Vorgeblättert

Leseprobe zu Antje Ravic Strubel: Kältere Schichten der Luft. Teil 3

12.02.2007.
Ich war mit zwei jüngeren Brüdern groß geworden.
Ich hatte sie im Kinderwagen um die Ecken geschoben und auf die windigen Wäscheplätze hinter dem Haus. Ich hatte mit ihnen gebadet, auf Bäumen gesessen, unter Balkons Buden gebaut, und später hatte ich ihre Spiele unter der Decke gesehen, wir teilten uns ein Kinderzimmer zu dritt, ein Doppelstockbett und eine schmale Matratze. Ich konnte mir alles erlauben, sie erlaubten sich alles mit mir. Sie waren mir so vertraut wie ich selbst, so vorhersehbar. Durch ihre Nähe kam mir gar nichts anderes in den Sinn, als Frauen zu lieben.
     Es waren Frauen, die zögerlich waren, die nichts von mir wollten. Sie sagten mir anfangs, ich wäre zu jung. Sie sagten, sie könnten mir nicht vertrauen, sie lebten unter dem inneren Zwang, sich nicht festzulegen, oder sie hielten grundsätzlich nichts von Liebe. Ich lernte, hartnäckig zu sein, ohne mich zu erniedrigen. Nicht betteln, sondern provozieren, das war die Vorgehensweise. Und immer hielt ich Distanz, in der Distanz kam mir alles aufregend und gefährlich vor. Irgendwann willigten sie dann auf eine Weise ein, die ich kannte, eine Heftigkeit, der ich mich ziemlich schnell wieder entzog. Ich blieb allein. Und ich hörte es gern, wenn jemand sagte, daß das in meinem Alter in der heutigen Zeit ein normaler Zustand wäre.

