Essay

Das neubegonnene Europa

Von Thierry Chervel
18.04.2007. "In Amerika habe ich gelernt, dass Europa möglich ist." Ein Gespräch mit Bernard-Henri Levy über seine Amerika-Reise, die Neokonservativen nach dem Desaster im Irak, die faschistischen Wurzeln des Islamismus und Frankreich nach dem Nein und vor den Wahlen. (Foto: R. Escher)
"American Vertigo" heißt das neue Buch von Bernard-Henri Levy. Auf Einladung der ehrwürdigen Zeitschrift Atlantic Monthly ist Levy im Jahr 2004 ein Jahr kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten gereist und hat keinen Aspekt ausgelassen. Er beobachtete George Bush bei Wahlkampfauftritten, aber er besuchte auch das Gefängnis von Guantanamo, er fuhr nach New Orleans, noch vor Katrina, und empfing in einem Bordell bei Las Vegas merkwürdige Eindrücke vom amerikanischen Puritanismus. Das Buch ist auch eine Reflexion über die intellektuelle Szene in den USA und das Verhältnis Amerikas zu Europa. Das Gespräch führte Thierry Chervel Ende März bei der Leipziger Buchmesse. (D.Red.)

Im Epilog Ihres Buchs zeichnen Sie ein beeindruckendes Panorama der intellektuellen Landschaft in den USA - von Samuel Huntington über Francis Fukuyama bis Paul Berman... Würden Sie sagen, dass sich der Schwerpunkt des intellektuellen Lebens von Europa nach Amerika verlagert hat?


Ganz klar. Die Debatten um Christopher Hitchens' Artikel in Slate und anderswo, die Bewegung der Neokonservativen und der Streit, den sie auslöste, die Art, wie auf einen Vortrag von Charles Krauthammer eine Antwort von Franics Fukuyama erfolgt und wie dann sechs Montae lang darüber debattiert wird - das alles ergibt ein Bild intellektueller Vitalität, einer Regheit der Meinungen und Gegensätze, an der man in Europa offensichtlich den Geschmack verliert. Ich habe dreißig Jahre lang gedacht, Paris sei die Hauptstadt der weltweiten intellektuellen Debatte. Heute stimmt das, glaube ich, nicht mehr, das Zentrum liegt viel eher in New York. Darum habe ich den Vorschlag von Atlantic Monthly für ein Amerika-Buch, das mich immerhin zwei Jahre kostete - eins für die Reise, eins für das Buch -, angenommen. In Amerika spürte ich das Zentrum der Aktivität, die ich brauchte, um weiter über die Fragen nachzudenken, die mich umtreiben und die mir für die Zukunft unserer Kinder und Enkel entscheidend scheinen.

Kennen Sie die Liste der hundert wichtigsten Intellektuellen der Welt, die im letzten Jahr von Prospect veröffentlicht wurde? Da stehen 14 Engländer, 38 Amerikaner, drei Franzosen und drei Deutsche drauf - und nur zwei aus ganz Osteuropa. Das ist das intellektuelle Universum...

...laut Prospect.

Provinzialisiert sich das intellektuelle Leben?

Auf welcher Seite?

Auf beiden Seiten, auf der angelsächischen, aber auch in den großen nicht anglophonen Ländern Europas?

Alles intellektuelle Leben, so sehr es toben mag, hat eine Neigung zur Provinzialisierung. Alles intellektuelle Leben schafft auch seinen Antiintellektualismus, der den Horizont schließen will. Es liegt in der Ordnung der Dinge.

Wie kommt es, dass sowohl in Frankreich als auch in Deutschland eine neue Generation von Intellektuellen zu fehlen scheint?

