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Der scheinbar schwebende Teppich

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
20.03.2017. Die meisten Magnum-Bücher verfolgen einen dokumentarischen Ansatz, das versteht sich bei dieser Agentur von selbst. Aber die Magnum-Fotografen sind mehr als Journalisten, ja, mehr als Reporter. Das "Magnum Photobook" zeigt, welche Bedeutung das Buch für sie hatte und - was im Zeitalter der Digitalisierung das Erstaunlichste ist - hat.
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Erstaunlich, was für subtile Angelegenheiten Revolutionen sind. Aus dem Rückblick erscheinen sie als simpler Regimewechel. Live erlebt bestehen sie aus lauter Phasen, die einander in Frage stellen - Appell an König, Kopf ab, Directoire, Selbstkrönung des Kaisers, Krieg, Restauration. Aber natürlich, eine Restauration kann es nicht wirklich geben: Alle Fragen, die durch die Revolution aufgeworfen wurden, bleiben im Raum.

Das Fotobuch über Fotobücher ist inzwischen ein regelrechtes Genre. Es ist eine Art, die Geschichte in Fragmenten zu erzählen: Nicht die Geschichte der Fotoagentur Magnum, sondern die Geschichte der dokumentarischen, engagierten und journalistischen Fotografie in Zeitkapseln, von 1938 (als Magnum noch gar nicht gegründet war) bis jetzt. Mehr als ein Text scheint mir ein Fotobuch die Stimmung eines bestimmten historischen Moments wie unter Vakuumfolie weiterzutransportieren.

Als ich entdeckt habe, dass Inge Morath im Jahr 1958 ein Buch über den Iran gemacht hat, habe ich gleich gegoogelt und das Buch bestellt - da dieses Buch in den kanonischen Fotobüchern über Fotobücher nicht verzeichnet ist, kann man es noch zu humanen Preisen bekommen: Welche Fragen hat Morath in diesem historischen Moment gestellt? Lässt sich auf den Fotografien etwas über das kommende Dunkel, über das wir informiert sind und Morath nicht, erahnen?

Man liest die Bilder selbst in Kenntnis der Ereignisse: Der scheinbar schwebende Teppich auf dem Cover mag als ironische Reverenz an unseren Orientalismus gemeint gewesen sein - heute sehen wir ihn als Gebetsteppich. Übrigens hat Morath die Last der Religion gesehen, wie ihr Foto vom Vogel im Käfig vor den verschleierten Frauen sehr deutlich zeigt.

Es gibt von den Magnum-Fotografen eine ganze Menge solcher Expeditionen in die Fremde - China (Marc Riboud), die Sowjetunion (Burt Glinn), Deutschland nach dem Krieg (René Burri), die DDR (Thomas Höpker) - die man mit solchen Fragen abklopfen will. Eine Zeitblase ist jedes Fotobuch nicht nur mit dem, was es zeigt, sondern auch mit dem, was es übersieht, den Fragen, die man heute stellen würde und damals nicht mal streifte.


Burt Glinn, A Portrait of all the Russians, The Hogarth Press, London, 1967. Book photography by Ian Bavington Jones.

Die meisten der Magnum-Bücher verfolgen einen dokumentarischen Ansatz, das versteht sich bei dieser Agentur von selbst. Aber die Magnum-Fotografen sind mehr als Journalisten, ja, mehr als Reporter. Magnum wurde immerhin von Henri Cartier-Bresson mitbegründet, und natürlich ist sein Buch über den "Decisive moment" Teil der Kompilation: Seine Fotos zeigen meist nicht Ereignisse im journalistischen Sinn, sondern "Das Leben". All diese Bücher stellen die Frage, ob Fotografie mehr ist als Aufzeichnung des Gesehenen - "Spur", wie John Berger sagt (der so dogmatisch an diesem mechanischen Charakter von Fotografie festhält, dass er Studiofotografie und alles, was für die Kamera arrangiert wurde, in einem frühen Text verwirft).

Aber der "Decisive Moment" ist ja als Begriff schon eine Theorie über die Fotografie: Der Fotograf soll in dem Moment auslösen, in dem die Realität sich vor dem Auge seiner Kamera zum Bild konfiguriert, in dem sie nicht mehr nur sie selbst ist, sondern zum Symbol wird. Kaum ein ästhetischer Anspruch wurde in der Folge panischer bekämpft: Robert Frank, William Eggleston und Michael Schmidt beziehen Gegenpositionen. Manche theoretisieren gar über den "unentscheidenden Moment". Die große Melancholie von Egglestons Farbfotos (Eggleston gehörte nicht zu Magnum) lag in der Verweigerung einer entzifferbaren Geschichte, einer Verrätselung, die die Fotografie dann aber auch geeigneter machte für einen Kunstmarkt, der auf Aura, Originale und hohe Preise aus war.

