Heute in den Feuilletons

Jenes 'Lawinengefühl', wie ich es nennen möchte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2010. "Dass jeder Satz und jeder Dialog durchatmet und durchströmt wird von der Inspiration einer großen Schöpferin": Durs Grünbeins feierliche Verteidigung der Helene Hegemann steht in der FAZ. In der NZZ gesteht Volker Braun, wie ihn die Schweiz zum Schreiben brachte. Für Gabriele Goettle erzählt der ehemalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl aus seinem Leben. Im Blog der New York Review of Books erinnert Charles Simic an den Dichter Heimrad Bäcker. BoingBoing rätselt über das Phänomen der singenden Hunde.

NZZ, 23.02.2010

Sieglinde Geisel hat den Schriftsteller Volker Braun besucht und erfährt von ihm, dass er als Kind glaubte, die Schweiz sei größer als Deutschland, weil es dort nach dem Krieg mehr zu essen gab. Doch die Schweiz bedeutet ihm noch mehr, lesen wir: "Auf dem Bauernhof im Simmental, wo er ein Vierteljahr verbrachte, lernte er eine Frau kennen, die ihm die Geschichte von Wilhelm Tell und von dem deutschen Schriftsteller erzählte, der darüber ein Theaterstück geschrieben hatte. Zu Hause in Dresden habe er sich hinter Schillers Werke gemacht und mit elf Jahren eine Jägeroper in Blankversen verfasst - ein erster Schreibimpuls."

Weitere Artikel: Peter Bürger diagnostiziert eine Lust an Zerstörung, die Banker und Mittelschicht miteinander verbindet. Ronald D. Gerste berichtet von den Plänen für den Bau einer George Washington Bibliothek auf Mount Vernon. Einen Überblick über die Tessiner Medienlandschaft gibt Omar Gisler. Und ras. denkt über die neue Lust am Landleben nach.

Besprochen werden die Ausstellung "L'art et ses marches" im Genfer Musee d'art et d'histoire, die Aufführung von Johannes Kalitzkes Oper "Die Bessesenen " in Wien und Bücher, nämlich Anne Webers Roman "Luft und Liebe" und ein Buch von Joachim Schummer über Nanotechnologie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 23.02.2010

Steve Jobs spielt sich in der cleanen Welt seiner schicken Endgeräte weiter als Oberzensor auf und verbietet alle Apps mit ansatzweise sexuellem Inhalt auf Iphone, Ipod und künftig auch Islate. In der New York Times begründet ein Apple-Sprecher diese Entscheidung. Jenna Wortham kommentiert: "Viele Software-Entwickler klagen seit langem über Apples rigide Politik und seine manchmal willkürlichen Entscheidungen für den App Store. Die jüngsten Maßnahmen, über die zuerst TechCrunch berichtete, werden sie kaum beruhigen."

FR, 23.02.2010

Arno Widmann besucht den Künstler und Pardon-Gründer Johannes Nikel zum Achtzigsten. In Times Mager begeistert sich Natalie Soondrum für den Enthusiasmus einiger Teenager in der Frankfurter Seurat-Ausstellung.

Besprochen werden die Aufführung von Nis-Momme Stockmanns neuem Stück - inszeniert von Annette Pullen - "Kein Schiff wird kommen" in Stuttgart ("dieses Stück nervt nicht", verspricht Peter Michalzik), Jan Bosses Inszenierung von Peter Lichts/Molieres "Der Geizige" am Berliner Maxim Gorki Theater, einige lokale Ereignisse und Bücher, darunter - im Aufmacher - Olivier Kas autobiografischer Comic "Warum ich Pater Pierre getötet habe" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 23.02.2010

Im Blog der NYRB erzählt Charles Simic von einem kleinen Päckchen, das er kürzlich erhalten hat. Darin war ein Buch des österreichischen Dichters Heimrad Bäcker (1925-2003). Die Gedichte entpuppten sich bei näherem Hinsehen als "excerpts from documents by Holocaust planners, perpetrators and victims (...) Bäcker doesn't invent anything. There is a full bibliography at the end of the volume. He edits a bit to isolate some bit of information and lets it stand alone, so that like a poem it may invite the reader to ponder a word or an image until its full meaning unfolds in all its horror." (Mehr zu Bäcker hier, hier und hier. Und hier vier kurze Gedichte)

