Vorgeblättert

Leseprobe zu Marie Luise Knott: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive

p r o l o g

Es war Barney Josephson, Sohn jüdisch-lettischer Immigranten, der Ende 1938 in New York, genauer in Greenwich Village, mit dem Café Society den ersten nichtsegregierten Musik-Club der Stadt begründete. Er war Jazzfan und hatte, wie er später berichtet, bei einem Besuch im Harlemer Cotton Club erschrocken miterlebt, wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen. In anderen Clubs, wie etwa im Kit Kat, waren Schwarze als Besucher nicht einmal zugelassen. So gründete er einen Club für Menschen aller Hautfarben; einen, wo nirgends »For whites only« stand, nicht an den Bühneneingängen, nicht auf den Toiletten und nicht neben den Zuhörerreihen.
     Barney Josephsons Eltern waren um die Jahrhundertwende aus dem Osteuropa der Judenpogrome in die USA geflohen, ebenso wie die Eltern seines Freundes Abel Meeropol, ein Lehrer, Kommunist und Songschreiber. Meeropol verfasste im Jahr 1937, unter dem Schock von Fotografien gelynchter Schwarzer und wahrscheinlich auch mit den Pogromerzählungen seiner russischen Eltern im Hinterkopf, Text und Melodie des Songs »Strange Fruit«:

Southern trees bear a strange fruit,
Blood on the leaves and blood at the root,
Black body swinging in the Southern breeze,
Strange fruit hanging from the poplar trees.

Pastoral scene of the gallant South
The bulging eyes and the twisted mouth
Scent of magnolia, sweet and fresh
Then the sudden smell of burning flesh.

Here is a fruit for the crows to pluck
For the rain to gather, for the wind to suck
For the sun to rot, for the tree to drop
Here is a strange and bitter crop.


Wer immer diesen Song hört, den lässt das Bild der Gewalttaten nicht mehr los. Barney Josephson – tief beeindruckt – machte Abel Meeropol mit der Sängerin Billie Holiday bekannt. Sie hörte das Lied und sang es fortan, nicht nur in Barneys Café. Eine Hymne des Protestes, Totenklage und Hommage zugleich – so ging die Komposition des kommunistisch-jüdischen Gewerkschafters als Song einer Schwarzen um die Welt.
     Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft. Auch zwischen Schwarzen und Juden gab es Animositäten. Abel Meeropol, der in der Bronx als Lehrer arbeitete, war eine Erscheinung, aber sicher kein Einzelfall. 1953, auf dem Höhepunkt der antikommunistischen McCarthy-Kampagne, als viele Einwanderer sich wegduckten, um nicht aufzufallen, um nicht der »unamerikanischen Tätigkeit« bezichtigt und des Landes verwiesen zu werden – in der Zeit des Kalten Krieges also, als Billie Holiday mit ihrem Song in die Fänge des FBI geriet, adoptierte Meeropol die Kinder von Ethel und Julius Rosenberg, die als angebliche kommunistische Spione in diesen Hetzjagdzeiten hingerichtet wurden.
     Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland geflohen, 1941 in den USA gelandet war, verfolgte das Schicksal der Rosenbergs bekanntlich mit Schrecken. Ob sie je von der Courage des Abel Meeropol gehört hat, ist unbekannt. Sicher ist, dass auch sie die Lage der Schwarzen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Auseinandersetzung mit jüdischer Erfahrung reflektierte.

