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Wahl der Mittel

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
24.02.2021. Andy Sewells neues Fotobuch "Known and Strange Things Pass" stellt gerade dem Kreativen anregende Fragen. Etwa:  würde ich eine Doppelseite, auf der sich schon zwei, drei Fotos befinden, mit einem solchen Rand auf der linken Seite versehen, der auf ein Foto auf einer ganz anderen Seite verweist?  Das ist das, was das intelligente, hübsche Buch für Profis und ambitionierte Laien interessant macht. Langfristig aber...
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Manche Bücher, Filme, Gemälde, sprechen nicht nur die Sinne und den Verstand auf eine unmittelbare Weise an, sondern verführen auch zu einem eindeutigen Urteil: großartig, belanglos, nett, außergewöhnlich, langweilig, zeitlos, sind Wörter, die bei ihrem Anblick oder ihrer Lektüre auf der Zunge liegen.

Selbstverständlich ist dieses Urteil ein subjektives, selbst wenn es dem gängigen Urteil der meisten KritikerInnen und anderen ZeitgenossInnen entspricht. Ebenso kann es vorkommen, dass ein Kunstwerk, das ExpertInnen als für eines der größten Gemälde aller Zeiten halten wie Velazquez' "Las Meninas" dem einen oder der anderen als allzu "geschickt" oder "gewollt" erscheint.

Um gleich bei Velazquez zu bleiben: Er gehört zu jener Kategorie von Malern, die man im Englischen als "a painter's painter" bezeichnet, sowie es auch "a writer's writer" gibt. Es handelt sich dabei um Leute, die grundsätzliche Fragestellungen und Probleme der Gattung in ihrer Arbeit thematisieren, damit jedoch nicht immer den ganz großen Erfolg gehabt haben wie Velazquez, der Manet, Picasso und Bacon beeinflusste, während etwa Chaim Soutine, der de Kooning, Lucian Freud und Cecily Brown inspirierte, bis heute eher Insidern bekannt ist.

In der Literatur sind das etwa Arbeiten von Gertrude Stein ("The Making of Americans") über William Gaddis ("JR")  bis Mark Z. Danielewski ("House of Leaves"), in denen Formen und Stilmittel eingesetzt werden, die das lineare, auf Einfühlung und Identifikation setzende Erzählen aufbrechen und dabei mit Wiederholungen, Pausen, Abbrüchen, wechselnden Erzählperspektiven, aber auch mit Zitaten, Kommentaren, essayistischen Einschüben oder fragmentarischer, direkter Rede arbeiten.

Genauso wie es Sinn macht, immer wieder zu den Klassikern zurückzukehren -  Tolstoi, Jane Austen, Goya, Hitchcock -, genauso macht es Sinn, sich mit solchen experimentellen Versuchen auseinanderzusetzen, auch wenn man sie selbst nicht für ergiebig hält oder sich nur für bestimmte Aspekte interessiert. Die Qualität solcher Arbeiten spielt dabei sogar eine untergeordnete Rolle - wichtiger ist, dass sie in der Wahl der Mittel und der Art der Konstruktion einen Anlass bieten, sich mit den eigenen Mittel und den eigenen Konstruktionen auseinanderzusetzen.

Einen solchen Anlass bietet das Fotobuch "Known and Strange Things Pass"(2020) von Andy Sewell (hier auf Vimeo). 1978 geboren, lebt und arbeitet Sewell in London. Für sein erstes Buch "The Heath" (2012), hat er jahrelang fotografische Exkursionen in einem weitläufigen Londoner Park unternommen, der über große Teiche verfügt, dichten, alten Waldbestand und eine Heide- und Sumpflandschaft. Ein Stück konservierter Wildnis, über das von Angestellte der Stiftung "English Heritage" sorgsam wachen. Das Buch wurde von Martin Parr umgehend gehyped und Teil seiner "Photobook History", so dass sich KuratorInnen und Medien rasch und nachhaltig um Sewells Arbeit versammelten.

© Andy Sewell, Skinnerboox





















In seinem neuen, inzwischen dritten Buch geht es nun vordergründig um das für das freie Auge unsichtbare Unterseekabel zwischen den USA und Großbritannien, dessen Glasfaserleitungen unvorstellbare Datenmengen transportieren und die Kommunikation im Internet ermöglichen. Sewell hat in der unmittelbaren und näheren Umgebung jener Orte fotografiert, an denen die Kabel aus dem Ozean auftauchen und ins Festland münden.

