Heute in den Feuilletons

Bin ich eitel?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2010. In der taz spricht der chinesische Journalist Michael Anti über Netz und Journalismus in China. Und der Literaturwissenschaflter Helmut Lethen erklärt, wie Ernst Jünger dem Arbeiter jegliche organische Substanz entzog. Überhaupt haben viele Feuilletons Berichterstatter nach Marbach zur großen Ernst-Jünger-Schau entsandt. Die FR staunt über ein luftiges und leichtes und 231 Meter hohes Wohnhaus in Bangkok. Die NZZ fragt, warum Banken in Kunst investieren. 

TAZ, 06.11.2010

Der chinesische Programmierer und Blogger und Journalist Michael Anti erzählt, wie rasant der Nobelpreis für seinen Freund Liu Xiaobo im Netz die Runde machte und erklärt, warum für die Printmedien nicht die Journalistenschulen, sondern das Netz zur Fundgrube für den Nachwuchs wurden: "Für die wachsenden Medien waren die Netizens eine bessere Nachwuchsquelle. Ihre Arbeit online überzeugte ihre zukünftigen Arbeitgeber, dass sie gute Reporter und Kommentatoren sein würden. Tausende von Internet-Identitäten tauchten in den Autorenzeilen auf. Diskussionen, die bisher nur auf Internetplattformen stattgefunden hatten, wurden zu Medienthemen. Seit dem Beginn dieses Trends wurden die chinesischen Medien 'internetisiert' und das Netz wurde zum freien Zweig der traditionellen Medien, nicht ihr Gegner, wie in den USA und Europa."

Aus Anlass der großen Ernst-Jünger-Ausstellung in Marbach unterhält sich Stephan Schlak mit dem Literaturwissenschaftler Helmut Lethen über die Schließung des Jüngerschen Kältepanzers - und die noch ganz anders geartete Haltung des Autors in seinen nun erstmals veröffentlichten Weltkriegstagebüchern. Lethen stellt fest: "In den Notizheften ist Ekel noch allgegenwärtig. Später wird Fernsinn regieren. In Jüngers Großessay über den Arbeiter schwitzt niemand mehr. Er ist geruchsfrei. Die Gestalt ist galvanisiert; ihr ist jede organische Substanz entzogen."

Weitere Artikel: Das sonntaz-Gespräch führt David Denk mit dem Sänger und Entertainer Rainald Grebe. Ulrich Gutmair würdigt das Video (Trailer) zu Oliver Polaks "Lasst uns alle Juden sein"-Song (Auszug: "Juden können besser einparken / Juden müssen sich die Zähne nie putzen / Juden dürfen sogar bei McDonald's, ohne was zu essen, das Klo benutzen.") In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne sieht Dorisk Akrap Frank Schirrmacher zwischen Marc Aurel und Sudoku. Abgedruckt wird ein Auszug aus Uwe Radas Buch über "Die Memel". Hermannus Pfeiffer spricht mit Sarah Zierul über ihr Buch "Der Kampf um die Tiefsee".

Besprochen werden Hans-Werner Kroesingers am Berliner HAU gezeigtes "Blackwater"-Stück, die Fernsehsendung "Entweder Broder" (in der, findet Cigdem Aykol, Henryk M. Broder neben Hamed Abdel-Samad zu alter Form aufläuft), die Laszlo-Moholy-Nagy-Ausstellung "Kunst des Lichts" im Berliner Gropius-Bau und Bücher, darunter Franka Potentes literarisches Debüt "Zehn" und Wolfgang Wippermanns Vorschlag zum "Denken statt denkmalen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 06.11.2010

Die Welt hat Claude Lanzmann ihren Literaturpreis verliehen und druckt heute Nike Wagners Laudatio auf Lanzmann und dessen Dankesrede: "Bin ich eitel? That is the question... Die Antwort ist 'nein'."

Weiteres: Ulrich Wickert interviewt Margarete Mitscherlich über Alter, Radikalität und Aggression. Besprochen werden unter anderem Malte Herwigs Handke-Biografie ("Es ist ein kluges Spiel der Fragen, zurückhaltend und von adäquater Sensibilität", schwärmt Paul Jandl) und Michael Hagners Fallstudie "Der Hauslehrer".