Die anderen waren schon das dritte oder vierte Jahr im Camp. Einige hatten studiert und dann keinen Job gefunden, anderen war gekündigt worden, und alle waren froh über den Einsatz in Schweden, der ihnen über den Sommer half, auch wenn sie lächerlich wenig verdienten. Meistens kamen sie schon im Mai, um Schuppen und Boote zu reparieren oder neue Klohäuschen zu bauen. Jedes Jahr wurde irgend etwas besser. Anfangs waren sie noch in den See gegangen, um sich zu waschen, später gab es Duschanlagen, das Wasser wurde in langen Schläuchen aus dem See gepumpt. In diesem Jahr hatten sie ein Duschhaus für das Team mit Warmwasseranschluß gebaut. Es war ein ehemaliger Rummelwagen, der nicht mehr auf Rädern, sondern auf Holzpflöcken stand und mit Spinden, Spiegelschrank und Plastikduschwanne ausgestattet war. Vor dem winzigen Fenster hing eine hellblau geblümte Gardine.
     An diesem Vormittag kam Svenja herein, als ich unter der Dusche stand. Ich erkannte sie an ihrem festen, eiligen Schritt, an dem Quietschen der Gummisohlen.
Mit den Fingernägeln schlug sie gegen den Duschvorhang. "Und wie sieht?s aus? Sind ausreichend Paddel für alle Kids da?" Sie schob den Vorhang zurück, der Dampf hüllte sie ein. "Du machst ja hier vielleicht ?n Klima!"
     "Die Hälfte kannst du wegschmeißen. Die sehen aus, als hätte jemand sie ordentlich gegen die Felsen gehauen."
     "Wegschmeißen, bist du irre? Uwe tobt. Der denkt sowieso, wir würden ihm sein Material klauen, das ist kein Volkseigentum mehr, ihr Penner, da kann nicht auf einmal die Hälfte der Paddel fehlen!"
     "Die Holme sind gerissen, da ziehst du dir Splitter ein."
     "Bist du wieder vornehm! Du kannst sie doch mit Paketband umwickeln." Das Gerüst der Duschkabine wankte, ein Sonderangebot von 'Metro'; ich steckte den Plastikschlauch zurück in die Halterung.
     "Übrigens bin ich nicht mit Paketband umwickelt."
     "Ach." Svenja war blaß, überarbeitet. Sie sah mich von oben bis unten an und grinste, und mir fiel auf, wie versifft die Duschkabine war. Niemand hatte Lust, hier zu wischen. "Ich muß doch wissen, wie meine Angestellten gebaut sind."
     "Ich erinnere mich da an einen wortgewaltigen Typen in fleckigen Jeans, der mir in einem Berliner Büro die Rechte und Pflichten innerhalb der Gruppe anschaulich erörtert hat, damit ich die Voraussetzungen für ein beglückendes Gemeinschaftsleben fröhlich erfüllen kann", sagte ich. "Er hat mich die Freuden eines harmonischen Verhältnisses mit der Natur gelehrt, und wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist mit Natur vor allem die Gegend gemeint, nicht mein nackter Arsch. Aber mach dir nichts draus, ich habe es auch nicht sofort verstanden."
     Sie riß den Mund auf, schluckte, kam dann dicht an mich heran. "Paß bloß auf, Baby, sonst kannst du gleich Kartoffeln schälen, und zwar für hundert Leute! Gleich kommen die Busse, also mach ein bißchen hin." Sie klatschte mit der Hand an die Kabinenwand. "Hast du den Ball schon gesehen? Hat Marco wahrscheinlich aus Berlin mitgebracht. ?n schicker runder Fußball. Das ist doch was für dich, oder? ?n bißchen rumkicken." Sie lächelte mich unschuldig an. "Da seid ihr doch scharf drauf. Ihr Mädels. Ist das nicht genetisch?"
     "Paß bloß auf", sagte ich, "daß niemand mit dir rumkickt!"
     Wegen der Jugendlichen mußte das Duschhaus auch am Wochenende abgeschlossen sein, das Prinzip dieses Ferienlagers war Wildniserfahrung mit null Komfort. Ein Motto, das Uwe jedes Jahr Umsatzzuwachs verschaffte.
Die Busse kamen, während ich noch unter der Dusche stand. Es wurde still draußen, die anderen waren auf dem krummen, huckligen Weg, den sie durch das Wäldchen geschlagen hatten, zum Busparkplatz gelaufen, der abseits hinter den Zelten der Dauercamper lag. Ralf würde eine kurze Begrüßungsrede halten. Nach dem Mittagessen würden die Jugendlichen in kleinen Gruppen auf Abenteuertour hinaus auf die Seen fahren, und nur das Team bliebe im Camp zurück.
     Ich trocknete mich ab. Ich hörte Wind und Vogelgeräusche und das Summen des Durchlauferhitzers an der Wand. Sonnabendmittag, wenn die Busse kamen, war der einzige Moment, in dem der Ghettoblaster nicht lief.
     Meistens rückten drei Doppeldecker an. Sie schwankten hintereinander durch hochstehendes Gras, der Weg war brüchig, Himbeerbüsche streiften die Radkappen. Sie kreuzten das Feld, sie fuhren im Schrittempo mit Aufblendlicht. In dieser geregelten Landschaft, in dieser für Camper, Paddler, Fahrradtouristen und Wanderer auf natürlich getrimmten Gegend wirkten sie roh, wie Urtiere aus einer anderen Zeit, klotzig standen sie vor dem Wald und stanken.
     Als ich aus der Dusche kam, war das Camp leer. Über dem Grasplatz hing ein dünnes, grünliches Licht.
