Fotolot

Tiefgründig, poetisch und berührend

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
23.12.2021. Wie haben es Lars Eidingers eher simple Fotografien in die Hamburger Kunsthalle geschafft? Nun, er ist nun mal ein "sehr aufmerksamer und sensibler" Beobachter. Er widmet sich der Fotografie "mit Hingabe" und bringt "uns dazu, genauer hinzuschauen". Ganz wie die alten Meister mit ihren Ölschinken, die sonst keiner gucken will.
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Wie im Sommer, als von den Atlas-Zedern des Luberon, von Antibes und Brigitte Bardot die Rede war, so gibt es auch diesmal um der in diesen Zeiten besonders nötigen Abwechslung willen ein flanierendes, launiges Fotolot, das lange nicht auf den Punkt kommen will.

Im Rahmen einer Veranstaltung der Salzburger Festspiele habe ich ein Heft in die Hand bekommen: die neunundsiebzigste Ausgabe des Münchener Magazins Art Salon. Die ersten Seiten gehören Rolex, Porsche, Cartier, Audi und - perfekt darauf abgestimmt  - Olafur Eliasson.

Ich kann die (zumindest einmalige) Lektüre dieses Magazins nur allen ans Herz legen - vor allem jenen gutgläubigen Naturen, die anhand der von den gängigen Medien willfährig kolportierten Selbstauskunft gewisser KuratorInnen und KünstlerInnen glauben, diese würden morgens ihre Augen zu #metoo öffnen und sie abends zu #blacklivesmatter wieder schließen - das Leben zwischen Hamburg Blankenese und München Grünwald als aktivistischer Dauerzustand.

Wie es wirklich zugeht, davon können sich alle überzeugen, die zu Magazinen wie Art Salon greifen. Wer das nicht kann oder aufgrund natürlich haltloser Vorurteile gegenüber den oberen Zehntausend nicht will, dem greift das Fotolot in dieser trotz Pandemie weihnachtlich beschwingten und glühweinseligen Ausgabe ein wenig unter die Arme.

Befördert von der "visionären Kraft des neuen Cupra Formentor E-Hybrid" machen wir zuerst Halt in Rom bei Alessandro, einem Sohn von Cy Twombly, mit dem man "perfekt stundenlang über die neue Ausstellung bei Gagosian sprechen könnte oder wie sich die Frick Collection in ihrem neuen Zuhause im New Yorker Breuer Building fühlt".

Nach dem heiteren und doch tiefsinnigen Geplauder über das Gefühlsleben der Frick Collection machen wir einen kurzen Abstecher nach Bassano di Teverina, wo Cy Twombly einen Palast aus dem siebzehnten Jahrhundert erwarb, "um arbeiten zu können", und wo man von der Dachterrasse aus einen "360 Grad Blick über das Latium hat".

Danach geht's zurück nach Rom, "außerhalb der Aurelianischen Stadtmauern" in die "imposante, in zartes Rosa getauchte Villa Polissena mit ihrem traumhaften Privatpark" zu Prinzessin Malfalda von Hessen und dem Designer Rolf Sachs, wo es in der Küche nicht nur Espresso, sondern auch Fotos von Hilla Becher, Candida Höfer und Thomas Ruff zu sehen gibt. Zudem stehen "im ersten Wohnzimmer zwei 'Favela Chairs' der brasilianischen Campana-Brüder".

Nach der wichtigen Hintergrundinfo, dass "die Familie von Savoyen ab 1861 die Könige in Italien stellte" und Prinzessin Malfaldas Großvater "ein Urenkel von keiner geringeren als Queen Victoria" war, müssen wir das so sympathische wie kultivierte Paar auch schon wieder verlassen.