Es gibt aber erstaunlich poetische Magnum-Fotografen. Etwa Sergio Larrain, dessen Buch über Valparaiso - allein der Klang des Namens dieser Stadt! - eine unspektukulär surrealistische Kraft hat, zu der allein Schwarzweiß-Fotografien fähig sind.


Doppelseite aus dem Buch, oben Seite über Ingemoraths Iran-Buch.

Es muss eine bergige Stadt sein, sehr oft fotografiert Larrain von oben nach unten, am berückendsten auf dem Foto mit den beiden hintereinander gehenden Mädchen, eines in der Sonne, eines im Schatten, die sich anschicken, eine der vielen Treppen der Stadt hinabzuschreiten. Schreiten muss man sagen, sie gehen kerzengerade, merklich langsam und gravitätisch. Es ist wie ein Traumbild, ein Dokument, das einem Psychoanalytiker vorzulegen wäre, auch wegen der totalen Abgewandtheit der beiden Mädchen.

Mich erinnern diese beiden Mädchen an Magrittes tiefsinnig betiteltes Gemälde "La Reproduction interdite", das einen sich spiegelnden Mann von hinten zeigt - aber im Spiegel verdoppelt sich die Rückenansicht! Beim Weiterspinnen der Assoziation scheint mir fast, als sei dieses Gemälde eine Reflexion der Malerei über technische Medien: An die Stelle unendlicher Wiederholung von Introspektion, die eine Eigenschaft der Malerei wäre, tritt eine sequenzielle Unendlichkeit, die etwa entsteht, wenn eine Kamera in einem Studio einen Monitor filmt.

Jedes Medium reflektiert jedenfalls immer auch das andere. Auch die Magnum-Fotobücher sind Reflexionen über Medien, denn Magnum war die Idee der berühmtesten Fotografen ihrer Zeit, sich gegen die Magazine und Zeitungen zusammenzuschließen und die Rechte für die Veröffentlichung nur noch herauszugeben, wenn sie nicht für eines dieser Medien exklusiv waren - so dass Life vielleicht das Erstveröffentlichungsrecht bekam, die Fotografen die Bilder dann aber auch an Stern und Paris Match verkaufen konnten. Die Bücher der Fotografen sind ein weiterer Schritt der Loslösung vom Aktualitäts- und Verwertungsdruck: Sie sind weniger Ereignis als Geschichte und sehr häufig sogar eher lyrisch als narrativ, eher impressionistisch als dokumentarisch.

Diese Bücher gehören natürlich den besten Beispielen des Genres. Die Gefahr des Ungefähren aber, die künstlerische Fotografie begleitet, ist auch hier schon zuweilen zu spüren. Die Frage "warum dieses Foto?" stellt sich immer in unheimlicherer Weise als die Frage "warum dieses Gemälde?", denn in Fotografie spielen Glück und Zufall eine ganz andere Rolle als in der Konstruktion eines Gemäldes.

Die Bücher sind ein Schritt auf dem Weg der Fotografen vom Handwerker zum Künstler und vom Dokumentaristen zum Autor. Fred Ritchin zeigt dabei in seinem Vorwort am Beispiel Cartier-Bressons, dass dieser Weg nicht unbedingt in künstlerische Verrätselung führen muss, sondern im Gegenteil vom Surrealismus zum Abbildlichen gehen kann. Er zitiert ein Interview mit Cartier-Bresson: "Ich hatte mich daran gewöhnt, das Foto um seiner selbst willen zu betrachten, wie man es mit einem Gedicht tut. Mit Magnum wurde die Notwendigkeit geboren, eine Geschichte zu erzählen. Capa sagte mir: 'Halte nicht an dem Label des surrealistischen Fotografen fest. Sei ein Fotojournalist. Sonst wirst du in Manierismen verfallen. Behalte den Surrealismus in deinem Herzen, mein Lieber. Erstarre nicht, bleibe in Bewegung.'" Die Kunst der Fotografie liegt eben auch im Verzicht auf Prätention und in der Erinnerung an ihre unkünstlerischen Ursprünge. Der in Kunstkreisen besserwisserisch wiederholte Satz, dass niemand mehr an die Indexikalität der Fotografie glaube, ist gerade ihr Tod.