Ich denke nicht in Begriffen der "Generation". Sie kennen den Titel von Artistoteles: "Vom Entstehen und Vergehen". Auf französisch lautet er: "De la generation et de la corruption". Wer in Begriffen der Generation denkt, denkt in Begriffen des Verfalls. So funktioniert das Geistesleben nicht. Man mag im Geschäftsleben, in der Politik oder in der Mode in Begriffen der Generation denken. Aber in der Kunst und im Denken funktioniert es nicht. Es gibt junge Künstler von achtzig Jahren. Es gibt umgekehrt Künstler oder Denker, die alt anfangen, beladen mit der Last der Jahre, der Erinnerung, der eigenen und der der anderen, und die am Ende jung aufhören. Die Zeit des Geistes ist eine seltsame Zeit. Ich habe mich weder mit 20 noch mit 58 Jahren als Zeitgenossen der Leute empfunden, die das gleiche biologische Alter haben wie ich. Ein Intellektueller ist einer, der plötzlich denkt, als sei Kants Text über die Aufklärung erst gestern geschrieben worden...

Aber trotzdem! Es gibt doch Konjunkturen in der Geschichte des Denkens. Als Sie anfingen, Ende der sechziger Jahre, gab es ein ganzes Gewimmel bedeutender Intellektueller in Frankreich. Sartre war noch da. Es gab die großen Historiker, die Poststrukturalisten, die neuen Philosophen...

Konjunkturen, ja, das existiert. Sie werden uns diktiert von den Herausforderungen der Geschichte. Sie schafft die Bühne, auf der sich das Denken in Szene setzt. Von hier kommen die Fragen, die eine Antwort suchen- Die Generationenfrage macht mir darum wenig Sorgen. Was mich interessiert, ist, ob neue Fragen formuliert werden. Hier bin ich in der Tat ein wenig unruhig. Hier spüre ich keinen neuen Wind. Und die Fragen, die sich stellen, sind mir nicht lieb.

Nämlich?

Die Frage des radikalen Islamismus, des Terrorismus, des Kampfs gegen die Aufklärung. Auch die Frage, was wir alles aus dem antitotalitären Denken der letzten zwanzig dreißig Jahre nicht gelernt, nicht in Erinnerung behalten haben...

Sie bekennen in Ihrem Buch Ihre Nähe zum antitotalitären Denken der Neokonservativen, die Sie hier auch verteidigen.

Nein, ich verteidige sie nicht! Ich verteidige sie gegen die Verteufelung. Das ist etwas ganz anderes. Ich verteidige sie gegen die Reduktion von Dummschwätzern, die uns erzählen, dass sie nur als Imperialisten agieren, die den Krieg gegen den Irak auslösten, um sein Öl zu stehlen. Ich sage in dem Buch: "Nein, so einfach ist es nicht. Sie haben diesen Krieg aus Gründen angefangen, die weder unwürdig noch unmoralisch waren! Sie haben ihn aus genau den Gründen angefangen, die sie proklamiert haben: aus der naiven Idee, dass sie auf diese Weise die Demokratie nach Arabien bringen könnten. Wäre es nur um Öl gegangen, hätte es sehr viel einfachere Wege gegeben. Man hätte einen Deal mit Saddam Hussein gemacht, der sich nicht lange hätte fragen lassen."

Und doch verteidige ich die Neokonservativen nicht. Denn es gibt nicht nur den Krieg im Irak. Es gibt auch die Fragen der Innenpolitik, in denen sie sich - so glaube ich - nicht als Intellektuelle, das heißt als Freigeister gebärden. Muss man der Regierung denn, wenn man in einem Punkt einer Meinung mit ihr ist, in allen anderen Punkten ebenfalls folgen? Sie verhalten sich wie Gäste in einem Restaurant, die nur einen Gang wollen und sich verpflichtet fühlen, das ganze Menü zu bestellen. Hier liegt ein tiefer Grund für meine Uneinigkeit mit ihnen.

Und der Irak-Krieg?