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Jedes Lesen ist ein Gespräch, und auch Hannah Arendts Texte sind als Gespräche angelegt. Sie verblüffen bei jedem Wiederlesen aufs Neue, denn sie leben aus dem Widerspruch und feiern die Widersprüchlichkeit des Daseins. Der emphatische Freiheitsbegriff, der ihre Schriften grundiert, ist anders als die Freedom and Democracy-Politik des Kalten Krieges von keinem Propaganda- oder Nützlichkeitsgedanken geleitet. Ihre Freiheitsidee ist ebenso unbedingt wie ihre Idee von der »Verfolgung des Glücks« im öffentlichen Aushandeln der Welt. An rebellischen Bewegungen wie den 1968ern imponierte ihr »die Entschlossenheit im Handeln« ebenso wie die »Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können«. Das gibt Mut. Handeln, so liest man bei ihr, erschließt dem Menschen eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz, welche ihm ohne diese Erfahrung verschlossen bliebe. Ohne Handeln war in ihren Augen »vollgültiges Glück« nicht zu haben. Wie konnte es sein, so fragt man sich, dass sie in ihrem letzten großen Essay aus dem Jahr 1973 die amerikanischen »Institutionen der Freiheit« rühmte und dabei die Erbschaft der Sklaverei mit keinem Wort erwähnte? Dabei musste gerade ihr – der rassisch Verfolgten – dieser Elefant im Raum der US-Gesellschaft bewusst gewesen sein: Der amerikanische Traum, er war aus dem Blut, dem Schweiß, den Gesängen und den Tränen der Schwarzen und der Native Americans gemacht. Warum schrieb sie nichts davon?
     In jüngerer Zeit verschieben sich die tektonischen Platten unserer (westlichen) Gewissheiten. Die Klassiker werdenneugelesenundgeratenindieKritik,darunterauch die Schriften von Hannah Arendt. Längst gibt es (siehe die Anmerkungen am Ende des Bandes) Aufsätze und Studien zu Arendts »antischwarzem Rassismus«, zu ihrem Eurozentrismus, ihrer »westlichen Überheblichkeit«, ihrer »white ignorance«. Und Hannah Arendt war tatsächlich eine jüdisch-europäische Denkerin. Die Herkunft prägt jeden von uns. Doch im Austausch der Ideen ist es letztlich nicht die Zugehörigkeit, sondern das einander Zuhören und die Tragweite des einzelnen Gedankens, was trägt. Im Zentrum des Rassismus-Vorwurfs gegen Hannah Arendt steht neben einem Kapitel aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vor allem ihr Essay »Reflections on Little Rock«, in dem sie sich 1959 gegen eine gesetzlich forcierte Aufhebung der Rassentrennung an den Schulen der USA aussprach.

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Ausgangspunkt dieses Buches ist ein Brief von Hannah Arendt an den (schwarzen) Schriftsteller Ralph Waldo Ellison, der in jüngerer Zeit wiederentdeckt wurde. Datiert ist er auf den 29. Juli 1965, fällt somit in die Hochzeit der Bürgerrechtsbewegung, die allerdings kurz darauf, nach dem Wahlrechtsakt ( Voting Rights Act) vom August 1965, spürbar abebbte. Der Brief wirft Fragen auf.

Lieber Mr. Ellison, bei der Lektüre von Robert Penn Warrens »Who speaks for the Negro« stieß ich auf das sehr interessante Interview mit Ihnen und las Ihre Bemerkungen zu meinen früheren Überlegungen zu »Little Rock«. Sie haben völlig Recht: Genau dieses »Ideal des Opfers« hatte ich tatsächlich nicht verstanden; und weil meine Überlegungen von der Lage schwarzer Kinder in zwangsintegrierten Schulen ausgingen, hatte mich dieses Nichtverstehen in eine völlig falsche Richtung gelenkt. Ich erhielt damals natürlich jede Menge Kritik von meinen »liberalen« Freunden oder wohl besser Nichtfreunden, die mich, wie ich gestehen muss, nicht weiter beschäftigten. Aber ich wusste immer, dass ich irgendwie falsch lag, und hatte das Gefühl, ich hatte die nackte Gewalt, die elementare körperliche Angst nicht begriffen. Aber Ihre Bemerkungen scheinen mir so zutreffend, dass ich jetzt erkenne, dass ich die Komplexität der Lage schlicht nicht verstanden habe. Sincerely yours, (Hannah Arendt)