Es war ja gerade umgekehrt. Fotografen haben ihr Leben riskiert um abzubilden: Capa ist nur das berühmteste Beispiel. Kriegsfotografie ist bis heute der Hexenkessel, in dem sich das Medium sozusagen beweist. Aber auch die jüngsten Bücher von Magnum-Fotografen reflektieren zugleich - und mit dem Krieg - den Medienwandel.

Michael Christopher Brown benutzte für "Libyan Sugar" sein Iphone. Mag sein, dass ihm die eigentliche Kamera geklaut worden war. Aber das Iphone ist nicht einfach ein Ersatz. "Mit 'Libyan Sugar' wollte Brown Fotografie nicht als Fotograf benutzen, der beruflich ein Ereignis aufzeichnet, sondern er wollte es als Bürger tun, der dieses Ereignis durchlebt. Darum benutzte er für seine Erfahrungen dasselbe Werkzeug, das auch die Libyer nutzten, das Smartphone, und er fotografierte nicht nur das Drama, sondern auch die ruhigen Momente zwischen den Ereignissen", heißt es auf der Seite zu dem Buch. Brown versetzte seine Fotos mit Tagebuchauszügen, E-Mails und Tweets.

Das Erstaunliche dabei aber ist, dass Brown nicht ein Instagram-Stream oder ein Blog als das geeignete Gefäß dieser Reflexion erschien, sondern das physische Buch. Die Objektivierung der Bilder auf dem Papier und die nicht mehr revidierbare Geschlossenheit der Form des Buchs katapultieren diese Zeitkapsel über den Medienwandel hinaus. Das Fotobuch ist nicht das Vinyl der Bilderproduktion, denn es ist nicht einfach nur eine obsolete, aus Nostalgie bewahrte Aufzeichnungstechnik. Es bleibt eine gültige Form.

Wie gesagt: Revolutionen haben ihre Phasen, die manchmal paradox erscheinen. Das Fotobuch erlebt durch das Internet sogar eine nie gekannte Blüte. Nicht nur weil eine eigene "Maker"-Szene jenseits der üblichen Verlage entstanden ist, und weil sich Fotografen über ihre Websites mit Sammlern vernetzen - ein gutes Beispiel ist hier etwa der deutsche Fotograf Christoh Bangert, der systematisch den direkten Kontakt mit seinem Publikum sucht -, sondern auch, weil Bücher selbst durch das Netz beeinflusst und geformt sind.

Browns "Libyan Sugar" ist ja gewissermaßen ein Blog als Buch, der physische  Abschluss einer zunächst rein digitalen Arbeit. Aber auch das Genre des Fotobuchs über das Fotobuch, wie dieses Exemplar über Magnum, ist gleichzeitig mit dem Netz entstanden. Einer der Fotografen, die hier figurieren, ist natürlich Martin Parr, Autor zahlreicher Fotobücher über sein hassgeliebtes Großbritannien und zugleich Sammler von Fotobüchern: Seine zusammen mit Gerry Badger unternommene grandiose dreibändige Geschichte des Fotobuchs hat das Fotobuch als künstlerisches Genre überhaupt erst ins allgemeine Bewusstsein gehoben und ist heute kanonisch.

Es ähnelt seiner Form nach dem Internet, jedem Buch eine Seite oder Doppelseite, ein Buch, in dem man surfen kann und das eine natürliche Verlängerung ins Netz hat, denn man sucht weitere Informationen im Netz und verliert sich in den köstlichen Weiten der Fotogeschichte.

So ein Buch ist auch das "Magnum Photobook". Gut hundert Bücher werden ausführlich vorgestellt. Aber alle jemals produzierten Fotobücher aller Magnum-Fotografen werden im Anhang aufgeführt. Ein "catalogue raisonné" und wirklich sehr nützliches Kompendium Und auch Martin Parr kommt vor, der sich in seiner eigenen Fotogeschichte natürlich ausspart.

Thierry Chervel

Magnum Photobook: The Catalogue Raisonne. The first complete illustrated bibliography of 1,000 iconic photobooks created by members of the renowned photo agency. Texts by Fred Ritchin and Carole Naggar, Phaidon Verlag, 290 x 214 mm, 272 pp, 1600 illustrations, ISBN: 9780714872117.Ca 50 Euro. (Bestellen bei buecher.de)