Essay

Friedlich und fragil

Bemerkungen zur Documenta 13. Von Marie Luise Knott
07.08.2012. Kohlköpfe, Salate und Unkraut: Wo beginnt die Kunst? Die Documenta der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev stellt die Frage nach der Grenze zwischen Natur und Zivilisation neu. Und sie hat, ob wir das mögen oder nicht, die Autorität wieder vom Kurator in die Kunst selbst zurückverlagert.

Pratchaya Phinthong: Sleeping Sickness (Schlafkrankheit), 2012. Foto: Roman März/Documenta

Im Fridericianum in Kassel auf einem Sockel liegen zwei präparierte Fliegenleichname in einem Glaskasten, friedlich und fragil, als könnten sie keiner Fliege etwas zu leide tun. Ihre stumme Gegenwart setzt Bilder frei, und so erzählt ein Documenta-Besucher von einem Video, das er vor Jahren sah, und das ihm nicht aus dem Sinn will: In einer Gefängniszelle sitzt eine Frau auf einem Stuhl; um sie herum fliegt hektisch eine Stubenfliege. Die Frau verfolgt die Fliege mit den Augen: Mal reißt sie den Kopf nach links, mal wandert ihr Blick nach rechts, erst schaut sie hoch, dann runter, usw. Eingesperrt und ausgeliefert. Wollte sie schlafen, würde die Fliege sie unweigerlich aufschrecken. Fliegenterror. Irgendwann in diesem Film, so erfahre ich, muss die Natur ein Einsehen gehabt haben, denn die Fliege stürzt herab und ist tot. Diese Zellenfliege, so klein sie ist, füllt und terrorisiert den Raum.

Kunst tut nichts anderes, als Bilder zu produzieren. Bei dem hinter Glas konservierten Fliegenpaar in Kassel kann der Betrachter ungestört die Schönheit ihrer Schöpfung sowie die Schöpfung in ihrer Vielfalt erkunden. Und diese Fliegen sind keineswegs die einzigen Mehrbeiner auf der diesjährigen Documenta: Hunde und Schmetterlinge drängen sich auf. Wozu das Ganze? Ob man tatsächlich mit Hunden an einem Tisch sitzen und sie füttern sollte, darf ebenso bezweifelt werden wie die Frage, ob die naturgetreue Darstellung vom Verschwinden bedrohter Apfelsorten Kunst ist. Wozu also tatsächlich das Ganze?

In einer biografischen Notiz über die Leiterin der diesjährigen Documenta, Carolyn Christov-Bakargiev, stand zu lesen, sie sei Feministin gewesen. Ob sie damals zu den Amazonen gehörte, ob sie der Gleichstellung, der Differenz, der Autonomie, der Emanzipation oder einer anderen feministischen Strömung zum Sieg verhelfen wollte, ist mir nicht bekannt und tut hier nichts zur Sache. Mit der Erfindung der Gattung der "Menschenfrauen" beharrte frau damals plötzlich darauf, dass es noch etwas anderes gibt als die männlichen Meistererzählungen, und dass in der komplexen Wirklichkeit Männer und Frauen als Verschiedene diese Erde miteinander teilen. Die Genderfrage schärfte die Aufmerksamkeit für ehedem Marginalisiertes, erweiterte die Sensibilität für Ausgelassenes und Unbeachtetes. Der Feminismus, der in den 1970er Jahren den (weiblichen) Körper in seinem Eigenleben, Eigensein und Eigensinn weltweit neu in sein Recht setzte, entfernte sich vom Einheitsdenken, und verfocht dagegen alles, was der Fall war: eine Welt der Vielen und Verschiedenen. Frauen belebten das in der Aufklärung "vergessene" und gewaltsam abgespaltene Wissen, dass es ein Leben und Denken und Fühlen und Wahrnehmen gibt, das nicht ausschließlich auf der Vorherrschaft von Logik, Sinn und Fortschritt basiert. Auch unabhängig von der Mutterschaft markiert das weibliche Geschlecht eine Differenz.