Eine Katastrophe. Und er konnte nur auf eine Katastrophe hinauslaufen, so wie sie ihn sich ausgedacht haben. Sie sind schlechte Politiker. Auf politischer Ebene sind ihnen durch und durch tragische Irrtümer unterlaufen. Hierauf bestehe ich: Der Grund meiner Uneinigkeit mit ihnen ist die Frage des Politischen. Was ich ihnen vorwerfe, ist nicht ihr Immoralismus, sondern ihre politische Naivität. Sie leiden nicht unter einem moralischem Mangel (im Gegenteil sie haben eher zuviel davon!), sondern unter einem Mangel an Politik. Das ist die Formel, die ich vor vier Jahren in die Debatte geworfen habe, und an der ich festhalte: Dieser Krieg war "morally right and politically wrong".

Wo lag der Fehler
?

Sie hätten einen Plan für danach haben müssen. Sie hätten solide Verbündete auf dem Terrain gebraucht, eine Nordallianz wie in Afghanistan. Und sie hätten einen internationalen Konsens gebraucht, um die Operation durchzuführen.

Aber die Arbeit der Intellektuellen besteht doch nicht in der Suche nach einer Nordallianz!

Naja, sie hätten das Problem wenigstens durchdenken müssen. Sagen wir es anders: Die Neokonservativen sind dem eigenen Trugbild eines demokratischen Messianismus aufgesessen. Der Idee, um es kurz zu sagen, dass es reicht, die Demokratie zu dekretieren um sie zu erlangen und dass man dabei die geduldige Arbeit der Politik umgehen kann. Das ist normal. Es entspricht ihnen. Sie sind Leute, die auch zu Hause nicht an Politik glauben, warum sollten sie es dann woanders tun? Sie glauben nicht, dass es Sinn der Politik ist, gegen Armut zu kämpfen, gegen eine mangelhafte Gesundheitsversorgung, den Niedergang der Städte und so weiter. Warum sollten sie dann daran glauben, wenn es darum geht, in einem Land nach Jahrzehnten der Diktatur eine Demokratie aufzubauen? Anders gesagt: Wie die Neokonservativen glaube ich, dass die demokratischen Werte universale Werte sind. Wie sie glaube ich, das es sich nicht um westliche Werte handelt oder um Werte, die sich ausschließlich und unwiderruflich auf den Westen beschränken, weil sie hier erfunden wurden. Aber wenn man diejenigen überzeugen will, die hiervon nicht spontan überzeugt sind, dann braucht man Zeit - also Politik.

Sie waren 2003 gegen den Krieg.


Genau. Aber aus genau diesen Gründen. Nicht aus moralischen Gründen oder aus irgendeinem platten Pazifismus. Wir hätten ein internationales Bündnis gebraucht und ein Bündnis im Land selbst. Und wir hätten einen Plan für die Zeit danach gebraucht. In Afghanistan waren zumindest zwei dieser drei Bedingungen erfüllt... Nicht so im Irak. Im übrigen haben ich im Jahr 2003 längere Zeit in Pakistan verbracht. Und da erschien mir die Augenwischerei dieser Leute offensichtlich. Wenn wirklich der radikale Islamismus der Gegner war und Al Qaida und seinesgleichen die erklärten Feinde, dann sprang es in die Augen, dass man sie nicht im Irak bekämpfen konnte, sondern da, wo ich war, in Karachi. Nicht der arabische Islam, sondern der asiatische Islam. Das habe ich vor dem Krieg in einigen Artikeln geschrieben. Und hier bewege ich mich keinen Millimeter.

Welche Folgen hat das Debakel der Neokonservativen?


Das schlimmste wäre, wenn der würdigste Teil ihres Denken als diskreditiert gilt - ihr Universalismus, ihre Verweigerung des Relativismus und des Isolationismus, ihr Glaube, dass wir nicht am Ende der Geschichte stehen und dass es so etwas gibt wie die von Bernard Kouchner so bezeichnete "Pflicht zur Einmischung".

Trotz der Niederlage ihres Denkens teilen Sie den Antitotalitarismus der Neokonservativen und nennen den Islamismus wie einige von ihnen einen Totalitarismus oder sogar einen "Islamofaschismus".

Ich glaube sogar einer der ersten gewesen zu sein, der diesen Begriff benutzt hat. Es ist kein Neocon-Begriff. Es ist schlicht Realität.