FR, 06.11.2010

Sandra Danicke würdigt das mit Frankfurts Internationalem Hochhauspreis ausgezeichnete Wohnhaus The Met in Bangkok: "Statt wie im Hochhausbau üblich einen kompakten Baukörper zu entwerfen, der sich der Welt da draußen wie ein Bollwerk entgegenstellt, haben die Architekten Wong Mun Summ und Richard Hassell ein luftiges Gebilde aus sechs Turmbauten in zwei versetzt zueinander liegen Reihen ersonnen, die in jedem fünften Geschoss durch Terrassen miteinander verbunden sind. So haben fast sämtliche Wohnungen an allen vier Seiten Fenster. Die Zwischenräume dienen als Windkanäle. Es sei, so erzählte Peter Cachola Schmal, Jurymitglied und Direktor des DAM, gar nicht nötig, eine Klimaanlage anzuschalten. Selbst Küchengerüche seien im Nu weggeweht."

Weitere Artikel: Den Niedergang und nach der geplanten Insolvenz möglichen Wiederaufstieg des ruhmreichen Hollywood-Studios MGM schildert Daniel Kothenschulte. Christian Schlüter sieht den Westen auf dem absteigenden Ast und findet die Meldung, der schnellste Supercomputer ("Milchstraße 1") stehe nunmehr in China, sehr bezeichnend. Harry Nutt gratuliert dem chilenischen Schriftsteller Antonio Skarmeta zum Siebzigsten.

Besprochen werden Crystal Pites Tanzabend "The You Show", Brahms' Requiem mit dem Windsbacher Knabenchor, Pierre Bourdieus Band "Algerische Skizzen" und Christian Lorenz Müllers Prosadebüt "Wilde Jagd" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 06.11.2010

Christian Saehrendt untersucht die Motive von Banken, sich mit Kunst zu schmücken. Gern wird sie zum Beispiel als Kommunikationsinstrument genutzt: "Bei der UBS bestand offenbar zeitweise das Problem, dass die oft recht jungen Anlageberater mit den solventen älteren Kunden keine gemeinsamen Gesprächsthemen fanden: Fußball, Golfen und Wetter waren zu banal, das Sprechen über das Thema Frauen war zu indiskret, aber jenes über Kunst, über von der Bank geförderte Ausstellungen oder über Werke in den Beratungsräumen konnte diese Lücke ausfüllen helfen."

Außerdem: Der Kunstkritiker Werner Spies plaudert im Interview über Paris, Beckett, Picasso und Max Ernst. Besprochen werden die gesammelten Erzählungen F. Scott Fitzgeralds und die neue Übersetzung der Tagebücher von Samuel Pepys (die Werner von Koppenfels gar nicht gut findet, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton resümiert Joachim Güntner das Tanz- und Theaterfestival Euro-Scene Leipzig. Die Basler Zeitung fordert zu einer Debatte über die Gestaltungsmacht von Herzog & de Meuron in Basel auf, berichtet Gabriele Detterer (mehr hier und hier). Der Papst wird am Sonntag in Barcelona die Sagrada Familia einweihen, meldet Brigitte Kramer, auch wenn sie erst 2030 fertig ist. Besprochen wird die große Gaugin-Ausstellung in der Londoner Tate Modern.

FAZ, 06.11.2010

Mark Siemons kommentiert widersprüchliche Verhaltensweisen der chinesischen Führung bei Ai Weiwei und Liu Xiaobo. Der Blogger Don Alphonso polemisiert ausführlich gegen einen Artikel von Jeff Jarvis, der sich über die deutschen Widerstände gegen Google Street View mokierte. Gemeldet wird, dass sich die BBC für die "irreführende und ungerechte" Behauptung entschuldigt, dass Gelder aus Bob Geldofs Stiftung Band Aid für Waffenkäufe genutzt worden seien (mehr hier).

Auf der Schallplatten-und-Phonoseite feiert Eleonore Büning den Bach-Sohn Wilhelm Friedemann, dessen Werke nun auf einer CD-Edition mit "atemraubenden Entdeckungen" gewürdigt werden. Außerdem geht's um John Legend und The Roots (hier) und E.T.A. Hoffmanns Singspiel "Liebe und Eifersucht". Auf der Medienseite empfiehlt Michael Hanfeld Henryk Broders und Hamed Abdel-Samads fünfteilige "Deutschland-Safari" die in der Sonntagnacht im Ersten beginnt. Und Detlef Borchers berichtet, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange in der Schweiz um politisches Asyl nachsuchen will (mehr hier und hier). Auf der letzten Seite schildert Mark Siemons die Tücken des Autofahrens in China.

