie und Pathos unentwegt, oft schon im Übergang von einer Phrase zur anderen modulierenden Subjekts. Und nicht zuletzt geht es um die suggestivste und eleganteste Überwindung der Kluft von Volksmusik und Kunstmusik vor den osteuropäischen Peripetien des 20. Jahrhunderts.

Doch das Sonatenwerk Domenico Scarlattis bietet nicht nur die erste große Schule des Crossovers und der Polystilistik, sondern auch ein unerschöpfliches Kompendium der Klavierkunst. Radikaler als seine Zeitgenossen Rameau, Händel oder Bach emanzipiert Scarlatti das Cembalospiel von der Orgelliteratur und vom Vokalstil; in der Freiheit seiner Stimmenführung ist er dem Mainstream der musikalischen Entwicklung um ein Jahrhundert voraus, wobei der Versuch, dem Cembalo einen Weg zwischen der strengen Orgelpolyphonie und der "Scheinpolyphonie" (Kirkpatrick) der Gitarre zu bahnen, ihn zu spieltechnischen Innovationen führte, die zum Teil erst auf dem modernen Konzertflügel ihren ganzen Resonanzreichtum entfalten. Seine am Klang orientierten, aus einer kontrollierten Improvisation heraus entstandenen Kompositionen dynamisieren die im Rahmen einsätziger, zweiteiliger Sonaten das Tastenspiel mit Sprüngen, Lagenwechseln, Handüberschlägen, Arpeggi und Glissandi auf eine Weise, die erst von Liszt wieder eingeholt wurde, während seine extremen Tempi mit vergleichbarer motorisch-tänzerischer Verve erst bei Bartok, Prokofiev oder Stravinsky wieder auftauchen. Auch versucht Scarlatti als erster, mit den Mitteln der Klaviatur die Klangfarben anderer Instrumente sowie außermusikalische Geräuschquellen zu evozieren.

Zu Recht gilt er als Erfinder des modernen Klavierspiels, was trotz der Pionierleistungen von Horowitz und Marcelle Meyer und früher Hinweise von Glenn Gould sich erst seit zwei Jahrzehnten auch unter Konzertpianisten herumzusprechen beginnt, die dieses umfangreichste Oeuvre der Klavierliteratur mehr und mehr auch als das unverbrauchteste zu entdecken beginnen.

Mit der Konjunktur pianistischer Aufnahmen der Scarlatti-Sonaten scheint sich die müßige Frage, ob die ursprünglich für das Cembalo komponierten Stücke überhaupt den Instrumentenwechsel vertragen, durch die Praxis von selbst zu erledigen. Dennoch sollte sie bei jeder Sonate aufs Neue diskutiert werden, da der im Vergleich zu Bach geringere Abstraktionsgrad von Scarlattis Musik diese empfindlicher auf unterschiedliche Klangfarbenregister reagieren lässt. Anders gesagt: die prägnanten gestischen, tänzerischen, auch atmosphärischen Figuren gewinnen oder verlieren an Bedeutung, je nachdem auf welchem Instrument gespielt wird. Viele der manifest spanischen Sonaten (das sind generell fast alle in Moll gehaltenen, aber auch etliche der in Dur beginnenden und in Moll übergehenden Stücke zwischen K 50 und K 300) klingen auf dem altertümlichen Cembalo kühner, härter, kompromissloser: weil sie zum einen dem metallischen Gitarrensound des Flamenco näher kommen, zum anderen eine Welt maschinell entfesselter Leidenschaften heraufbeschwören, die keine romantisierende oder sonst psychologisierende Nuancierung kennt. Das spielerisch Maskenhafte, aber auch verspielt Neapolitanische, das Frivole, Flirrende und Funkensprühende, das Horowitz unübertroffen hervorzuzaubern verstand, weicht bei Scott Ross dem düsteren Ernst viel älterer, noch kollektiv organisierter Affekte.