     Der Ball lag neben dem Grill im Schatten unter einem Ginster. Ich ging hinüber, er war prall gepumpt, nicht billig, das Leder war in festen Nähten zu Vierecken verschnürt, ich kickte ihn hoch; ich fand mein Leben, seit ich hier jobbte, ruhiger, vielleicht sogar interessant.
     Ich war raus aus Halberstadt, raus aus dem niederdrückenden Kneipen-Horizont, der aufgehellten Gotik und den paar grell übermalten Neubaublocks, raus aus den Doppelhaushälften und einer Antragsbürokratie, in der immer jemand fragte, was ich machte und wer ich war, raus aus dem ganzen Abriß. Und wer war ich denn schon: weggezogen von zu Hause, ein Fernstudium nicht abgeschlossen, als Beleuchterin an einer heruntergekommenen Bühne andere ins Licht gesetzt. Ich hatte ein paar Artikel geschrieben, ein paarmal im Lokalblatt den Mund aufgemacht, was wirkungslos geblieben war, jedenfalls waren die Glatzmänner, wie meine Brüder das nannten, danach nicht von den Straßen verschwunden.
     Meine Brüder waren an mir vorbeigezogen. Sie machten Vertreterjobs, der eine fuhr zusätzlich nachts Zeitungen aus. Ich beneidete sie nicht und wußte doch, daß meine Flucht in ihren Augen ein Versagen war.
     Ich mochte es hier. Ich mochte die Konzentration.
Die Ruhe, die über dem Grasplatz lag, in der ich keine Anstrengung spürte, obwohl ich arbeiten mußte und der Ton ruppig war.
     Ich mochte diesen Sommer in Schweden. Diese mit Holz- und Erdgerüchen aufgeladene Luft. Ich mochte den flach gestreckten Himmel, der entlang einer gezackten Linie auf den Baumspitzen am Wald auflag. Ich mochte die harschen, abrupten Schatten, in die man tauchte, wenn man eine der tannengesäumten Straßen nahm. Von fern wirkte der Asphalt wie rötlicher Samt.
Ich mochte die Stille über den Orten und die Gelassenheit.
Die Menschen schienen ausgeruht, als trieben sie selbstvergessen mit den Tagen dahin, und sie besaßen doch jene Aufmerksamkeit, die entstehen kann, wenn man großzügig etwas Kostbares verbraucht. Ende August war hier der Sommer vorbei. Bis zur Monatsmitte würde es abends noch länger hell sein als in Halberstadt. Es dunkelte dezent an den Rändern. Aber das täuschte niemanden über die bevorstehende, rapide Veränderung in den nächsten Wochen hinweg, über diesen Sturz der Nachmittage in die Nacht.
     Nur manchmal, wenn es so still wurde, daß das Licht sich an der Stille zu entzünden schien, war es, als ob ein Schwelbrand alles versengte. Es gab Bewußtlose in greller Sonne. Rote überhitzte Gesichter nach zuviel Bier. Schlaffe Körper auf Kinderspielplätzen. Zusammengesunkene vor Kiosks, im Park.
     Man pöbelte nicht. Es gab keine Gewalt. Die Menschen knickten lautlos weg. Sie strauchelten auf dem Heimweg, sie torkelten, sie schlugen hin, sie prallten gegen Lastwagen, sie fi elen vom Rad. Seltsame Unglücksfälle traten im Sommer häufi g auf; man hing im Elektrozaun, man fuhr sich ein Rasenmähermesser ins Bein, die Kette schnellte von einer Motorsäge und zerschlug ein Gesicht, immer wieder kippte jemand betrunken in den See und ertrank.
     Hier fing ich an, Halberstadt zu vergessen, die Glatzen, die frischverglasten Fassaden, die Arbeitsagentur. Die Stimmung, in der ich mich befand, hatte mit Gleichmut zu tun. Mit einer inneren Ruhe, die von außen vielleicht wie Langeweile aussah. Aber das war es nicht. Ich träumte nicht mehr von der Angst, nicht gut genug zu sein. Ich träumte jetzt wieder vom Fliegen, und ich wünschte, meine Brüder würden mich sehen.
     Hier vergaß ich das 'Vienna' und seine weißen Plastiktürgriffe und modern gezackten Lampen und das auf alt gemachte Ölbild an der Wand. Mit dem Ölbild verblaßte auch die Erinnerung an den exakten Pony, den V-Ausschnitt und das rosenbedruckte Shirt jener Frau, die mich nur traf, wenn sie gerade wieder von einem ihrer ständig wechselnden Männer verlassen worden war. Dann ließ sie mich allein in ihrer Küche sitzen und schlief nebenan, von Weinkrämpfen erschöpft, auf einem schmalen Ausklappbett. Später fl üchtete ich mich in One-Night- Stands. Ich fuhr nach Berlin. Aber jedesmal wurden die Frauen, die mir beim Tanzen so aufregend erschienen waren, schon auf dem Weg in die Wohnung zu Schemen, zu Platzhaltern in einem Programm, an dem ich jedes Interesse verlor. Sie waren schön, solange sie tanzten, solange es zwischen ihnen und mir einen Widerstand gab.
Mittlerweile war ich dreißig und beendete das Ganze jedesmal noch an der Bar.
     Hier fielen die Schatten lang. Hier vergaß ich auch die Panik, die entstanden war, als ich niemanden mehr hatte sagen hören, dieser Zustand wäre in meinem Alter normal.

Mit freundlicher Genehmigung des S.Fischer-Verlages
(copyright S.Fischer Verlag)

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