Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.07.2004. Outlook India singt Bombays Chhatrapati Shivaji Terminus und seinem Erbauer Frederick William Stevens ein Ständchen. Die lateinamrikansichen Magazine streiten über Pablo Neruda. Der Spiegel erklärt, warum Wladimir Kaminers Kinder keine deutschen Staatsbürger sein dürfen. Die London Review wirft sich für ältere Sibirier in die Bresche. Im Nouvel Obs findet Alexandre Adler den "kulturellen Imperialismus" der Amerikaner schwächlich. Im Economist verteidigt Jack Straw die Europäische Verfassung. Das New York Times Magazine feiert die graphic novel als Literatur der Zukunft.
Outlook India (Indien), 19.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q15/A8243/outlook.jpg)
Weitere Artikel: Nach sieben Jahren im politischen Abseits sitzt das Reformwunderkind Palaniappan Chidambaram - in Indien: PC - wieder am Steuer der Wirtschaft und hat für seinen neuen Chef, Premierminister Manmohan Singh, einen Staatshaushalt erarbeitet, der wie durch ein Wunder sowohl die Industrie als auch die Linke zufrieden stellt. Paromita Shastri weiß mehr. (Mein Gott, könnten wir PC nicht abwerben?) Iraks Bürger saßen am 1. Juli vor dem Fernseher, um Saddam Husseins historischen Gerichtsauftritt zu verfolgen. Bereit für einen weiteren Schritt aus der kollektiven Vergangenheit hinaus, warteten sie darauf, was der Diktator zu seiner Verteidigung sagen würde. Doch der blieb - dank der Zensuranstrengungen der Amerikaner - stumm. Keine gute Idee, findet Mitch Potter. Pramila N. Phatarphekar freut sich über gleich fünf indische Nominierungen für die diesjährigen "Wildscreen Awards", auch bekannt als "grüner Oscar", und erhofft sich davon Aufmerksamkeit für die gefährdete indische Tierwelt. Rajinder Puri schreibt zum Tod Marlon Brandos. Schließlich das Comeback der Saison: der lange Rock. Kein Wunder, meint Shobita Dhar: Er ist vorteilhaft, tres chic und außerdem der perfekte Vermittler zwischen Tradition und Moderne.
Nur im Netz: "Entweder ist man zu schwarz oder nicht schwarz genug" - Samit Basu plaudert mit dem englischen Erfolgsautor Hari Kunzru über Identitätspolitik, neue nationale britische Mythen - diesmal die multikulturelle Sorte - und seine Nominierung für den Bad Sex Award. Eine Leseprobe aus Kunzrus Roman "Die Wandlungen des Pran Nath" finden Sie hier.)
Revista de Libros (Chile), 10.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q61/A8251/1207revista.gif)
Der Dichter wird auch in einer Vielzahl weiterer Artikel geehrt. Interessant zu lesen ist etwa wie der peruanische Literaturkritiker Julio Ortega begründet, warum der dieses Jahr erstmals verliehene Pablo-Neruda-Preis an den Mexikaner Jose Emilio Pacheco geht. Andere Beiträge beschäftigen sich mit mehreren der Biografien zu Neruda (hier und hier). Eine davon, "Las furias y las penas", ist übrigens in Deutschland entstanden: David Schidlowskzy hat mit ihr am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin promoviert und wird hierzu interviewt (auch die "Junge Welt" ist schon auf ihn gestoßen).
Reportajes (Chile), 11.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q46/A8252/1207report.gif)
Außerdem hat Reportajes Alfredo Bryce Echenique interviewt, der munter über Nicaraguas Ernesto Cardenal lästert. Der Autor des in Deutschland leider wenig beachteten "Eine Welt für Julius" und vieler anderer großartiger Bücher hat mal wieder geheiratet und schreibt derzeit an dem zweiten Band seiner Memoiren, der 2005 erscheinen soll. Zu guter Letzt gibt es noch Vargas Llosa im Doppelpack: Vater Mario freut sich darüber, dass aus der EU-Verfassung der Bezug auf das christliche Erbe verschwunden ist, was seiner Ansicht nach den Beitritt der Türkei erleichtern wird, während sich Sohn Alvaro Gedanken darüber macht, warum John Kerry in den USA John Edwards mit ins Boot geholt hat.