Darf man die Schemata der jüngsten Vergangenheit auf ein Phänomen anwenden, das seine Wurzeln in 1.400 Jahren einer großen Religion hat? Der Faschismus war doch völlig anders mit seinen formierten Massen, der Zentralgewalt, dem Duce.

Sie tun so, als hätte der Islamismus nur eine Wurzel. Aber er wurzelt auch im Faschismus, im wirklichen Faschismus Mussolinis und Hitlers. Denken Sie an Mohammed Amin al-Husseini, den "Mufti von Jerusalem", einen der Begründer des arabischen Antisemitismus. Er war SS-Mitglied und mobilisierte die Araber in den letzten Jahren des Krieges für die Waffen-SS. Sehen Sie sich die Gründer der Baath-Partei an oder die politischen Ursprünge der Muslimbrüder. Der Faschismus dieser Menschen und Bewegungen ist real, nicht nur Metapher.

Sie funktionieren doch völlig anders.


Schon. Aber der Islamismus lässt sich nur in einem doppelten Kontext beschreiben. Es gibt den "kleinen" Kontext, wenn sich so sagen darf, das ist der religiöse Kontext. Und es gibt den Kontext, den ich den "großen Kontext" nenne, und das ist ein politischer Kontext, der sehr wohl mit der Geschichte des Faschismus zu tun hat. Manche Leute wollen uns glauben machen, wir hätten es nur mit einem religiösen Problem zu tun: Man müsse nur den Koran aktualisieren, damit die Sache ins Lot kommt. So denke ich nicht. Zwar glaube ich auch, dass man den Koran aktualisieren muss. Natürlich brauchen wir eine neue Generation von Muslimen, die den Koran jenem Aggiornamento unterziehen, das auch Juden und Christen ihrem Heiligen Buch zukommen ließen. Ich glaube, um es brutal zu sagen, dass ein Teil des Problems an dem Tag gelöst sein wird, an dem die Muslime akzeptieren, dass Gottes Wort nicht unerschaffen und jedem Kommentar und jeder Geschichtlichkeit entzogen ist - an jenem Tag also, an dem im Islam eine Art "talmudischer" Tradition entsteht.

Aber gleichzeitig sage ich, dass es sich hier um eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung handelt. Denn es bleibt die andere, möglicherweise ebenso wesentliche Arbeit, die nichts mit der Religion zu tun hat und die die politischen Wurzeln des Islamismus betrifft. Ian Buruma und Avishai Margalit haben hierüber in ihrem Buch "Okzidentalismus" wichtige Dinge gesagt. Auch mein Freund Paul Berman in "Terror und Liberalismus". Und dann ist da das Buch der beiden deutschen Autoren Martin Cüppers und Klaus-Michael Mallmann, "Halbmond und Hakenkreuz - Das Dritte Reich, die Araber und Palästina" (mehr hier), das einen leider wesentlichen Punkt anspricht. Dieses Buch erzählt die kaum bekannte Geschichte einer geplanten arabischen Legion in Rommels Armee, die bis nach Palästina mitziehen sollte, um dort, im Heiligen Land, an den 600.000 Juden der Region die Endlösung zu vollenden. Dieses Buch zerstört eines der großen Argumente - wenn nicht das große Argument - der Linksislamisten, die sagen: "Wir haben mit der Schoa und der Geschichte der Nazis nichts zu tun. Warum verlangt man von uns, dass wir Israel akzeptieren und damit für ein Verbrechen bezahlen, das von Europäern begangen wurde." Nein! Es gab auch unter Arabern ein wirkliches Nazitum. Einige von ihnen identifizierten sich mit dem Projekt der Schoa. Und wenn sich einige arabische Regimes, Intellektuelle, Agitatoren und Prediger dieser Zeit Hitler anschlossen, dann nicht nur aus Hass auf die Angelsachsen oder um sich von den Kolonialherren zu befreien. Sondern auch aus Ideologie. Und aus Überzeugung. (Mehr hier)

Wie soll man auf den Islamismus reagieren?