© Lars Eidinger, Hatje Cantz



In wilder Fahrt ziehen erlesene Dinge an uns vorüber: "Must Have - Schuhe von Amina Muaddi. Die neue Peekaboo-Tasche aus geflochtenem Nappaleder mit handgefertigten Steppnähten, am besten zu tragen im Sommer auf Cap Ferrat. Eine Prism Bowl, bei der man sich fragt: Was legt man nun in solch eine luxuriöse Kristallschale? Ob Erdbeeren, Konfekt oder einfach Wattebällchen - der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Straw Honolulu - ein schicker Strohhut, wie ihn schon Vivien Leigh in "Vom Winde verweht" trug. Saint-Laurent hat jetzt einen stilvollen in der neuen Kollektion, der auch Vincent van Gogh gefallen hätte." Ergänzt wird dieses entzückende Bukett von Gustav Klimt, Hauser und Wirth, David Hockney, Herzog /de Meuron und Jackson Pollock.

Kurz vor dem Ziel verschnaufen wir noch einmal und frönen in einer "Reith Mountain Lodge" der "Art of Sublime Living", in der Marcel Eberharters Interior Design mit seiner "Leidenschaft für das Besondere und der Hingabe für Details" die Gäste zu bezaubern weiß.

Obwohl man weiß, was kommt, gleicht es einem jähen Erwachen, als man sie schließlich auf Seite 106 erblickt: die GröMaZ - die größte Mehrzweckwaffe des deutschen Kulturbetriebs, besser bekannt unter ihrem bürgerlichen Namen Lars Eidinger.

Der Mann, auf den sich alle einigen können wie einst auf Romy Schneider in den "Sissi"-Filmen.

Längst ist Eidinger mehr als das, was man früher einen "Charakterdarsteller" nannte. Er prägt durch sein intensives Spiel nicht nur Rollen wie den Hamlet. In der kunst- und innovationsfernen Wüste des deutschen Fernsehens kommt ihm die Aufgabe zu, drögen Formaten mit seinen Auftritten Frische zu verleihen. Etwa als Frauenmörder Kai Korthals in der Schnarch-Reihe "Tatort". In David Schalkos hanebüchenem Fiasko "M". In der besseren Friedrichstadtpalast-Revue "Babylon Berlin".

Manchmal kann auch Eidinger nichts ausrichten, etwa in der an seiner Wichtigtuerei förmlich erstickten ARD-Produktion "Gott" des im Fernsehen und am Stadttheater wie Brot unter die Armen verteilten Hobbyphilosophen Ferdinand von Schirach.

Wie Art Salon weiß, "springt Eidinger zwischen den Disziplinen der Kunst - einmal bekommt er Applaus für einen Film, dann steht er als DJ am Mischpult, dann frönt er seiner größten Freuden, der Fotografie". Mit dem per Smartphone aufgenommenen Fotos "verewigt er widersprüchliche Sujets und zeigt realistisch und unverfremdet, wie die Welt wirklich ist".

© Lars Eidinger, Hatje Cantz





















Bisschen schade, dass der Text gerade jenes Objekt unterschlägt, das Eidinger als Dauergast des Art Salons kenntlich macht: jene 550 Euro teure Ledertasche mit Aldi-Nord-Design, mit der Eidinger vor einer Obdachlosenunterkunft posierte. Die Empörung in den sozialen Medien war groß, Die Zeit war sich nicht sicher, ob sie Eidingers Attitüde nun dekadent, provokant oder einfach nur unbedarft finden soll.

Der Rauch hat sich jedoch bald verzogen, alle haben Eidinger wieder lieb - so lieb, dass seine Fotos nun in der Ausstellung "Klasse Gesellschaft" der Hamburger Kunsthalle Meisterwerken der niederländischen Malerei gegenüber gestellt werden.