Spiegel (Deutschland), 12.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q13/A8244/spiegel.jpg)
Eine sehr schöne Reportage über Jugendliche im Iran liefert Susanne Koelbl. "Junge Iraner tun heute, was ihnen gefällt. Denn sie verfügen über eine Macht, die das rigide Mullah-Regime alt aussehen lässt: Sie sind so viele. Rund 50 Millionen Iraner sind unter 30 Jahre alt, über 70 Prozent der Bevölkerung." Doch: "Die Machtfrage stellt sich - noch - nicht. 'Sie sind stärker, durch ihre Gewalt', sagt die Studentin Venus, 26." Was das für eine 19-Jährige namens Assal bedeutet, erzählt Koelbl zu Beginn ihrer Reportage: "Assal heißt Honig, und so sieht sie aus, süß und verführerisch. Sie hat ihre schwarzen Augen auffällig mit Kajal umrahmt, der helle Lidschatten ist bis unter die hohen gemalten Bögen ihrer Brauen getupft, in der Unterlippe steckt ein glitzernder Piercing-Ring.(...) Assal zieht den heißen Rauch der Designerdroge 'Ice' ein, die sie 'high und leicht' macht. Es ist Donnerstagnacht, Partyzeit in Teheran. Doch auf Assals Rücken sind die Striemen noch nicht verheilt. Vor einigen Wochen hatte die 19-Jährige 74 Schläge mit der geflochtenen Lederpeitsche erhalten, im Keller des Teheraner Sittengerichts an der Bukarest-Straße."
Nur im Print gibt es einen kritischen Beitrag zur Reform des Hochschulstudiums und drei Interviews: Eines mit Joschka Fischer "über die Verantwortung der Weltgemeinschaft". Eines mit Griechenlands Premier Konstantinos Karamanlis "über die Fußball-Europameisterschaft und Athens Rolle in der EU". Und eines mit Bob Woodward über "die Vorgeschichte des amerikanischen Feldzugs und Bushs fehlende Selbstzweifel".
Der Titel ist dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gewidmet. In einem Interview dazu besteht der Historiker Stephan Malinowski darauf, beide Geschichten zu erzählen: die "Rolle von Grafen und Baronen beim Attentat auf Hitler" ebenso wie die "Begeisterung im deutschen Adel für den Nationalsozialismus".
Express (Frankreich), 08.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q16/A8246/express.jpg)
London Review of Books (UK), 08.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q10/A8248/lrb.jpg)
Irrtümer sind in der Wissenschaft nicht selten. Daher, erklärt Hugh Pennington, sind Widerrufe meistens - und zu recht - unspektakulär. Am Beispiel eines medizinischen Forschungsartikels jedoch, der in der renommierten Zeitschrift The Lancet veröffentlicht und später auf scheinheilige und selbstherrliche Art widerrufen wurde, zeigt Pennington, wie Götter in Weiß meinen, sich über den Ehrenkodex der wissenschaftlichen Forschung hinwegsetzen zu können.
Weitere Artikel: Der Text ist schlecht, die Bilder genial - Rebecca Solnit hat durch Sandow Birks Illustrationen von Dantes Inferno erkannt, was Los Angeles zur urbanen Hölle macht. Die zahllosen Marilyn-Monroe-Biografien (es soll etwa 600 davon geben!) lassen Andrew O'Hagan über die Bedeutungslosigkeit des Lebens im Vergleich zum Nachleben nachdenken. Und Peter Campbell spaziert nicht durch Gärten, sondern durch Bilder von Gärten (Art of the Garden).
Al Ahram Weekly (Ägypten), 08.07.2004
Der Filmkritiker Samir Farid diskutiert in einem nicht uninteressanten Beitrag die Greater Middle East Initiative der amerikanischen Regierung. Einerseits fürchtet er um die arabische Identität. "Bald werden wir im Großen Mittleren Osten leben, nicht in der Arabischen Welt. Und sie werden uns Mittelostler nennen, nicht mehr Araber", klagt er etwa. Anderseits wendet er sich gegen jede Form von islamischer Regierung: "Die USA scheinen bemüht, moderate islamische Regierungen nach dem türkischen Vorbild zu bilden. Doch wie lange werden die Moderaten moderat bleiben, wenn sie erst einmal an der Macht sind? Das interessiert niemanden. Wer würde wagen, eine Autorität herauszufordern, die von Gott rührt? Deshalb könnte dieses Schema die Demokratisierung und Säkularisierung im Mittleren Osten für Dekaden aufhalten, während die Region für Ausländer geschmeidiger und benutzerfreundlicher wird."