Man muss in beiden Kontexten agieren. Der religiöse Kontext ist wie gesagt Sache der Muslime: Die Zeit des Kommentars komme! Die Buchstaben sollen fliegen lernen und hundert talmudische Blumen blühen! Das ist eine Sache. Und dann muss die arabisch-muslimische Welt jene Trauerarbeit leisten, die wir in Europa geleistet haben. Solange die Araber sagen, dass die Geschichte des europäischen Faschismus sie nichts angeht, solange kommt gar nichts in Ordnung - das ist meine Überzeugung.

Kommen wir zum intellektuellen Panorama des Anfangs zurück. Wie erklären Sie sich diese sehr spezifische amerikanisch-französische Hassliebe auf Gegenseitigkeit?

Sie haben Schulden beieinander. Frankreich hat mit Ludwig XVI., Beaumarchais, Lafayette an der amerikanischen Befreiungsbewegung teilgenommen, aus der die USA entstanden sind. Und andererseits haben die Amerikaner zwei Jahrhunderte später Frankreich befreit.

Das ist schwer zu verzeihen!

Sie kennen das Wort von Jules Renard, glaube ich: "Ich habe keinen Feind, denn ich habe nie jemand einen Gefallen getan." Nichts schmeckt bitterer als Dankesschuld. Hinzu kommt in beiden Nationen ein Hang zum Universalismus, eine Art Messianismus des Universalen...

Entfernt sich Amerika von Europa?

Nein, ich glaube nicht. Solange die Vereinigten Staaten die Vereinigten Staaten bleiben, wird auch das Band zu Europa stark bleiben. Es mag zuweilen verschwinden oder in neuen Formen in Erscheinung treten, auch weniger deutlich. Aber es gehört zu Amerika. Was ist Amerika? Ein neubegonnenes Europa. Ich glaube, die Amerikaner wissen das. Sie spüren, dass es funktioniert und hält, weil sie einst wie Äneas Troja verließen, um Lavinium zu gründen, die neue Welt an der Stelle Europas. Amerika, das ist das Licht der Aufklärung, das woanders neu entzündet wurde. Ohne diese Idee gäbe es in Amerika nur eine Summe von Gemeinden, eine Addition von Blasen, die nicht miteinander kommunizieren würden, eine Art postmoderner Gesellschaft, von der manche träumen mögen, die aber nichts mehr mit dem amerikanischen Traum zu tun hätte. Baudrillard sah Amerika auf diesem Weg. Ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, dass die Hispanisierung der Gesellschaft dazu führt, dass sie Europa den Rücken zukehrt. Ich glaube nicht, dass sie sich durch die kommerzielle Nähe zum pazifischen Raum von den Werten der Aufklärung, also Europa, entfernt.

...die sich nach dem Desaster im Irak allerdings in der Krise befinden.

Nicht mehr oder weniger als zur Zeit von Vietnam oder in den Jahrzehnten vor der Bürgerrechtsbewegung. Die Leute scheinen erst mit Bush aus allen Wolken zu fallen. Was soll's? Vor Bush gab es Nixon. Davor die Rassentrennung, den Ku Klux Klan. Und doch hat die amerikanische Demokratie gelebt und sich fortentwickelt. Wie ist der heutige Stand? Die Leute tun, als befände sich Amerika in einem immensen und unwiderruflichen Rechtsruck. Wenn man einen etwas größeren Zeitraum in den Blick nimmt, sagen wir die letzten fünfzig Jahre, dann stellt man fest, dass Amerika heute viel weiter ist. Sie sehen nur die beiden Siege Bushs, den Triumph der Kreationisten, der religiösen Fundamentalisten - aber das ist nichts verglichen mit der - gewonnenen! - Schlacht für die Bürgerrechte, für die Gleichheit von Mann und Frau, für das Recht auf Abtreibung, kurz: mit einer demokratischen Revolution, wie man sie nirgends sonst gekannt hat. Verglichen damit ist der aktuelle Rechtsruck nur das letzte Aufbäumen eines Tiers, das weiß, dass es sterben muss.