Ein rätselhaftes Phänomen betrifft Hunderte von Hunden, berichtet Xeni Jardin in BoingBoing: Immer wann man die Titelmelodie der Fernsehserie "Law and Order" spielt, singen sie mit. Und weil wir hier im Netz sind, nicht im Print, kann diese Behauptung belegt werden. Hier ein Beispiel:



Dutzende weiterer Beispiele auf dieser Seite:


Welt, 23.02.2010

Im Aufmacher resümiert Dankwart Guratzsch Streitigkeiten um den Bau der Kirche St. Trinitatis in Leipzig (Bilder), des größten Kirchenneubaus nach der Wende, dessen Entwurf durch die Architekten Schulz & Schulz nicht auf die Gegenliebe der im Internet diskutierenden Schäfchen stößt. Eckhard Fuhr mokiert sich in der Leitglosse über das zur Zeit gut aufgestellte Verb "Nachlegen". Angesichts zahlreicher in Wäldern spielender und zivilisationskritischer Berlinale-Filme diagnostiziert Hanns-Georg Rodek in einer Nachbetrachtung zum Festival "eine Wiederbelebung des alten deutschen Seelenbündnisses mit dem Osten". Hannes Stein geht im Schwulenviertel Castro von San Francisco spazieren, das erste Tendenzen der Musealisierung aufweist. Hannes Stein geht auch in den Suburbs von New York spazieren, wo er wider Erwarten kaum auf Spuren der Immobilienkrise stößt. Michael Loesl unterhielt sich mit Peter Gabriel über ein neues Album. Uta Baier liest eine Studie der Kunsthistorikerin Birgit Schwarz über "Hitlers Geniewahn". Und Thomas Hahn skizziert die aktuellen Probleme der französischen Kulturpolitik zwischen Größenwahn und Sparzwang.

Besprochen wird Jan Bosses Inszenierung von Peter Lichts postmoderner Bearbeitung des Moliere-Stücks "Der Geizige" am Berliner Gorki-Theater.

TAZ, 23.02.2010

Für Gabriele Goettles monatliche Reportage (Gott sei dank, letzter Dienstag im Monat, Februar bald vorbei!) erzählt der ehemalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl aus seinem Leben. Unter anderem erinnert er sich seiner Zeit als Staatssekretär unter Superminister Schiller: "An meinem ersten Arbeitstag gab Schiller den Wechselkurs der D-Mark frei, damit war die Bundesbank von ihrer Interventionsverpflichtung gegenüber dem Dollar befreit, was sie unbedingt wollte. Das war 1971. Grund war der Dollar, der immer schwächer wurde. Ja, ganz richtig, der Grund für die Schwäche des Dollars war der Vietnamkrieg, genau!"

In tazzwei erzählt Ilka Kreutzträger, dass Island zur Zeit - unterstützt von der investigativen Seite Wikileaks - die internet- und pressefreundlichsten Gesetze der Welt erlässt: "Nun werden sich Medienunternehmen, Menschenrechtsgruppen, Archive, Provider, Rechenzentren, Blogs im Land ansiedeln bzw. registrieren und wieder Leben und Geld ins Land bringen, so die Hoffnung der Initiatoren."

Und Tom!

SZ, 23.02.2010

Hilal Sezgin erklärt, warum Multikulturalismus ihrer Ansicht nach auch nur eine Spielart des Pluralismus ist. Fritz Göttler verkündet die Bafta-Filmpreise. Reinhard J. Brembeck meldet neueste Gerüchte über die mögliche Nachfolge Christian Thielemanns als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker: Der in zwei Wochen 80 Jahre alt werdende Lorin Maazel könnte für drei Jahre als "Zwischenlösung" fungieren, damit die Philharmoniker Zeit haben, in Ruhe einen endgültigen Nachfolger zu suchen. Bernd Graff begeistert sich unter der Überschrift "Einer von uns" für die amerikanische Fernsehserie "Mad Man" und ihren Helden, den Werber und Koreakriegsveteran Don Draper. Wenig neues erfuhr Jörg Häntzschel bei der "German Conference at Harvard". Volker Breidecker berichtet über ein Symposium, auf dem Forschungsergebnisse zum Frankfurter Städel in der Zeit des Nationalsozialismus präsentiert wurden.