Auffallend ist auf der Documenta 13 neben dem hohen Künstlerinnen-Anteil (ca. 40 Prozent), dass die Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev alle konzeptionellen Leitungspositionen mit Frauen besetzt hat. Doch die Documenta ist keine feministische Veranstaltung, "feministische" Standpunkte findet man in den Kunstwerken kaum. Vielmehr setzt die Leiterin der mit Abstand größten Kunstschau der Welt, so die These, nicht auf feministische Standpunkte, sondern auf eine Erfahrung des Feminismus, die in Vergessenheit geraten ist: auf die Achtung gegenüber dem Eigensinn der Kunstwerke. Indem Carolyn Christov-Bakargiev auf einen tragenden Titel, also auf eine starke These verzichtet, indem sie die Definitionsgewalt, die man aus Thesenausstellungen kennt, verweigert, glänzt der Parcours in Kassel durch die Abwesenheit von kuratorischem "Eigensinn". Carolyn Christov-Bakargiev hat, ob wir das mögen oder nicht, die Autorität wieder vom Kurator in die Kunst selbst zurückverlagert.

Der Kunstmarkt boomt. Doch die zeitgenössische Kunst steckt schon eine Weile in der Krise. Sie wildert. Manchmal hat man das Gefühl, als sehne sich die Kunst angesichts der Unübersichtlichkeit des "anything goes" ein wenig nach der Wunderkammer oder dem Kuriositäten-Kabinett, denen sie einst in die Autonomie der Moderne entsprungen ist. Von einer Weltschau wie der Documenta erwartet man gerade in Krisenzeiten, sie möge die Kunst wie ein Magnet wieder ausrichten und formen, wie es Harald Szeemann 1972 mit der legendären documenta 5 gelang. Szeemann hatte damals das "Mehr Demokratie wagen" in die heiligen Kasseler Gefilde implantiert, einen intensiven Dialog mit den Künstlern initiiert, die Documenta in die Stadt hinein geöffnet, und Happening und Fluxus spektakulär Raum gegeben. Ähnlich hat auch Carolyn Christov-Bakargiev mit den Künstlern in Kassel gelebt und die Kunst wie kein Kurator zuvor in die Stadt hineingetragen, darauf bauend vielleicht, dass in der Kunst Ideen und Entwicklungen lange im Voraus erahnt, geborgen und aufgebrochen werden, bevor sie in der wissenschaftlichen Reflektion Begriff und begriffen werden. Zum Dialog mit den Künstlern liefert sie im Erdgeschoss des Fridericianum unter dem Stichwort "Brain" eine Art Speicher; neben Kassel fungieren verschiedene Orte als Reservoir , darunter Breitenau (Geschichte), Kabul (Krieg), Banff (Natur).


Brennnesseln im Beet von Kristina Buch. Foto: Marie Luise Knott

In Kassel werden heuer keine Bäume gepflanzt. Stattdessen setzt die Biologin Kristina Buch Tag für Tag zwischen Hummeln und Heuschrecken in einem üppig wuchernden bunten Blumenbeet Schmetterlinge aus. Ihr Gegenentwurf zur Monokultur der Landwirtschaft, die überall in der Welt Tagpfauenaugen oder Gelblinge mit Pestiziden vernichtet, hält es wie weiland der Feminismus mit Artenvielfalt und Artenschutz. Denn um das Beet herum hat sie wie einen Schutzwall gegen die Vor-Herrschaft des Menschen(mannes), Brennessel gepflanzt, und in der Karlsaue hat der chinesische Künstler Song Dong Kohlköpfe, Salate und Unkraut auf einem begrünten Schutthaufen wachsen lassen. Wo beginnt die Kunst? "We do nothing" lautet der Titel. Doch so wenig wir tatsächlich auch zutun - diese Welt braucht das Wissen der Menschen, und: der Mensch braucht das Wissen der Natur, das Denker- ebenso wie das Hexenwissen. Vielleicht ist das Neue in Kassel tatsächlich das Uralte: Die unerzählbare Ahnung, dass man nicht mehr an der eigenen Angst vorbeisehen kann, dass vielleicht tatsächlich "die letzten Tage der ersten Menschheit" (Bernd Ulrich) längst angebrochen sind.



