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Diskrete Techniken

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
30.08.2018. Ellen Korths neues Buchobjekt "The Fabric of Time" ist eine durch Fäden und Nähte zusammengehaltene, mehrere Blätter starke Schriftrolle aus transparentem japanischem Awagami-Papier. Auf den einzelnen Blättern - Blätter wie verwelkende Blüten -  befinden sich Fotografien von Einzelstücken historischer Unterwäsche.
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Als ich das neue Buchobjekt von Ellen Korth "The Fabric of Time" zur Hand nehme, erinnere ich mich an das erste Buch, das ich von ihr gesehen habe: "Utilité" handelt von vierzig Männern und Frauen, die Korth zu Hause besucht hat, und deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie leidenschaftlich gern stricken, häkeln oder weben. Doppelseiten, die man aufklappen kann, zeigen zuerst das Ergebnis der handwerklichen Tätigkeit - Schals, Stofffiguren, gestickte Gemälde -, und geben eine weitere Doppelseite preis, die die Menschen in ihrem häuslichen Umfeld sowie Schwarzweiß-Fotos der ihre Arbeit flink und geduldig verrichtenden Hände zeigen. Beigefügt ist die Fotografie einer handschriftlichen Selbstauskunft der HeimwerkerInnen.













Obwohl es mir im Grunde widerstrebt, von einem weiblichen Blick zu sprechen, weil es oft eine Verkürzung von etwas ungleich Komplexerem darstellt, kam mir genau das in den Sinn - und Passagen aus Büchern von Virginia Woolf, in denen sie Fächer, Sofabezüge und Kommoden in einer Form von mikroskopischer Poesie beschreibt, dass die Vorhänge in einem stillen Zimmer, in dem eine Frau sich kämmt oder sich aufs College vorbereitet, von Leben und Bedeutung aufgeladen sind wie ein dramatischer Sonnenuntergang, ein Duell oder eine heftige Liebesszene. Kein Mann kann den Inhalt eines Wäscheschranks oder die Beschaffenheit eines Schirms mit einer solchen Akribie einfangen wie Woolf - mir darüber klar zu werden, stellte eine Erweiterung meiner eigenen Wahrnehmung und meines Blicks auf die Welt dar, als Mann geradeso wie als Künstler.

Zwischen "Utilité" und "The Fabric of Time" gab es ein weiteres Buchprojekt, mit dessen Verwirklichung Korth ebenso Jahre zugebracht hat wie mit den beiden anderen: "Charkow". Das Buch ist eine Box, die aus sieben Booklets besteht, in denen Korth auf der Suche danach ist, was "Zuhause" für die unterschiedlichsten Menschen bedeutet, und wie sich das  - flüchtig wie ein Augenblick, vergänglich wie das menschliche Leben - fotografisch festhalten ließe. Jedes Booklet - und mit ihm ein wichtiger Teil des Lebens derjenigen, denen es sich widmet - erschließt sich wie ein Geschenk, bei dem man die Schleife und das Papier entfernen und die Schachtel öffnen muss, um zum Eigentlichen vorzudringen.

















Im Unterschied zum Geschenk gibt es dieses Eigentliche bei Korth jedoch nicht, da alles miteinander verwoben ist, und die äußerste Schicht wie bei einer Zwiebel denselben Anteil am Ganzen hat wie der Kern. Das schlagende Herz sowie die Klammer dieser Recherche darüber, wie und worin sich Menschen verorten, bildet die Lebensgeschichte von Korths Mutter, die während des Zweiten Weltkriegs aus der ukrainischen Stadt Charkow floh, und weder mit der Tochter je über ihre Vergangenheit gesprochen noch sonst irgendwelche Spuren hinterlassen hat - eine Leerstelle, die ihre Entsprechung darin findet, dass bis auf ein Jugendfoto der Mutter alle Seiten des ihr gewidmeten Booklets weiß geblieben sind.

In "The Fabric of Time" kommt schließlich alles zusammen, was Korth ausmacht: Ihre Wurzeln in der Bildenden Kunst, die sie zu Beginn kleine Kegel fabrizieren ließ, die sie in Installationen wie auf der "Expo 2000" in den Rasen eines Parks versenkte. Ihre Vorliebe für japanisches Kunsthandwerk und Haikus. Und die Geste der Recherche, die sie verblassendes, teils verschütt gegangenes Leben rekonstruieren und in eine adäquate Form verwandeln lässt.


















Das Buch, das wieder in Zusammenarbeit mit dem brillanten Designer Sybren Kuiper entstand, ist demzufolge eine durch Fäden und Nähte zusammengehaltene, mehrere Blätter starke Schriftrolle aus transparentem japanischem Awagami-Papier. Auf den einzelnen Blättern - Blätter wie verwelkende Blüten -  befinden sich Fotografien von Einzelstücken historischer Unterwäsche, die Korth im niederländischen Schloss Twickel in einem Wäscheschrank entdeckte. Man muss die Lebensgeschichte der Schlossherrin nicht kennen (etwa den frühen Todes ihres Mannes und die Tatsache, dass sie nicht wieder geheiratet hat), um über diesen papiernen Emanationen den abwesenden Körper der Frau und ihr verborgenes intimes Leben zu imaginieren, das sich in diesen Kleidungsstücken und vor allem innerhalb der Schlossmauern abspielte. Auf jedes Blatt  ist zusätzlich eine Zeile aus einem Liebesgedicht von Pablo Neruda geprägt, die es mehr zu ertasten als zu lesen gilt.

















Mit dieser Arbeit wird Korth endgültig zu einer Meisterin dessen, was man bezogen auf die Geschichte kreativer Frauen "diskrete Techniken" nennen könnte, die dem gesellschaftlichen Raum entlehnt sind, der Frauen zugestanden wurde - vom Briefroman "Princesse de Cleves" der Madame de la Fayette bis zu den Strickbildern von Rosemarie Trockel.

Peter Truschner

"The Fabric of Time", Buchobjekt von Ellen Korth. Die anderen Bilder zeigen weitere Buchobjekte Korths und ein Kleidungsstück aus "The Fabric of Time". ein weiteres wird im Teaserbild gezeigt.

Die Auflage ist auf 50 Stück begrenzt, kostet 375 EUR, und ist für jeden Sammler, der nicht gezwungen ist, jeden Pfennig umzudrehen, schlicht ein Must Have. Zu erwerben entweder direkt bei der Künstlerin oder über 25 Books in Berlin.