Vorgeblättert

Leseprobe zu Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Teil 1

04.08.2011.
27.

Die Tränen der Dinge



Viktor lebte mit meinen Großeltern, meinem Vater und Onkel in einem gemieteten Haus in einem Vorort von Tunbridge Wells, St. David?s. Ein im Fischgrätmuster gepflasterter Weg führte von einer hölzernen Gartentür zwischen Ligusterrabatten hinauf zu einer Veranda vor einem gedrungenen Giebelhaus. Es gab Rosenbeete und einen Gemüsegarten. Es war ein gewöhnliches Haus in einer gewöhnlichen Stadt in Kent, sechzig Kilometer südlich von London, sicher und ziemlich bieder.
     Sie gingen sonntags zum Frühgottesdienst in die Kirche King Charles the Martyr. Die Buben - acht und zehn Jahre alt − wurden in Schulen geschickt, wo man sie wegen ihres ausländischen Akzents nicht hänselte, der Direktor achtete streng darauf. Sie sammelten Granatsplitter und Uniformknöpfe und bastelten aus Pappe aufwendige Burgen und Boote. Am Wochenende gingen sie in den Buchenwäldern spazieren.
     Elisabeth, die nie in ihrem Leben gekocht hatte, lernte Mahlzeiten zuzubereiten. Ihre frühere Köchin, die nun in England lebte, schickte ihr seitenlange Briefe mit Rezepten für Salzburger Nockerl und Schnitzel und akribischen Anleitungen: "Die gnädige Frau kippt die Bratpfanne ein wenig ?"
     Um das Haushaltsgeld aufzubessern, unterrichtete Elisabeth Nachbarskinder in Latein; mit Übersetzungen verdiente sie genug, um den Buben Fahrräder kaufen zu können, jedes kostete acht Pfund. Sie versuchte wieder Gedichte zu schreiben, aber es ging nicht mehr. 1940 verfasste sie einen Essay über Sokrates und den Nazismus - drei enragierte Seiten - und schickte ihn ihrem Freund, dem Philosophen Eric Voegelin in Amerika. Sie setzte den Briefwechsel mit ihrer in alle Winde zerstreuten Familie fort. Gisela und Alfredo samt Kindern waren in Mexiko. Rudolf war immer noch in seiner Kleinstadt in Arkansas: Er schickte ihr einen Zeitungsausschnitt aus The Paragould Soliphone: "Rudolf Ephrussi, Baron Ephrussi, wie er in der Alten Welt geheißen hätte, ein großer, gut aussehender Junge, entlockt seinem Saxophon die neuesten Melodien." Pips und Olga waren in der Schweiz. Tante Gerty hatte aus der Tschechoslowakei flüchten können und lebte nun in London, aber es gab nach wie vor keine Nachrichten von Elisabeths Tante Eva und Onkel Jenö, die zuletzt in Kövecses gewesen waren.
     Henk, mein Großvater, pendelte mit dem Zug um acht Uhr achtzehn nach London; zu seinen Aufgaben gehörte es, den Verbleib der holländischen Handelsflotte und ihren geplanten Einsatzort nachzuverfolgen.
     Und Viktor saß auf einem Stuhl neben dem Küchenherd, der einzige Platz im Haus, wo es warm war. Jeden Tag verfolgte er in der Times die Nachrichten über den Krieg, an Donnerstagen las er die Kentish Gazette. Er las Ovid, besonders die "Tristia", die Gedichte aus dem Exil. Beim Lesen strich er sich mit der Hand über das Gesicht, damit die Kinder nicht sahen, welche Wirkung der Dichter auf ihn hatte. Er las beinahe den ganzen Tag über, außer wenn er seinen kurzen Spaziergang die Blatchingdon Road hinauf und zurück unternahm oder ein Schläfchen hielt. Gelegentlich ging er den ganzen Weg ins Stadtzentrum in Hall?s Antiquariat, wo der Buchhändler Mr. Pratley besonders freundlich zu Viktor war, während der die Bände von Galsworthy, Sinclair Lewis und H. G. Wells befühlte.
     Manchmal erzählte er den Buben, wenn sie aus der Schule heimkamen, von Aeneas und seiner Rückkehr nach Karthago. Dort sind an die Wände Szenen aus Troja gemalt. Erst dann, konfrontiert mit den Bildern dessen, was er verloren hat, kann Aeneas endlich weinen. "Sunt lacrimae rerum", sagt Aeneas. Es sind die Tränen der Dinge, liest Viktor dort am Küchentisch, während die Buben ihre Algebra-Aufgaben erledigen. "Ein Tag im Leben eines Bleistifts"; "Die Aufhebung der Klöster: Triumph oder Tragödie?"
