9punkt - Die Debattenrundschau
Das Wort Schmetterling
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Der russische Journalist Arkadi Babtschenko (mehr hier) ist in Kiew ermordet worden. Nach den Morden an Daphne Caruana Galizia und Jan Kuciak ist es die dritte regelrechte Exekution von Journalisten in Europa in diesem Jahr: Babtschenko lebte in Kiew, weil er in Russland nach seiner Berichterstattung über Tschetschenien Bedrohungen ausgesetzt war. Bisher gibt es bei Spiegel online nur die nackte Tickermeldung. Der Guardian berichtet etwas ausführlicher. Im Guardian hatte Babtschenko vor einem Jahr erzählt, warum er nach Kiew zog.
Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, dass Angela Merkel 25 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen zur Gedenkfeier kommt - Helmut Kohl sagte seinerzeit noch, er habe keine Lust auf "Beileidstourismus". Es hatte damals fünf Tote gegeben. Aber Jürgen Gottschlich erinnert in der taz daran, dass die Politik ihr damaliges Einknicken bis heute nicht rückgängig machte, denn im Kontext der damaligen Flüchtlingsdebatte wurde "der Grundgesetzartikel 16, 'Politisch Verfolgte genießen Asyl', praktisch abgeschafft. Eine Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP änderte mit einer Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz und schob mit dem Grundgesetzartikel 16 a dem Asylversprechen so viele Vorbehalte unter, dass es für einen Flüchtling kaum noch möglich war, in Deutschland Asyl zu beantragen."
In einer Reportage für Zeit online erzählt Vanessa Vu, welche Wunden der Anschlag vor allem bei den Älteren bis heute hinterlassen hat, aber auch, dass die Stadt Solingen ihre Antidiskriminierungsarbeit seitdem stark ausgebaut hat: "Schulen behandeln den Brandanschlag in jeder Jahrgangsstufe. Zu den Jahrestagen gibt es Aktionen und Gedenkminuten, Schüler besuchen den Tatort. Der Achtklässler Merth* findet das 'cool'. Er besucht die Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Solingen, stammt aus einer kurdischen Familie. Wenn Mitschüler rassistische Sprüche oder Witze rissen, würden die Lehrer das ernst nehmen. 'Bei ein- oder zweimal kann man noch sagen, das ist nur Spaß, aber wenn die nicht aufhören damit, dann klären das die Lehrer', sagt Merth. So grausam der Anschlag war, die neue Generation wächst heute in einer Stadt heran, die die Aufarbeitung ernst nimmt."
Außerdem zum Thema Solingen: Ebenfalls auf Zeit online schreibt Sebastian Weiermann über die ungute Rolle des Verfassungsschutzes bei dem Brandanschlag in Solingen. Fatal findet es Sascha Lehnartz in der Welt noch heute, dass die Deutschen nach dem Anschlag so wenig Solidarität mit den Opfern gezeigt haben: Solingen war "vor allem ein Trauma für Zuwanderer, die das Gefühl nicht loswurden, sie hätten selbst die Opfer sein können. Diese Menschen haben wir in der Not alleingelassen. Auch nach Solingen hat ihnen kaum jemand das Gefühl vermittelt, dazuzugehören. Dass viele Deutschtürken heute den Falschen für 'ihren Präsidenten' halten, ist daher auch eine Folge deutscher Gleichgültigkeit. Wie heißt es so schön: Integration ist keine Einbahnstraße."
Die italienische Koalition der doppelten Populisten könnte gestärkt aus Neuwahlen hervorgehen, schreibt Antonella Rampino im Guardian. Danch könnten diese Parteien einen Regime-Wechsel anstreben - unter anderem, indem sie verfassungsmäßig festgeschriebene Prozeduren unterlaufen. Die Koalition "will das Parlament neutralisieren, indem es Abgeordneten unmöglich macht, Parteien zu wechseln, obwohl diese Freiheit in der Verfassung festgeschrieben ist. Bereits geltende unpopuläre Gesetze sollen einer Art Screening durch Referenden unterworfen werden. Das gleiche soll für internationale Verträge gelten, also auch für alle Schritte, die Italien zu einem Teil der EU und der Eurozone machten, obwohl ein Infragestellen von Verträgen in Artikel 75 der Verfassung ausgeschlossen wird."
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Ulrich Greiner warnt dagegen vor Sprachzensur und hässlichen Verrenkungen, und fürchtet, dass Verbote alles nur noch schlimmer machen. Aber eigentlich gibt er den Kampf schon verloren und eigentlichen auch den 200 Gender-Professuren eine Mitschuld: "Da nun das bemitleidenswerte generische Maskulinum unter Sexismusverdacht geraten ist, gibt es keine Unschuldsvermutung mehr, und das 'Gendern' nimmt seinen Lauf." Ronald Düker begutachtet in einem dritten Text die Suche nach Lösungen bei Duden-Redaktion, Rechtschreibrat und Sprachwissenschaftlern,Hilfestellung geben der Duden "Richtig Gendern" oder der Leitfaden "Was tun?" der AG Feministisch Sprachhandeln. Vielleicht wären hier aber nicht nur die LinguistInnen gefragt, sondern vor allem die LiteratInnen?
Volker Breidecker schreibt in der SZ über ein Frankfurter Symposion zum Thema "linker Antisemitismus" - wo er nach Berichten von Teilnehmern feststellen musste, dass es nach wie vor höchst aktuell ist: "Unter dem massiven Druck, stets und ständig seine Haltung gegenüber Israel bekennen zu müssen, trauen sich junge Jüdinnen und Juden in studentischen und anderen politischen Zirkeln offenbar nicht mehr, sich angstfrei zu ihrem Jüdischsein zu bekennen."
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Der deutsche Arzt und Theologe Manfred Lütz verteidigt im Interview sein Buch über die Geschichte des Christentums, dem von Kritikern vorgeworfen wird, es sei zu schönfärberisch. Und spielt es nicht womöglich den Falschen in die Hände? "Barmherzigkeit, Toleranz und Internationalität sind natürlich nicht exklusiv christlich, aber im Christentum sind sie gewissermaßen 'erfunden' worden. Wenn sich dann politische Strömungen auf das christliche Abendland berufen und gleichzeitig 'Deutschland, Deutschland über alles' rufen, dann haben die nicht einfach eine falsche Meinung. Sie sind schlicht nicht informiert."
Zeit online und andere Zeitungen berichten heute alle über die Ergebnisse einer europaweiten Umfrage des Pew-Instituts, wonach in Deutschland 12 Prozent keinen Juden als Familienangehörigen tolerieren würde und 33 Prozent keinen Muslim. Besonders ablehnend anderen Glaubensgruppen gegenüber waren die Katholiken. Die Studie zeigte aber ganz generell, "dass Menschen christlichen Glaubens ablehnender sind als Menschen ohne Konfession. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um praktizierende Christinnen und Christen handelt oder um solche, die entweder nie oder sehr selten zum Gottesdienst gehen."
Weiteres: Die SZ hat bei bayerischen Museums- und Hochschuldirektoren herumgefragt, wer das Kreuz schon aufgehängt hat. Einerseits möchte man es ja gern verstehen, aber andererseits ist Christian Geyers heutiger theologischer Aufmacher des FAZ-Feuilletons vielleicht eher etwas für Fachleute: "Ambivalenzkompetenz gilt als Gebot der Stunde. Aber wer sich den zitternden Rezeptoren von Haut und Haar verschreibt, kommt in peinliche Verlegenheiten, und zwar nicht nur in der Theologie."