Guardian (UK), 10.07.2004
In der Kunstbeilage des Guardian legt Lucasta Miller ein ausführliches und lesenswertes Porträt über den Pianisten und Autor Charles Rosen vor, dessen Buch "The Classical Style" auch in Deutschland als Klassiker der Musikgeschichtsschreibung gilt. "Charles Rosens Fähigkeit, zwei getrennte, wenn auch verbundene Existenzen als Gelehrter und Musiker zu führen, macht ihn zu einer einzigartigen Erscheinung. Wenige andere Künstler - Alfred Brendel oder Dietrich Fischer-Dieskau gehören dazu - haben Anerkennung mit Büchern über Musik gefunden. Aber was Rosen in eine eigene Liga bringt, sind die Weite und Tiefe seiner Bildung, seine erfolgreiche Fähigkeit, Einzelanylsen mit einem weiten Überblick zu kombinieren, und die verführerischen, humanen Qualitäten seiner Prosa."
Espresso (Italien), 15.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q17/A8241/espresso.jpg)
Zehn Jahre nachdem der Tangentopli-Skandal (mehr) die Stadt erschüttert hat, erlebt die Schöne im Norden als New Mailand eine Renaissance, schwärmen Enrico Arosio und Claudio Lindner in ihrer Titelhymne. Neue Messe, neue Scala, die "Stadt der Mode" (mehr), hinzu kommt eine kulturelle Aufrüstung im großen Stil: "Die Lust an Entwicklung und Expansion ist zurück."
Im Gespräch mit Gigi Riva versucht der ehemalige oberste UNO-Waffeninspekteur im Irak Hans Blix das Ende der Inspektionen zu kritisieren, ohne die amerikanische Regierung zu hart anzugehen. Michele Serra stichelt über den Cavaliere, der wohl bald mit einem Kopfputz aus Papageienfedern als Inkakönig regieren wird. Monica Maggi plaudert ganz fasziniert von Untreue verhindernden High-Tech-Slips.
Nur im Print gibt es ein Gespräch mit dem schillernden Ahmed Chalabi, der Märchen von Massenvernichtungswaffen erzählte und der den einen deshalb nun als amerikanischer, den anderen als iranischer Spion gilt.
Nouvel Observateur (Frankreich), 08.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q9/A8247/nouvelobs.jpg)
Sehr schön liest sich auch das Interview mit dem Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie, der das Gebiet der Klima-Geschichtsforschung begründet hat und mit Fabien Gruhier über sein jüngstes Werk, die "Menschliche und vergleichende Geschichte des Klimas" ("Histoire humaine et comparee du climat"), spricht.
In einem dramatischen Plädoyer ruft der Sozialist und Ex-Premierminister Laurent Fabius dazu auf, die Kultur wieder ins Zentrum der Politik zu rücken. Denn Kultur sei schlichtweg lebenswichtig: "Ich habe mich im Umweltschutz engagiert, weil das Leben unseres Planeten bedroht ist. Tja, und das Gleiche gilt eben für die Kulturpolitik: Sie ist für das geistige Leben des Menschen so unentbehrlich wie es die Wälder für die Erneuerung seines Sauerstoffs sind."
Weiteres: Pascal Merigeau huldigt dem Marlon Brando von früher. Und Didier Eribon stellt Judith Butlers neues Buch über die Macht der Worte ("Le Pouvoir des mots. Politique du performatif") vor, die sich die Zivilgesellschaft zunutzen machen sollte.
Economist (UK), 09.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q14/A8245/economist.jpg)
Weitere Artikel: Im paradoxen Werdegang des kürzlich verstorbenen und umstrittenen russisch-orthodoxen Dissidenten-Priesters Dimitri Dudko erkennt der Economist das grundlegende Dilemma der Kirchen zwischen ihrem Kampf gegen den Atheismus und ihrer nostalgischen Befürwortung eines autoritären Regimes. Hat Großbritanniens Labour-Regierung das Geld der Steuerzahler gut angelegt? Ja, lautet gleich zweimal (hier und hier) die Antwort des Economist. Ein umfassender Artikel ist der Lage der Billig-Gesellschaften in den USA und Europa gewidmet.