Das sagt man manchmal auch vom Islamismus: Er sei ein letztes Aufbäumen gegen eine unausweichliche Modernisierung...

Ja, ich weiß. Das ist die These gewisser Islamwissenschaftler wie Olivier Roy und Gilles Kepel. Aber das hat nichts miteinander zu tun. Ich fürchte, der Islamismus ist eine Bewegung mit Zukunft und, wie gesagt, mit kraftvollen Wurzeln im religiösen und politischen Kontext.

Was haben Sie in Amerika über Europa gelernt?


Ich habe gelernt, dass es möglich ist. Als ich nach Amerika kam, war ich wegen der Europa-Frage in der Krise und in ziemlich melancholischer Stimmung. Es war die Zeit der französischen Debatte über die Europäische Verfassung. Nicht einmal die Anhänger des "Ja" trauten sich, um der Wünschbarkeit Europas selbst "Ja" zu sagen, sondern sie schoben vor, dass ihr "Ja" gut für Frankreich sei. Als ich in Amerika ankam, dachte ich, dass Europa vielleicht auch nur eine der Illusionen unserer Generation war. Ich sagte mir so etwas wie: "Ich habe mein Leben lang geglaubt, dass Europa im Sinne der Geschichte ist, dass es auf jeden Fall entstehen wird, man musste es nur geschehen lassen, konnte sich schlafen legen, und hinter unsrem Rücken würde es stehen - und dann sah es aus, als würde es auf keinen Fall entstehen, als zerfiele es unter unseren Augen."

Was hat Amerika daran geändert?


Ich sah dieses Staatenbündnis, diese nationale Gemeinschaft aus Leuten, die noch viel weniger eine Sprache sprechen als die Europäer, die sehr viel schwerere "ethnische" Probleme zu lösen haben. Und ich sagte mir, dass das Wunder möglich ist. Dass die inorganische Nation, der inorganische gesellschaftliche Körper möglich sind. Ich entdeckte, dass der Verfassungspatriotismus, um wie Habermas zu sprechen, nicht nur eine philosophische Träumerei ist, sondern eine Sache, die funktionieren kann, mit der man Armeen schafft, Schulen erhält, Steuern erhebt. Wenn man dieses Land durchquert, wie ich es getan habe, und sieht, wie wenig ein Landbesitzer in Alabama mit einem Mexikaner in San Diego oder einem Europäer in Savannah oder Charleston gemein hat und dass Amerika trotzdem entstanden ist - dann erwacht wieder eine Hoffnung auf Europa.

Was werden die französischen Wahlen Europa bringen?


Ich weiß es nicht. Ich hoffe vor allem, dass der nächste Präsident, wer immer es sein wird, akzeptiert, das es seine erste und wichtigste Aufgabe ist, den gerissenen Faden der europäischen Hoffnung neu zu knüpfen.

Man spricht nicht sehr viel über Europa im Wahlkampf


Francois Bayrou spricht über Europa. Segolene Royal auch. Und sie ist unter den drei Kandidaten zwar vielleicht nicht die europäischste, aber doch diejenige, die am besten die Kräfte des "Nein" in den Schoß des "Ja" heimholen kann. Das ist ein guter Grund, sie zu wählen, Nicht der einzige, aber ein guter.

Hat sie sich für Europa ausgesprochen?


Ja. Oft. Sie war Anhängerin des "Ja". Und das ist heute eine der Achsen ihres Wahlkampfs. Hoffen wir also. Wissen Sie, das letzte Mal habe ich mich vor einigen Wochen für mein Land geschämt. Frau Merkel hatte die europäischen Länder in Madrid versammelt. Und sie hat dieser Versammlung einen aus der französischen Geschichte entlehnten Namen gegeben: "Les Amis de la Constitution". Die Freunde der Verfassung. Ja. Das war der Name des Jakobinerclubs in der Französischen Revolution. Und ein Land fehlte bei diesem Treffen in Madrid: Frankreich.