Vor einem Jahr waren die Mitarbeiter der Berliner Kunstbuchhandlung Bücherbogen glücklich: auf Tischen und Stühlen stapelten sich die Exemplare von Eidingers im selben Jahr erschienen Fotobuch "Autistic Disco". Ich habe das Buch seither ab und an in Haushalten gesehen, die keine Affinität zur künstlerischen Fotografie aufweisen. Das Buch selbst jedoch ist schwer in Ordnung. Eidinger verfolgt mit einem guten Blick fürs Detail das Sujet der "lost places", "unconscious situations", "nowhere people" und "found still lives", wie es solcherlei spätestens seit William Eggleston in zahllosen Variationen gibt und wie es monatlich in Fotobüchern und Portfolios auftaucht. Schwarzes Graffiti auf grauer Hauswand. Eine Abstellkammer mit Putzmitteln und einem gehäuteten Tier. Eine Überwachungskamera in einem Käfig an der Decke. Ein in Plastik verpacktes Kruzifix. Ein Mann in kurzer Hose liegt im Gebüsch, sodass man nur seine nackten Beine sehen kann, aber nicht sein Gesicht.

Wie haben es Eidingers simple Bilder, deren Ästhetik gerade mal zum Tagesgeschäft der Fotografie gehört, in die Hamburger Kunsthalle geschafft?

Im Gespräch mit Art Salon nennt die Kuratorin Sandra Pisot Eidinger "sehr aufmerksam und sensibel". Er widmet sich der Fotografie "mit Hingabe" und bringt "uns dazu, genauer hinzuschauen - ohne anzuklagen und zu bewerten". Eidingers "Fotokunst" ist "tiefgründig, poetisch und berührend" und "vermittelt ein Gefühl des Verlorenseins in einer sich immer schneller verändernden Welt".

Pisot ist "verblüfft von der Aktualität der Alten Meister".
Nicht zuletzt Eidingers schier unglaublicher Beobachtungsgabe, die Pisot an Vermeer denken lässt, ist es zu verdanken, dass uns das Unvorstellbare völlig normal vorkommt: Schon im 17. Jahrhundert standen Menschen in einer Ecke, lagen auf einer Bank und befanden sich eine Schale Obst oder ein Glas Wein auf einem Tisch. Wahnsinn.

© Lars Eidinger, Hamburger Kunsthalle



















Im Grunde kann man Pisot nur vorwerfen, dass das Konzept allzu durchsichtig ist.

Sie muss eben wie andere in ähnlicher Position schauen, wie sie angesichts des allmählich aussterbenden Bildungsbürgertums die Leute dazu kriegt, sich solche Gemälde anzusehen - der Nachwuchs pfeift da nämlich großteils darauf, genauso wie aufs Stadttheater oder die Literatur. Das Fernsehen mit all seinen BeamtInnen und FunktionärInnen samt Renten zu finanzieren, dazu werden die Leute schon von Staats wegen gezwungen, mehr dürfte in dieser Hinsicht nicht drin sein.

Ein Mittel dagegen ist das Event - und die GröMaZ Eidinger ist definitiv eins.

Die Ausstellungseröffnung beschreibt die taz so: "Die zwei Dutzend BerichterstatterInnen sind nicht gekommen, um weitgereiste Leihgaben zu bestaunen. Nein, der eigentliche Star zeigt sich gegen 11 Uhr: Lars Eidinger ist da, das Haar strähnig wie neulich im Frankfurter-Schule-"Tatort", schluffiges Outfit, für das ihn Karl Lagerfeld gescholten hätte; leuchtend rote Fingernägel."  Die Gemälde der Ausstellung nennt der Rezensent "Ölschinken".

Schön wäre, wenn KuratorInnen einfach sagen könnten: Ich habe mir bewusst Star Quality ins Haus geholt, damit irgendjemand sich die Ölschinken ansieht. Aber dazu sind die Deutschen in diesen Dingen (noch) zu verschämt und kulturkonservativ. Mal sehen, ob sich das mit der "Generation Tik Tok" ändert. Zudem wussten schon die alten Schinken Chateaubriand und Schopenhauer: Wenn die Wahrheit offen zutage läge, wie nackt ausgestellt auf dem Marktplatz - alles bräche in sich zusammen.
 
Dass den werten LeserInnen das nicht passieren möge, sondern sie vielmehr wohlbehalten und gesund ins neue Jahr kommen, wünscht Fotolot.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de