Außerdem geht es um die neue Generation von Lügendetektoren, um Sicherheitsängste, die Filmbudgets in schwindelnde Höhen treiben, und um ein Dorf in Kanada, in dem Polygamie praktiziert wird.
Der Aufmacher ist nur in der Printausgabe zu lesen und dem Präsidentschaftskandidaten-Duo Kerry / Edwards gewidmet. Ebenfalls nur in der Printausgabe: Japans neue Außenpolitik, eine Attacke gegen Michael Moore und ein Buch über die Rolle der Königin im Schachspiel.
New York Times (USA), 11.07.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q12/A8242/nyt.jpg)
Respektlos, aber witzig ist Christopher Buckleys Stichwortverzeichnis zu Bill Clintons Biografieschmöker, von A wie "Angelou, Maya: liest fürchterliches Gedicht bei Clintons Vereidigung" bis zu "Frau, diese: siehe auch Monica Lewinsky".
Weitere Artikel: Eine intelligent präsentierte "Horde Bilder" die tausendfach belohnen, verspricht Thomas Hoving den Lesern von "Red Grooms", der "bisher beste" Band über den Zeichner, der New York "so perfekt einfängt, dass wir manchmal vergessen, Kunst zu betrachten und nicht die Stadt selbst" (hier einige Beispiele). Philip Caputo bedauert, dass Ex-General Tony Zinni seine Erinnerungen "Battle Ready" (erstes Kapitel) unbedingt mit der Hilfe von Tom Clancy schreiben musste. Als hervorragendes Buch über das Geschäft mit High End Restaurants und "erstaunlich lesbar" empfiehlt Adam Platt "Sirio", in dem Sirio Maccioni die Geschichte seines Esstempels "Le Cirque" erzählt.
In Hochform präsentiert sich das New York Times Magazine. In einer formidablen Titelgeschichte kündigt Charles McGrath die Graphic Novel als Literatur der Zukunft an. In der Herstellung verfahren Art Spiegelman (mehr) und Kollegen aber eher altmodisch. "In gewisser Hinsicht sind Graphic Novels fast ein primitives Medium und benötigen eine Menge Handarbeit: Zeichnen, Tuschieren, Einfärben und Beschriften, fast alles von Hand (auch wenn einige Künstler mit Computerzeichnen experimentieren). Es ist, als ob ein traditioneller Romancier seinen Ausdruck nehmen und ihn dann Wort für Wort kopieren müsste, wie ein federschwingender Mönch in einem mittelalterlichen Kloster. Für einige Zeichner sind vier oder fünf Bilder eine gute Tagesleistung, und sogar ein bescheiden bemessenes Buch kann Jahre brauchen, bis es fertig ist." In einem interaktiven Feature sprechen Heroen der Gattung schließlich selbst über ihre Arbeit.
Deborah Solomon wagt sich in die Höhle des Löwen und interviewt William F. Buckley, Konservativer und Gründer der honorablen National Review. "- NYT: Müssen Sie immer so clever sein? - W.F. Buckley: Mit der Alternative kenne ich mich nicht aus. - NYT: Und warum sind konservative Autoren grundsätzlich witziger als liberale? - W.F. Buckley: Da bin ich mir nicht sicher. Karl Marx war ein Knüller, hab ich gehört."
Weiteres: Robert S. Boynton schildert den Kampf zwischen dem "Guerilla-Dokumentarfilmer" Robert Greenwald und Fox News. Ersterer hat aus unveröffentlichtem Material und internen Memos ein Stück über den Murdoch-Sender gemacht, und hofft, mit einem Schnellstart dem Verbot seines Films zuvorzukommen. Peter Landesmann grübelt über die Unklarheiten und auch den Sinn des lang vorbereiteten Prozesses gegen Saddam Hussein. Und Ted Widmer freut sich über das überfällige Revival des amerikanischen Gründervaters Alexander Hamilton.