Der Brief gilt allgemein als eine Revision ihres Essays »Reflections on Little Rock«. Doch was revidiert Arendt hier tatsächlich, und überhaupt: Was hat es mit der nackten Gewalt und der elementaren körperlichen Angst auf sich, die sie, wie sie Ellison hier schrieb, beim Abfassen des Essays Ende der 1950er Jahre, nicht verstanden hatte? Und was verstand sie nun, 1965, anders? Zwanzig kurze Zeilen zu einer brennenden politischen Frage: zur Auseinandersetzung um schwarze Emanzipation, erhalten als Durchschlag in Hannah Arendts Nachlass: »Ellison« – der Name ist unterstrichen, wohl damit das hauchdünne Blatt nach Diktat korrekt abgelegt wurde.
     Essays sind Exkursionen. In ihnen werden vorhandene Denkwege verlassen. Stattdessen sucht man nach möglichen neuen Pfaden, nach neuen Aus- und Einsichten. Wohin gelangt man, wenn man von diesen wenigen Briefzeilen ausgeht, in der Hoffnung, dass sie uns neue Einsichten auch in heutige Fragen bieten können? Damals, zum Zeitpunkt des Briefes, wohnte Hannah Arendt 370 Riverside Drive, Ralph Ellison lebte einen Zahlendreher entfernt in der gleichen Straße, Hausnummer 730; sie im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance. Welche Welten lagen dazwischen? Ob Arendt Ellisons Adresse überhaupt kannte, ob sie den Brief dorthin adressierte, ja, ob der Brief den Schriftsteller je erreichte, ist unbekannt. In Ellisons Nachlass, der sich ebenso wie der Nachlass von Hannah Arendt in der Washingtoner Library of Congress befindet, ist weder der Originalbrief noch der Entwurf einer Antwort erhalten. So bleibt von diesem Moment jüdisch-schwarzer Begegnung oder Fastbegegnung der Nachwelt nur dieses Blatt, das Rätsel aufgibt: Warum schrieb Hannah Arendt? Und warum war sie dabei so kurz angebunden? Und mehr noch: Was hatte es mit Ellisons »Ideal des Opfers« auf sich? Konnte es sein, dass die Theoretikerin des freiheitlichen Handelns plötzlich ein solches Ideal gelten ließ? In dem Interview mit Ellison hatte Arendt gelesen:

Wir haben längst verstanden, dass es unsere Aufgabe ist, Amerika wieder in Einklang mit seinen proklamierten Idealen zu bringen. Und so handeln wir aus einer zwiefachen Verpflichtung, zum einen uns selbst gegenüber und zum anderen gegenüber der Nation.

Offensichtlich gab es etwas in dem Interview, das sie direkt ansprach. Vielleicht war es Ellisons genuine Freude am Schwarzsein, vielleicht auch sein Bekenntnis zur ethnischen Pluralität Amerikas: »Ich glaube an Diversität und denke, dass, wenn jeder wie der andere wäre, wäre das der wirkliche Tod der Vereinigten Staaten.« Vielleicht ahnte Arendt nach der Lektüre des Interviews auch, dass es jenseits der verschiedenen Positionen, Erfahrungen, Hautfarben und Lebenslagen eine geistige Verbindung zwischen ihnen gab, eine Verbindung ähnlich der gemeinsamen Aussicht auf den Hudson River, der das Land mit dem Meer verbindet, über das beide Völker, Schwarze wie Juden, einst, wenngleich unter konträren Bedingungen, ins Land gekommen waren – die einen in Fesseln, die anderen als Entronnene.