Die Documenta 2012 hat - mehr als jeder Documenta-Kurator in der Vergangenheit - das "Brain" und die anderen Austragungsorte als Körper verstanden, als Orte, von denen einerseits Impulse ausgehen und an denen sich andererseits vorhandene Impulse miteinander austauschen können. Hier realisiert sich die Hoffnung auf eine gemeinsame Welt, Was jeder daraus macht, ist Eigensinn, Die Kanadier Janet Cardiff und George Bures Miller inszenierten für die Documenta einen Audio-Video-Walk (s.o.) durch den Kasseler-Bahnhof. Alle Documenta-Teilnehmer besuchten im Vorfeld ein nahegelegenes ehemaliges Benediktinerkloster aus dem 12. Jahrhundert, das nach der Reformation zur fürstlichen Sommerresidenz mutierte, im 19. Jahrhundert gewaltsam zu einem Arbeitshaus und unter den Nazis zu einem KZ und Straflager umfunktioniert wurde. Dort, in Breitenau, trifft sich romanische Schönheit und totalitäre Gewalt, Gottes-Verehrung und Menschheits-Erniedrigung. Die kroatische Künstlerin Sanja Ivecovi? hatte im dortigen Archiv ein Foto aus dem Jahr 1933 gefunden, auf dem ein Esel hinter Stacheldraht eingesperrt zu sehen ist. Außerhalb der Stachelumzäunung steht ein Nazi, der mit dem eingesperrten Esel die Bevölkerung warnt, nicht stur wie ein Esel bei Juden einzukaufen. Wer wollte schon ein Esel sein?




Sanja Ivecovi?: The disobedient. Fotos: Marie Luise Knott.

Ivecovi?s Arbeit - The disobedient - kombiniert das Foto mit einer Sammlung von Stofftier-Eseln, die, nach Widerstandsgeistern des 20. Jahrhunderts benannt, Steve Biko, Jan Palach, Aretha Franklin oder Edith Stein heißen. Gibt es jenseits der formalen Verbindung zwischen dem einstigen Stacheldrahtquadrat auf dem Opernplatz und dem Brennesselquadrat auf dem Schmetterlingsfeld einen denkerischen Zusammenhang?

Versteckt, gleich neben der monumentalen doppelläufigen Kriegshelden-Treppe, die majestätisch von der "Schönen Aussicht" in die barocke Parkanlage der Karlsaue hinunterführt, hat die britische Künstlerin Natascha Sadr Haghighian, die Ungangbarkeit aller Tradition bildlich genommen und einen kleinen Trampelpfad angelegt, der durch grünes Dickicht den für die Bundesgartenschau 1955 bepflanzten ehemaligen Kriegstrümmer-Hügel hinunterführt. Der Documenta-Besucher, der auf der Suche nach neuen Wegen die Begrenzungsmauer zum Park mit einer Leiter übersteigt, pirscht sich durchs Gebäum und Gebüsch und hört Tierstimmen, die aus Lautsprechern kommen. Wir werden die Natur nach ihrer Zerstörung neu erfinden müssen.