Natürlich geht es aber um viel mehr. Eugenie Shinkle hat das in einer Rezension für das 1000 Words Magazine gut zusammengefasst: "Das Buch handelt von der tiefen und komplexen Verflechtung von Technologie und Alltag. Es geht um die Unmittelbarkeit der Berührung und das alltägliche Wunder von Handlungen über große Entfernungen, die Durchlässigkeit der Grenzen, die die Dinge trennen und die Zerbrechlichkeit der Verbindungen, die sie zusammenhalten." Und Sewell selbst ergänzt: "Dinge, die in ganz unterschiedlichen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhängen existieren, vermischen sich auf einmal und koexistieren. Welten, die wir für getrennt hielten, fließen ineinander - das Nahe und das Ferne, das Internet und der Ozean, das Physische und das Virtuelle."

So weit so gut. Wer sich ausführlicher dafür interessiert, dem seien ein Interview des Magazins Der Greif und ein Gespräch auf American Suburb X empfohlen. Studierende können dabei zudem lernen, wie man jene Dinge sagt, bei denen JournalistInnen und KuratorInnen warm ums Herz wird. (Wobei die große und letztlich für alle lukrative Kunst darin besteht, ihnen das angenehme Gefühl zu geben, als habe man wichtige Aspekte der eigenen Arbeit oder ihren tieferen Sinn erst aus ihrem Mund erfahren.)

Sewell behandelt die Fotos im Buch nicht als Einzelbilder, sondern als Bestandteile eines großen Ganzen, das auf der einen Seite gleich bleibt, auf der anderen immer in Veränderung begriffen ist. Akzidentelle Phänomene im ewigen Fluss der Dinge, auf die Sewell oft nur durch einen Zufall stieß und deren Abfolge im Buch konsequenter Weise auch eine andere sein könnte.

Die Fotos sind einnehmend, zeigen Facetten des Meeres und Menschen darin, Strand, Krebse, Kabelkästen, glitzernde Wellen, weiße Gischt, eine Drohne, Fußabdrücke im Sand. Als wäre man selbst am Strand unterwegs und würde den Blick mal auf dieses, mal auf jenes richten, und am Ende selbst ins Wasser gehen.

Alles in allem ist das Material wie schon in "The Heath" einfach zu leicht(gewichtig), zu erfreulich, ohne größere Ambivalenzen oder Irritationen. (Teile von Hampstead Heath etwa gelten als Hotspot fürs sogenannte "Gay Cruising". Homosexuelle wurden dort bis weit in die Neunziger Jahre von der Polizei und von Reportern von Rupert Murdochs Drecksblatt News of the World förmlich gejagt. Keine Spur davon im Buch.) In diesem Sinn stellt es eher eine ungewöhnliche Variante dessen dar, was man heute ein "Coffee Table Book" nennt, dessen Parameter leider schleichend auf den Bereich des künstlerischen Buches übergreifen.

© Andy Sewell, Skinnerboox





















Um auf den Anfang des Textes zurückzukommen: "Known and Strange Things Pass" eignet sich gut als Anschauungsmaterial, um die eigenen künstlerischen Kriterien zu hinterfragen: Welche Bilder würde ich auswählen? Wie würde ich sie anordnen? Würde ich auch nur durchwegs "positive" Motive verwenden? Wie wäre es mit historischen Einschüben? Wie steht es mit den Wiederholungen, mit denen Sewell arbeitet, oder mit Bildern, die sich voneinander nur durch ein kleines Detail unterscheiden? Überhaupt das Design des Buches: Würde ich soviel weiße Fläche lassen, weiße Seiten, auf denen sich rechts nur ein mehr oder weniger schmaler Rand jenes Fotos befindet, das auf der nächsten Seite zur Gänze zu sehen ist? Und würde ich eine Doppelseite, auf der sich schon zwei, drei Fotos befinden, wiederum mit einem solchen Rand auf der linken Seite versehen beziehungsweise überfrachten, der auf ein Foto auf der vorhergehenden oder einer ganz anderen Seite verweist?

Das ist das, was das intelligente, hübsche Buch neben denen, die es einfach gerne durchblättern werden, für Profis und ambitionierte Laien interessant macht.
Langfristig würde ich mich aber dann doch eher mit Velazquez beschäftigen.

Die Berliner Galerie Robert Morat zeigt die gleichnamige Ausstellung ab 27. Mai.
Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de


Andy Sewell: Known and Strange Things Pass. 192 Seiten, 24 x 32 cm, Hardcover. Jesi/Italien 2020. 40 Euro. ISBN 978-88-94895-36-0