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Die nachfolgende Untersuchung hat eine kontroverse Vorgeschichte. Anfang der 1980er Jahre hatte ich als Lektorin des Rotbuch-Verlagskollektivs Hannah Arendts Essay »Besuch in Deutschland« gelesen. Hannah Arendt war 1949 erstmals nach Flucht und Vertreibung für einige Monate aus Amerika in die einstige Heimat zurückgekommen. In ihrem »Bericht«, der 1950 in einer US-amerikanischen Zeitschrift erschien, erfasste sie scharfsinnig und treffend, mit Biss und Humor, das Klima der damaligen Zeit: die Hoffnungen ebenso wie das Flüstern, Schweigen und die Verlogenheit der bundesdeutschen Nachkriegswirklichkeit. Auch ihre Diagnose, dass in diesem Land Meinungen für Tatsachen und Tatsachen für Meinungen galten, war hellsichtig und erschloss mir so einiges über das bodenlose Gerede, in das hinein ich aufgewachsen war.
     Man kannte von Arendt damals vor allem die theoretischen Werke, und so begann ich, angestachelt von dieser Lektüre-Begegnung, US-amerikanische Zeitschriften nach weiteren »Einmischungen in Zeitfragen« zu durchforsten. Was ich fand, war erstaunlich: eine nahezu unbekannte, streitbare und hellsichtige Kommentatorin. So konzipierte ich einen Essay-Band, der auch den Essay »Reflections on Little Rock« enthielt. Das Verlagskollektiv befürwortete die Publikation grundsätzlich, lehnte aber mehrheitlich die Veröffentlichung des »Little Rock«-Aufsatzes ab, sowohl wegen der Verwendung des N-Wortes als auch wegen Arendts Politik-Begriff, der die soziale Dimension der Diskriminierung, also den institutionellen Rassismus, in ihrem Argumentationsgang bewusst vernachlässigte. Mich verwirrte zwar, dass eine, die selbst Diskriminierung und Verfolgung erfahren hatte und nur knapp der Todesmaschinerie der Nazis entkommen war, einer Gesetzgebung zur Förderung der Schwarzen entgegentrat. Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.
     Erst nach diversen Debatten erschien der Band schließlich doch. Anfang 2020 nun begegnete ich Arendts rätselhaftem Brief an Ralph Waldo Ellison. Angesichts meiner Geschichte und neugierig ob der Vorwürfe gegen sie in jüngerer Zeit machte ich es mir zur Aufgabe, die damalige Kontrovers noch einmal neu zu befragen – vor dem Hintergrund heutiger Kenntnisse und Sensibilitäten. Die Themen, die dabei aufscheinen, sind aktuell: Diskriminierung, die »Unsichtbarkeit« (der Schwarzen) und das Recht auf zivilen Ungehorsam; auch die heutige Singularitätsdebatte klingt an, wo von der »Einzigartigkeit« des US-amerikanischen Sklavenregimes die Rede ist. Solche Aktualität macht die Sache, die hier verhandelt wird, nicht einfacher. Doch über aktuelle Themen nachzudenken, ohne die historische Dimension mitzudenken, ist unmöglich.

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Noch ein anderer Aspekt: Wir lesen die Denker und Dichter vergangener Zeiten und fremder Kulturen nicht zuletzt, um die Enge unserer eigenen Zeit, ja: auch die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren, also um mit ihnen, wie mit Zeitgenossen sprechend, ein Licht aus anderen Zeiten und anderen Sprachen, Sprachweisen, in unser dürftiges Heute hineinzutragen. Doch in Umbruchszeiten verändern sich die Perspektiven. Hannah Arendt korrigierte in dem mir bis dato unbekannten Brief offensichtlich einen Standpunkt, den sie Jahre zuvor eingenommen hatte. Welche Erfahrungen, Gespräche oder Lektüren, so frage ich mich, hatte diese politische Denkerin dazu animiert, von früheren politischen Positionen abzurücken? Und von welchen genau? Und welchen Anteil daran hatte die Bürgerrechtsbewegung? Konnte es sein, so frage ich weiter, dass der Brief mehr war als nur das Eingeständnis eines Irrtums? Eine Wegmarke zu neuen denkerischen Aufbrüchen vielleicht. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten hatte die angehende Philosophin Hannah Arendt Anfang der 1930er Jahre in die Politik getrieben. Die Zugehörigkeit zum Judentum, bis dahin für sie eine natürliche Gegebenheit, war ein Politikum geworden. Fortan hatte sie sich als Jüdin ins Verhältnis zur Welt gesetzt. Zwei »miese« Länder seien zu viel für eine Person, hatte sie 1947 gesagt, um zu erklären, warum sie sich als Verfolgte und Vertriebene nur für die politischen Belange Palästinas und nicht auch für nachkriegsdeutsche Belange engagierte. Doch in den 1960er Jahren, als sie den Brief schrieb, waren die USA längst ihr »mieses« Land geworden. Ihre Kritik galt Korruption, Heuchelei und Machtmissbrauch in der Politik. Aus Sorge um den Fortbestand von Demokratie und Republik suchte sie nach einer permanenten Revolutionierung des politischen Raums. Von all dem ist in dem Brief keine Rede, doch es zeigt sich in dieser Studie, dass er von diesen Gedanken grundiert ist.