Auch der in Mexiko lebende Belgier Francis Alys schöpft aus der Kraft des Ortes und des Brains. Er hat ein Archivphoto des zerstörten Kassel aus dem Jahr 1943 gewählt, und es in einem Galerieraum mitten in der Stadt in einer Vitrine zusammen mit einem poetischen Kommentar zum Jahr 1943 präsentiert, in dem mehrere Künstler aus dem Fridericianum ins Ruinen-Bild hineingeholt werden. "Ich denke daran", heißt es dort, wie Morandi sich auf einen Hügel zurückgezogen hat und malt; wie Marinetti verwundet von der russischen Front zurückkehrt; wie Ensor im bombardierten Ostende untätig in seiner Wohnung sitzt; wie Lee Miller in England traktorfahrende Frauen fotografiert; wie Camille Claudel verlassen und vergessen im Heim von Montdevergues stirbt; wie Emil Nolde in Seebüll seine "ungemalten Bilder" malt; wie Blinky Palermo in den Trümmern von Leipzig zur Welt kommt und wie Piet Mondrian in New York "Broadway Boogie Woogie" vollendet. Ein anderes Porträt des Krieges.


Tamás St. Turba: "Czechoslovak Radio, 1968". Foto: Marie Luise Knott

Nicht nur Hexen, auch Künstler können mit "empfindenden und nicht empfindenden" Geistern (John Cage) einen eigenen Umgang pflegen, um die Gewalt der jahrzehntelangen alltäglichen Brüche, Fragmentierungen und Abspaltungen des Industriezeitalters zu reflektieren. In der "Brain"-Rotunde des Fridericianums liegen zwei rotbraune unscheinbare Ziegelsteine des ungarischen Fluxus-Künstler Tamás St. Turba: "Czechoslovak Radio, 1968" betitelt. Man sieht es den Steinen nicht an, aber auch in ihrem vorigen Leben, bevor sie Ausstellungsgegenstände in Kassel wurden, waren sie Kunstwerke. Am 30. August 1968 , so liest man im Begleittext, nach dem Einmarsch, erließen die sowjetischen Besatzer in der Tschechoslowakei ein Verbot, Radio zu hören. Der anfangs noch aktionsfähige subversive Widerstand, der zur Desorientierung der Besatzer in Prag Straßenschilder und Wegweiser fälschte, versammelte sich auf Verabredung an öffentlichen Orten. Einer trug einen solchen Ziegelstein mit sich, als sei er ein Transistorradio; und dann stellten sich alle um den Stein herum, bückten sich und taten so, als lauschten sie einer fernen Radiostimme. Es heißt, die Sowjets hätten in Prag hunderte solcher Steine verhaftet. Si non è vero, è ben trovato.



Die Documenta hat für 100 Tage die Stadt erobert - Hotelräume, Ladenlokale, Hinterhöfe. Zu den ephemersten und vielleicht schönsten Erscheinungen in der Stadt gehört die fluxusähnliche Aktion von Tino Sehgal (s.o.). Über einen schmalen Gang betritt der Besucher vom Innenhof aus einen völlig dunklen Raum. Anfangs sieht man die Hand vor den Augen nicht. Und da wer nichts sieht, mehr hört, höre ich Stimmen und leise Schritte um mich herum. Ich erkenne, dass die Stimmen sich im Raum bewegen; als die Augen sich an das Dunkel gewöhnen, kann ich die Töne und Geräusche einzelnen Tanzenden zuordnen. "Good vibrations" von den Beach Boys vermeint man aus dem Gesang herauszuhören. Good vibrations umgeben einen. Manchmal wird es still und persönlich - jemand ergreift das Wort: "Ich habe Hunde ausgeführt, um mein Studium zu finanzieren." - dann schnipst irgendjemand einen Rhythmus vor, andere fallen ein. Alle tanzen wieder und singen. Good vibrations. Sehgals Arbeit "This variation" ist performative Kapitalismuskritik, sie lädt den Besucher implizit ein, sich anzuschließen. mitzusingen, mitzutanzen. Man fragt sich unwillkürlich: Kann ich und will ich in der Welt meine Stimme erheben? Wer bin ich? Wer sind die anderen? Tino Sehgals Katharsis animiert nicht Mitgefühl, sondern Mit-Freisein. Zehn Stunden pro Tag, 100 Tage lang. Was daraus wird, wissen wir nie.