Man nehme nur den Anfang von K198 (L 22) in e-moll: während bei Horowitz das auf- und absteigende Kernmotiv zum Hoch und Tief innerer Zustände subjektiviert erscheint, bevor er leichthändig zu einem rasanten Flug durchs Labyrinth einer manisch-depressiven Sensibilität enteilt, eröffnet das schwerfällig scheppernde Cembalo mit einer demiurgischen, fast sachlichen Geste der rechten Hand, die von der linken taktversetzt übernommen und bestätigt wird, ein großräumiges Panorama: das also sind Berg und Tal. Eine Quartrotation, ein purzelnder Tetrachord und die anschließende Beschleunigung der Imitationsfiguren wirkt dann wie ein Heranzoomen von Einzelschicksalen und Ereignissen aus weiter Ferne. Oder K 98, wiederum in e-moll: bei Pogorelich kommt jeder Ton auf Samtpfoten federnd, selbst die repetitiven Sequenzen wirken getupft - nichts vom maschinellen Furor und der Unheimlichkeit martialischer Cembalosalven bei Scott Ross.

Den Cembalo-Synergien ist es vorbehalten, eine Intensität des Ausdruckslosen aufbauen, die das unpersönlich Rauschende und das festlich Rauschhafte beschwört, den tödlichen Ernst atavistischer Tradition mit dem Spieltrieb eines innovatorischen Genius synchronisiert. Selbst die Seufzer einer Arie klingen hier schnöde, wie von langer Hand gezupft und auf offener Bühne ausgestellt. Andererseits vermag nur das Klavier als Soloinstrument die Power und den koloristischen Reichtum eines volksmusikalischen Idioms einzufangen und dennoch als kompositorischen Personalstil zu vergegenwärtigen. Unter den Scarlatti-Interpreten am Konzertflügel ist es Christian Zacharias am überzeugendsten gelungen, die archaisierenden Modi und die tragischen Insistenzfiguren, aber auch ihre unerwartet heiteren Auflösungen, den intimen Lauten-Sound und das aristokratisch Grandiose, existenzielles Pathos und kokettes Achselzucken zu inszenieren. Zacharias lässt den Verdacht des oberflächlichen Virtuosentums, mit dem eine der Wiener Klassik verpflichtete Musikpublizistik gern Ausdrucksformen exuberanter Lebensbejahung herabwertet, gar nicht erst aufkommen.

Aus der Toccata K 519 in f-moll, einem jagenden Zigeunergalopp im Stil rumänischer Bartok-Tänze, holt er noch mahnende Mittelstimmen, nachdenkliche Blicke zurück heraus; das Mäandernde, Tastende, Zögernde von K 426 in g-moll gerät ihm zum romantischen Wechselbad von drängender Sehnsucht und schicksalhafter Resignation, wie er auch sonst in den langsamen Stücken eine Melodieführung und Motivbildung akzentuiert, die Schubert, Schumann und Chopin in genau dem Maße antizipiert, wie sie den Möglichkeiten des Cembalo voraus war.

Es bleibt demnach vor allem Sache des Klaviers, die durchgehenden Ambivalenzen des Scarlattischen Gestus als Vielstimmigkeit einer zerrissenen und aus dieser Zerrissenheit ihre Produktivkraft schöpfenden Persönlichkeit erklingen zu lassen, - in der ganzen abgründigen Nähe zur nomadisch-heimatlosen Crossover-Subjektivität des 21. Jahrhunderts. Das Werk Domenico Scarlattis musste, so scheint es, Klassik, Romantik und Moderne verschlafen, um in der Postmoderne zu einer ihm entsprechenden Zeitgenossenschaft zu erwachen.

Daniele Dell'Agli

Literaturhinweise:

Die deutsche Ausgabe von Ralph Kirkpatricks unentbehrlicher Biografie ist leider seit langem vergriffen und nur antiquarisch zu bekommen.

Barbara Zubers eindringlicher Essay "Wilde Blumen am Zaun der Klassik" findet sich im auch sonst sehr lesenswerten Heft 47 der Musik-Konzepte, das allein Domenico Scarlatti gewidmet ist.

Die große Studie von W. Dean Sutcliffe (mehr hier) "The Keyboard Sonatas of Domenico Scarlatti and Eighteenth-Century Musical Style", der man dringend eine Übersetzung wünscht, ist in der Cambridge University Press erschienen.