Besprochen werden eine große Caravaggio-Ausstellung zum 400. Geburtstag des Malers im Scuderie in Rom (man kann hier "ein Parcours durch sein Oeuvre" erleben, "wie er lange nicht mehr möglich sein wird", verspricht Kia Vahland, die sich dennoch gewünscht hätte, Caravaggio wäre neben Giorgione, Tizian, Raffael und Michelangelo gezeigt worden), ein Konzertzyklus mit Werken von Beethoven, Sibelius und Ligeti der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle und mit der Pianistin Mitsuko Uchida, eine CD des Tord Gustavsen Jazz-Ensembles, die Aufführungen von Nis-Momme Stockmanns (kommt aus Föhr und ist "der neueste Stern am Dramatikerhimmel", so Christine Dössel) Stück "Kein Schiff wird kommen" und Ibsens "Volksfeind" am Schauspiel Stuttgart und Bücher, darunter Simon Sebag Montefiores Beschreibung einer kaiserlichen Affäre zwischen Katharina der Großen und Fürst Potemkin (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 23.02.2010

Wes Herz der Liebe zur jungen Literatur voll ist, des Zunge quillt oder schwillt oder, na ja. Hier die Hymne des Dichters Durs Grünbein auf Helene Hegemanns ersten Roman: "Dass von ihm jene erregende Sicherheit ausgeht, dass sich etwas Notwendiges und Neues unausweichlich auf einen zubewegt, jenes 'Lawinengefühl', wie ich es nennen möchte, das aufsteigt aus der großen amerikanischen Epik, sei es 'Fänger im Roggen' oder dem Montageroman der Beatniks. Ob dabei die Handlungsorte aus der Netzliteratur oder dem Nibelungenlied stammen, das tritt wohl ganz vor dem zurück, dass jeder Satz und jeder Dialog durchatmet und durchströmt wird von der Inspiration einer großen Schöpferin."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru berichtet, wie man in Dubai den Mördern des Hamas-Funktionärs Mahmud al Mabhuh auf die Spur zu kommen versucht. Patrick Bahners verfasst anlässlich der heutigen Verhandlung vor dem Bayerischen Gerichtshof ein historisch-juristisches Gutachten zur Frage, ob die Stadt München die Meiserstraße umbenennen darf oder nicht. In der Glosse widmet sich Edo Reents den Schneeschippfantasien des "demagogisch geschulten Politikers" Guido Westerwelle. Arvid Hansmann referiert eine Berlinale-Diskussion über Kinoarchitektur. Kurz, aber emphatisch ist der Nachruf auf den Kunsthistoriker Fritz Jacobs. Auf der Medienseite freut sich Michael Hanfeld über die mehr als deutlichen Worte des Ex-ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender über den stasiartigen Einfluss der Politik auf seinen ehemaligen Sender.

Besprochen werden ein Konzert der Band Vampire Weekend in Köln, ein Konzert des Orchesters der KlangVerwaltung unter Dirigent Enoch zu Guttenberg in Frankfurt, Jan Bosses Inszenierung von PeterLichts jugendsprachlicher "Geizigen"-Variation am Berliner Maxim-Gorki-Theater (Irene Bazinger bringt aus der Wortspielhölle die Auskunft mit, der Regisseur habe sich dabei "nicht gerade als großes Theaterlicht" erwiesen) sowie Benedict Andrews' nach Ansicht der Rezensentin viel gelungenere Inszenierung von Edward Bonds "Gerettet" an der Schaubühne, die Ausstellung "Randzeichnungen" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach, die Ausstellung "Macht zeigen" im Deutschen Historischen Museum Berlin und Bücher, darunter George Grosz' Selberlebenserzählungen "Ein kleines Ja und ein großes Nein" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).