1. w i r  j u d e n . Ein Schreck. Ein Traum. Irgendwann zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Drei Frauen liegen auf einer Lagerstätte, irgendwo am Rande der Welt, dem Getriebe der Menschen entrückt. Die Frauen beginnen, sich über ihre Leiden auszutauschen, wohl um sich auf diese Weise von ihnen zu befreien. »Kennst du Kränkung?«, fragt eine, und alle sprechen: »Ja die kenne ich!«, und brechen in laute Schmerzensschreie aus; so fallen die Kränkungen von ihnen ab. »Kennst du Liebesschmerz?«, fragt eine andere, das Ritual wiederholt sich und auch der Liebesschmerz fällt von ihnen ab. Eine gemeinsame, eine geteilte Welt. Es folgen Ungerechtigkeit, gemordete Jugend und so einiges andere. Doch dann fragt die Träumende: »Kennt ihr – Schande?«, und im selben Moment rücken die anderen »entsetzt« von ihr ab, statt in das erhoffte »Ja« einzustimmen.
     Die Träumende ist keine andere als die Jüdin Rahel Varnhagen von Ense; bei den erträumten Leidensgenossinnen handelt es sich einerseits um die enge Freundin Bettine Brentano, andererseits um keine Geringere als »die Mutter Gottes«, deren Antlitz die Träumende an »die Schleiermacher«, also die mit ihr befreundete Ehefrau von Friedrich Schleiermacher erinnert. So genau sie alle wissen, dass man für die »Schande seiner Geburt« nichts kann, die beiden Christenfreundinnen rücken im Traum von ihr, der gebürtigen Jüdin, ab, so gut es geht, und Rahels »Ich habe doch nichts getan« verhallt unverstanden. Eine Szene, die das Herz »wegzuschmelzen droht«; ein Gespräch mit der Nachtseite des Ichs.
     Rahel Varnhagen, geborene Rahel Levin, getaufte Rahel Robert, verheiratete Rahel Varnhagen von Ense, wollte die Jüdin »aus sich ausrotten« und glaubte, man könne, wenn man sich änderte, das Unglück der Geburt »ungeschehen« machen. An ihren Bruder schrieb sie einmal, sie vergesse die »Schande« in keiner Sekunde: »ich trinke sie im Wasser, ich trinke sie im Wein, ich trinke sie mit der Luft ...« Doch auf dem Totenbett soll sie gesagt haben: »Welche Geschichte! – Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch! (...) Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.« Schmach oder nicht – ihr lebenslanges Außenseitertum, so paradox das klingt, war ihr Lebenselixier, und dennoch findet sich heute auf ihrem Grabstein in Berlin die Inschrift »Rahel Friederike Varnhagen von Ense, geborene Robert«. Als habe es die Jüdin in ihr nie gegeben.
     Es muss eine mühevolle und dabei auch eine rettende Arbeit gewesen sein, der sich Hannah Arendt um 1930 verschrieb, als sie die Briefe, Tagebücher und Traumprotokolle der Rahel Varnhagen von Ense studierte. Allzu lange war die berühmte Salonniere als Protagonistin des (gelungenen) deutsch-jüdischen Gesprächs gedeutet worden. Arendt erkannte erstmals die Verlassenheit der Rahel. Am Schicksal der Romantikerin studierte sie nicht zuletzt ihre eigene Zugehörigkeit zum Judentum, die durch den bedrohlich wachsenden Antisemitismus zu einem Politikum geworden war. Fortan orientierte sich Arendt politisch für viele Jahre ganz »von der Judenfrage« her, und so wurde Varnhagen, wie sie einmal schrieb, ihre »wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot« war. Das Versprechen der Aufklärung, ein jeder habe unabhängig von Herkunft und gesellschaftlichem Stand »selbstverständlich ein Einzelner zu sein«, um »als Mensch unter Menschen zu leben«, wie es im Rahel-Buch hieß – dieses Versprechen ging im wirklichen Leben nicht auf. Das kleine Vorhaben, nichts als ein Mensch zu sein, war in Wirklichkeit das allergrößte, so Arendt, und überstieg die Kräfte eines Einzelnen. Hoffnung auf wirkliche Freiheit aber gab es in ihren Augen – und hier zitiert sie Heinrich Heine – nur in einer allen Juden garantierten Rechtsposition, also in einer tatsächlichen gesamtjüdischen Emanzipation, und das bedeutet: mit gleichen Rechten und bürgerlicher Gleichstellung.
     Diese frühen Überlegungen zur zentralen Bedeutung des Rechts (im Unterschied zu der von Gnade oder Ungnade abhängigen sozialen Anerkennung) dürften wesentlich zu der Entstehung ihres bereits erwähnten äußerst umstrittenen Essays »Überlegungen zu Little Rock« beigetragen haben.