Empfehlenswerte Aufnahmen:

Die Cembaloaufnahme von Scott Ross (bei Warner) ist nicht nur deshalb unbedingt zu empfehlen, weil sie die einzige bislang vollständige und außerdem sehr preiswert zu haben ist, sondern weil sie durch ein konzeptuell luzides, nirgends manieriertes oder umgekehrt routiniert nachlassendes Spiel besticht, dem auch bei jeder einzelnen Sonate im Vergleich der Vorzug gebührt. Andreas Staier, dessen Einspielungen (Sony/BMG) hoch gelobt wurden, betont die virtuosen und ornamentalen Spielfiguren leider auf eine Weise, die die musikalische Textur auf bloße Oberflächenreize reduziert. Das ins Extrem getriebene Prestissimo d-moll K 517 etwa klingt bei ihm nach einer Player-Piano-Studie von Nancarrow, was immerhin den Vorzug hat, dessen entseelte Mechanik der Spieluhrenmusik des Rokoko anzunähern, wovon Scarlattis hochenergetische Treibjagd (unübertroffen hier die Klavieraufnahme von Zacharias) allerdings denkbar weit entfernt ist.

Unter den historischen Klavieraufnahmen seien neben den legendären Einspielungen von Horowitz (CBS) die der viel zu wenig bekannten Marcelle Meyer genannt, die etwa zeitgleich Mitte der fünfziger Jahre eine Auswahl von 32 Sonaten aufnahm, die bis heute hinsichtlich ihrer klaren, schnörkellosen, leidenschaftlich zupackenden Spielweise als vorbildlich gelten darf (von EMI 1994 wieder aufgelegt).

Aus dem mittlerweile fast unübersehbaren Reservoir von Klavieraufnahmen der letzten Jahrzehnte seien hervorgehoben die Einspielungen von
- Anne Queffelec, die auf den Spuren Marcelle Meyers einen gleichsam durch den späten Ravel und durch Dutilleux gehärteten, kristallinen Scarlatti vorstellt (Erato 1994/Warner 2002);
- Alexis Weissenberg, der mit durchgehend forcierter Dynamik, gehämmerten Tanzrhythmen und atemberaubenden Tempi die Stücke seiner Auswahl fragwürdig, aber mitreißend dramatisiert (Polydor 1985);
- Ivo Pogorelich, dessen Aufnahme aufgrund einer auffällig verhaltenen, introvertierten Artikulation und angesichts vieler Überschneidungen mit der Auswahl Weissenbergs als direkte Kritik an diesem verstanden werden kann (DG 1992);
- Christian Zacharias, der in drei Anläufen (1991 und 1995 bei EMI und 2003 bei MDG) insgesamt 63 Sonaten aufgenommen und das bislang kompletteste, differenzierteste Klangbild Scarlattis entworfen hat.
- Michail Pletnev, der durch eine launig überstrapazierte Kontrasttechnik das polystilistisch Zusammengesetzte vieler Sonaten herausarbeitet, dabei allerdings selbst Meditationen über die Vergänglichkeit ins ironisch Uneigentliche auflöst und insofern als Antipode von Zacharias organisch-integrativem Scarlatti-Spiel gelten kann (Virgin Classics).

Auch beim Stabat Mater ist die Bandbreite der Interpretationen enorm. Am bekanntesten ist die spröde, aber auch steife, den zehnstimmigen Palestrina-Satz betonende des Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini (Opus 111); diametral entgegengesetzt ist die spätbarock beschwingte, die Trauer immer wieder in Heiterkeit auflösende Aufnahme vom Choir der Christ Church Cathedral unter Francis Grier (Hyperion), die schon deutlich auf das berühmte Stabat Mater Pergolesis vorausweist.

Bei den Notenausgaben der Sonaten sollte man stets darauf achten, dass Sie der von Kirkpatrick erstellten Edition folgen. Die einzige in diesem Sinne vollständige und zuverlässige Gesamtausgabe von Kenneth Gilbert (Mitte der siebziger Jahre bei Heugel in Paris erschienen) ist leider nur noch in Teilbänden und schwer zu bekommen. Die von John Sankey als Zip-Datei ins Netz gestellte Teilausgabe (K 1-170) ist hingegen aufgrund seiner glättenden Eingriffe in den Notentext nicht zu empfehlen.