Besprochen werden die Ausstellung "Ernst Jünger - Arbeiter am Abgrund" in Marbach, deren Dokumente die ganze Seite 1 des Feuilletons zieren, die Installation "Soma" des Künstlers Carsten Höller im Hamburger Bahnhof Berlin, in der aus reichlich esoterischen Gründen ein paar Rentiere grasen, ein Jubiläumskonzert Kurt Masurs mit dem Orchester der Komischen Oper, ein Konzert des Altrockers John Hiatt in Köln und Bücher, darunter Peter Handkes neues Buch "Immer noch Sturm" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Für Bilder und Zeiten trifft Hannes Hintermeier den britischen Bestseller-Autor Frederick Forsyth, dessen neuester Roman vom aussichtslosen Krieg gegen die Kokain-Mafia handelt. Andreas Platthaus erinnert an den Cartoonisten Gerhard Brinkmann. Katja Gelinsky erkundet das Verhältnis amerikanischer Juden deutscher Herkunft zu Deutschland, das sich nur langsam von der Erinnerung an die Nazizeit löst. Abgedruckt wird Anna Katharina Hahns Dankrede für die Verleihung des Heimito von Doderer-Literaturpreises. Irene Bazinger interviewt die transsexuelle Entertainerin Romy Haag.

Für die Frankfurter Anthologie liest Renate Schostack das Lied eines unbekannten Dichters aus der frühen Neuzeit:

"Innsbruck, ich muß dich lassen,
Ich fahr dahin mein Straßen,
In fremde Land dahin.
Mein Freud ist mir genommen,
Die ich nit weiß bekommen,
Wo ich im Elend bin.
(...)"

SZ, 06.11.2010

Volker Breidecker flaniert durch die große Ernst-Jünger-Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum, die von Käfern und Kriegern, von ständiger Selbstermahnung und dem Willen zur "Werkwerdung" erzählt. Und Jüngers Stahlhelm aus dem Ersten Weltkrieg fehlt auch nicht, so wenig wie ein Gegenstück: "In einer der vielen Seitenvitrinen ... ist das makabre, gleichfalls zerschossene Pendant zu Jüngers Stahlhelm zu sehen: ein britisches Modell, dessen Besitzer - von ebenbürtigem Offiziersrang - von Leutnant Jüngers schusssicherer Hand persönlich im Kampf getötet wurde. Beide Helme zierten das Arbeitszimmer des Schriftstellers, neben Tier- und Pflanzenpräparaten, einer Sammlung stattlicher Sanduhren und vielen anderen Objekten und Utensilien, die - zu bedeutungsschwangeren Assemblagen gruppiert - in der Marbacher Ausstellung ebenfalls zu sehen sind."

Henrik Bork erläutert, warum dem Künstler Ai Weiwei die angekündigte Ausrichtung einer "Flusskrebsparty" Hausarrest eingebracht hat: "Ich bin 'harmonisiert' worden, schreiben Chinas Aktivisten und Blogger, wenn wieder einmal eine ihrer Äußerungen im Internet von den Zensoren gestrichen oder eine ihrer Webseiten geschlossen worden ist. Das Wort Harmonie ist zum Synonym für Zensur geworden. Aber sie schreiben es meist mit dem Schriftzeichen für Flusskrebs, also wörtlich 'ich bin geflusskrebst worden', weil selbst das Wort Harmonie immer häufiger der Zensur zum Opfer fiel."

Weitere Artikel: Aus Athen kann Wolfgang Luef melden, dass die Vollendung der Akropolis-Restaurierung trotz Finanznot nun tatsächlich absehbar ist. Eske Bockelmann erklärt, was es heißt, Meister Eckart als Mystiker zu begreifen. Ein Plädoyer für die stärkere Anerkennung des Produzenten im Pop hält Jens-Christian Rabe. Vom Dreh zu Katharina Weingartners Dokumentarfilm "Sneaker Stories" über Basketballturniere auf der Straße berichtet Andrian Kreye. Laura Weissmüller gratuliert dem in Bangkok stehenden neuen, sehr energieeffizienten Wohn-Wolkenkratzer The Met (Bild) zum Internationalen Hochhauspreis. Camilo Jimenez gratuliert dem chilenischen Autor Antonio Skarmeta zum Siebzigsten. Auf der Medienseite blickt Christian Fuchs auf die "Parallelgesellschaft" Richtung Ostdeutschland orientierter Zeitschriften.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende plädiert Hilmar Klute für "einen neuen Hedonismus". Harald Hordych fällt im Münchner Edelrestaurant Tantris als Weinkenner glatt durch. Auf der Historienseite geht es um Byzanz und den Islam. Dirk Peitz unterhält sich mit Brian Eno nicht über Musik (weil dieser das strikt verweigert), sondern vor allem über die "Zukunft".

Besprochen werden Hans-Werner Kroesingers neues Stück "Blackwater" im Berliner HAU, Rodrigo Cortes' Thriller "Buried - Lebendig begraben" und Peter Careys neuer Roman "Parrot und Olivier in Amerika" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).