     Viktor vermisste die flachen Zündhölzer, die man in Wien kaufen konnte, sie passten in seine Westentasche. Er vermisste seine kleinen Zigarren. Er trank seinen schwarzen Tee nach russischer Art aus dem Glas, mit Zucker. Einmal streute er die gesamte Wochenration für die Familie hinein und rührte um, während die anderen mit offenem Mund dasaßen.
     Im Februar 1944 taucht zur Freude aller Iggie in seiner amerikanischen Uniform in Tunbridge Wells auf; er ist Nachrichtenoffizier im Hauptquartier des 7. Korps. Das aus der Kindheit vertraute Hin- und Herwechseln zwischen Englisch, Französisch und Deutsch kommt ihm jetzt zugute. Beide Brüder haben die US-Staatsbürgerschaft angenommen, um in die Armee eintreten zu können, Rudolf in Virginia im Juli 1941, Iggie in Kalifornien im Januar 1942, einen Monat nach Pearl Harbor.
     Die nächste Nachricht von Iggie ist ein Foto auf der Titelseite der Times vom 27. Juni 1944, drei Wochen nach der Landung der Alliierten in Frankreich. Es zeigt die Kapitulation eines deutschen Admirals und eines deutschen Generals in Cherbourg. Sie stehen in durchnässten Mänteln einem inzwischen ein wenig kahlen Captain I. L. Ephrussi und dem adretten amerikanischen Generalmajor J. Lawton Collins gegenüber. Karten der Normandie an den Wänden, ein aufgeräumter Schreibtisch. Alle stehen in leicht vorgebeugter Haltung da, um Iggies Übersetzung der Bedingungen von General Collins zu lauschen.
     Viktor starb am 12. März 1945, einen Monat, bevor Wien von den Russen befreit wurde, zwei Monate vor der bedingungslosen Kapitulation des deutschen Oberkommandos. Er war vierundachtzig. "Geboren in Odessa, gestorben in Tunbridge Wells", steht auf seinem Totenschein. Gelebt hat er, füge ich beim Lesen hinzu, in Wien, dem Zentrum Europas. Sein Grab auf dem Städtischen Friedhof in Charing ist weit weg von dem seiner Mutter in Vichy. Weit weg von dem seines Vaters und Großvaters im Mausoleum mit den dorischen Säulen in Wien, errichtet voller Zuversicht, in diesem neuen kaiserlichen österreichisch-ungarischen Heimatland würde es den dynastischen Ephrussi-Clan auf immer beherbergen. Am weitesten entfernt ist es von Kövecses.
     Bald nach Kriegsende erhielt Elisabeth einen langen Brief von ihrem Onkel Tibor, mit der Schreibmaschine getippt. Pips hatte ihn im Oktober aus der Schweiz weitergeleitet. Der Brief war auf beinahe durchscheinendem Papier geschrieben und enthielt furchtbare Nachrichten.
     "Ich möchte nicht alles wiederholen, aber ich muss noch einmal über Jenö und Eva schreiben. Es ist schrecklich, an die Qual zu denken, unter der sie starben. Jenö hatte bereits die Bestätigung in Händen, bevor sie aus Komarom ins Reich deportiert wurden, denn man hatte ihm die Heimreise gestattet. Er wollte Eva nicht verlassen, weil er glaubte, man würde ihnen erlauben, zusammenzubleiben, aber an der deutschen Grenze wurden sie sofort getrennt, und man nahm ihnen die besseren Kleidungsstücke ab, die sie trugen. Beide starben im Januar."
     Eva, die Jüdin, war ins KZ Theresienstadt gebracht worden, wo sie an Typhus starb; Jenö, Nichtjude, war in einem Arbeitslager an Erschöpfung zugrunde gegangen.