An »Rahels« schriftlichen Überlieferungen und Arendts »Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik« kann man noch heute studieren, was es mit einem Menschen macht, ständig als minderwertig angesehen zu sein und sich in der Folge auch als minderwertig zu denken und zu fühlen. Rahels Briefe und Tagebücher geben Zeugnis davon, wie viele Anstrengungen und Verrenkungen die Rahel unternahm, um die »Blöße des Judentums«, die »Infamie« der Herkunft zu überdecken. Sie erzählen von den Kränkungen und den Erfahrungen, zurückgestoßen zu werden.
     Vom Schicksal »falscher« Geburt handeln, wenngleich ganz anders, auch viele Zeugnisse schwarzer Bürgerrechtler. Warum und wie war es den Weißen gelungen, den Schwarzen beizubringen, sich selbst zu hassen, fragte einst der schwarze Bürgerrechtler Malcolm X, der 1965, im Jahr des genannten Arendt-Briefes, ermordet wurde. Und nicht nur er, auch Ralph Ellison hatte wiederholt die falsche Scham, ein Schwarzer zu sein, beschrieben und gegen das eigene Gefühl der Minderwertigkeit revoltiert: »Kann ein Volk sich 300 Jahre nur in der Reaktion entwickeln? Sind amerikanische Schwarze nichts als Kopfgeburten der Weißen oder haben sie nicht zumindest ein wenig sich selbst erschaffen aus dem, was sie vorfanden?« In seinen Augen fesselten die Pauschalisierungen von »schwarz« und »weiß« das Handeln. Alle sprachen von der Leidensgeschichte »der Schwarzen«, ohne zu sehen, wie verschieden auch sie in Wirklichkeit waren. (»Wie kommt es, dass so viele unser schwarzes Leben interpretieren, aber sich nie bemühen, zu verstehen, wie verschieden wir in Wirklichkeit sind.«)

Wiederholt hatte Hannah Arendt in ihren Studien zur jüdischen Geschichte die Fixierung des Blicks und des Urteils auf die jüdische Leidensgeschichte kritisiert. So grausam Verfolgung und Pogrome auch waren: Juden durften ihr Selbstbild nicht auf Scham und Schande gründen und ihre Politik nicht von der Erinnerung an das erlittene Leid bestimmen lassen, und schon gar nicht durften sie in Arendts Augen vor dem Hintergrund des erlittenen Leids die Existenz und das Leid anderer ignorieren, abwerten, überschweigen. Juden sollten sich dissimilieren, sich von den Zuschreibungen der Anderen emanzipieren, sich als Handelnde denken. Scham in Stolz verwandeln. Sie sollten (wie alle Menschen) ihr »eigenstes Wort in die Geschichte der Welt« (Buber) hineinsprechen. In diesem Zusammenhang studierte sie auch die Mystik-Forschung Gershom Scholems, die sie als Teil freien jüdischen Handelns verstand:

Jüdische Historiker des letzten Jahrhunderts pflegten – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – alle diejenigen Fakten der jüdischen Geschichte zu ignorieren, die nicht zu ihrer grundlegenden These von der Diaspora-Geschichte passten, der zufolge die Juden (...) unablässig Opfer einer feindlichen und mitunter gewalttätigen Umgebung gewesen seien.

Über Jahrhunderte hinweg waren Juden als Diaspora-Volk überall Paria gewesen und als solche Opfer von Benachteiligung, Verfolgung, Mord. Aber es gab, so Arendt, noch andere Aspekte der Geschichte, »verschüttete Überlieferungen« und »verborgene Traditionen«, die es zu erforschen und in die europäische Geschichte einzuschreiben galt. Ob Heinrich Heine, Bernard Lazare oder Franz Kafka – jeder hatte auf seine Weise mit der Freiheit gerungen, die Schande der Minderheiten-Existenz in Stolz zu verwandeln.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz

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