     Tibor fährt fort, erzählt Neuigkeiten von den Nachbarn in Kövecses, zählt Namen von Freunden der Familie und Verwandten auf, von denen mir keiner ein Begriff ist: Samu, Herr Siebert, Familie Erwin Strasser, die Witwe von Janos Thuroczy, "ein zweiter Sohn, der seit damals vermisst wird", im Krieg deportiert oder in den Lagern verschwunden. Er schreibt von der Verwüstung in seiner Gegend, den niedergebrannten Dörfern, dem Hunger, der Inflation. Auf dem Land gibt es kein Wild mehr. Das Gut neben Kövecses, Tavarnok, "ist leer und niedergebrannt. Alle sind gegangen, in Tapolcany ist nur die alte Dame. Ich besitze bloß, was ich auf dem Leib trage."
     Tibor war in Wien im Palais Ephrussi gewesen: "In Wien konnten wir ein paar Dinge retten ? Das Bildnis der Anna Herz (Makart) ist noch dort, ein Porträt von Emmy (Angeli) und das Bild von Taschas Mutter (ebenfalls Angeli, glaube ich), ein paar Möbelstücke, Vasen etc. Fast alle Bücher von Deinem Vater und mir sind verschwunden, wir haben ein paar gefunden, einige mit Wassermanns Widmung." Ein paar Familienporträts, etliche Bücher mit Widmung und einige Möbel. Keine Erwähnung, wer jetzt im Haus ist.
     Im Dezember 1945 entscheidet Elisabeth, sie müsse jetzt nach Wien zurückkehren, um nachzuforschen, wer und was noch da sei. Und um das Bild ihrer Mutter zu retten und nachhause zu bringen.
     Elisabeth verfasste einen Roman über ihre Reise. Er ist unveröffentlicht. Und nicht zu veröffentlichen, denke ich, als ich das Typoskript durchsehe, 261 getippte Seiten, Korrekturen sorgfältig mit Tippex durchgeführt. Die ungefilterte Emotion macht ihn zu keiner angenehmen Lektüre. Elisabeth tritt darin als fiktiver jüdischer Professor Kuno Adler auf, der nach dem Anschluss zum ersten Mal aus Amerika nach Wien zurückkehrt.
     Es ist ein Buch über Begegnungen. Sie schreibt über die viszerale Reaktion ihrer Hauptfigur auf einen Zollbeamten an der Grenze, der sie nach ihrem Pass fragt:
     "Es war die Stimme, die Tonfärbung, die einen Nerv irgendwo in Kuno Adlers Hals traf; nein, unterhalb des Halses, wo Atem und Nahrung in die Tiefen des Körpers hinabgleiten, ein nicht vom Willen beeinflusster, unkontrollierbarer Nerv, wahrscheinlich im Solarplexus. Es war die Art dieser Stimme, dieses Akzents, weich und doch rauh, einschmeichelnd und leicht vulgär, fühlbar für das Ohr wie eine bestimmte Art Stein für die Berührung - Bimsstein, grobkörnig, schwammartig und an der Oberfläche ein wenig ölig - eine österreichische Stimme. ?Österreichische Passkontrolle!?"
     Der exilierte Professor kommt am ausgebombten Bahnhof an und wandert herum, versucht sich an das Elend, die Habgier der verarmten Einwohner und an die Zerstörung der Sehenswürdigkeiten zu gewöhnen. Die Oper, die Börse, die Akademie der bildenden Künste - alles zerstört. Der Stephansdom eine ausgebrannte Hülse.
     Unweit des Palais Ephrussi bleibt der Professor stehen: "Endlich war er da, am Ring: das massig aufragende Naturhistorische Museum zu seiner Rechten, die Rampe des Parlaments zur Linken, dahinter der Rathausturm, vor ihm der Zaun des Volksgartens und das Burgtor. Hier war er, und alles war noch da; obwohl die einst baumbestandenen Spazierwege entlang der Straße kahl, baumlos waren, nur ein paar nackte Stämme standen noch. Sonst war alles vorhanden. Und plötzlich sprang die Verzerrung der Zeit, die ihn vor Illusionen und Trugbildern schwindeln gemacht hatte, ins Scharfe, und er war real, alles war real, unumstößliche Tatsache. Er war hier. Nur die Bäume waren nicht hier, und dieses vergleichsweise banale Zeichen der Zerstörung, auf das er nicht vorbereitet gewesen war, machte ihn unverhältnismäßig traurig. Rasch überquerte er die Straße, trat durch das Parktor, setzte sich auf eine Bank an einem verlassenen Weg und weinte."
     In ihrer Kindheit hatte Elisabeth durch den Lindenbaldachin vor ihrem Haus geschaut. Im Mai war ihr Schlafzimmer von Blumenduft erfüllt gewesen.

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