Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2004. In der FAZ schreibt Marcel Reich-Ranicki über Czeslaw Milosz. In der Welt erklärt Julie Burchill, warum sie mit ihrem jüngeren Mann - auch sexuell - sehr zufrieden ist. Die NZZ bewundert die aufgeständerte nordwestliche Nase der Universitätsbibliothek Magdeburg. Die SZ fragt: Wie soll das Gedächtnis der Gesellschaft erhalten bleiben, wenn keiner mehr Briefe schreibt?

FAZ, 16.08.2004

Marcel Reich-Ranicki schreibt den Nachruf auf Czeslaw Milosz: "Als sich die Juden im Warschauer Ghetto mit den wenigen teuer erkauften Waffen gegen die Deportation zu den Gaskammern wehrten und damit einen aussichtslosen und doch sinnvollen Kampf gegen das Großdeutsche Reich aufnahmen, da schrieb Milosz sein wohl berühmtestes Gedicht: 'Campo de' Fiori'. Auf diesem römischen Marktplatz wurde einst vor den Augen vieler neugieriger Gaffer Giordano Bruno verbrannt. An diesen Platz und an die Gleichgültigkeit der Zeugen und Zuschauer dachte Milosz während des Aufstands im Ghetto - als er entsetzt das lustige Treiben auf einem Warschauer Rummelplatz beobachtete. Schlagermusik dämpfte die Salven hinter den Mauern des Ghettos, und junge Paare flogen auf den Schaukeln nach oben, weit in den 'heiteren Himmel'." Auch dieses Gedicht ist auf Seite 1 des FAZ-Feuilletons abgedruckt..

Regina Mönch rechnet mit der Mentalität der Leipziger Montagsdemonstranten ab, die heute gegen Hartz IV auf die Straße gehen: "Auch die ressentimentgeladenen Forderungen vieler Demonstranten zeigen, wie viele ungebrochen überzeugt sind, der Staat sei für ihr Lebensglück und ihren Lebensplan zuständig. Diese Vorstellung ist das Ergebnis der sündhaft teuren 'Aufbau Ost'-Programme, die vorgaukelten, was die Demonstranten jetzt einfordern."

Weitere Artikel: Christian Schwägerl denkt in der Leitglosse darüber nach, wie der Nationale Ethikrat seine Aufgabe besser erfüllen könnte. Eberhard Rathgeb erklärt Kierkegaards Tagebücher zu seinem Lieblingsbuch. Heinrich Wefing schreibt zum Tod des Berliner Architekten Josef Paul Kleihues. Andreas Kilb zeigt sich weitgehend zufrieden mit den in Locarno verliehenen Preisen.

Für die Medienseite hat sich Michael Hanfeld einige Höhepunkte des RTL-Programms der kommenden Saison zu Gemüte geführt und überlebt.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rossmann vom Festival c/o pop, das in Köln an die Stelle der nach Berlin abgewanderten Popkomm getreten ist. Jörg Magenau war Gast bei den Feierlichkeiten zum vierzigsten Geburtstag des Berliner Wagenbach-Verlags. Und Dirk Schümer porträtiert die Gattin Silvio Berlusconis, Veronica Lario, die gerade Gespräche mit ihrer bedeutenden Person als Buch hat erscheinen lassen.

Besprechungen gelten Hebbels' "Nibelungen" in Worms, Elmar Goerdens Inszenierung von O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" in Salzburg, Kurt Weills Operette "Kuhhandel" in Bregenz und Sachbüchern, darunter einer Biografie über Schelling von Xavier Tilliette.

FR, 16.08.2004

Christian Thomas schreibt zum Tode von Josef Paul Kleihues, Architekt und maßgeblicher Planer der Berliner Republik. "In und rund um Berlins Wettbewerbe lief in den neunziger Jahren nichts ohne den kleihues'schen Einfluss. Unbenommen dennoch: Was er entwarf und baute, geschah aus Respekt vor dem Grundriss der Stadt, den er als das 'Gedächtnis der Stadt' bezeichnet hat. Ja, Kleihues ist in den letzten Jahren, bei aller Kritik an einer nicht nur arrogant sondern dogmatisch durchexerzierten 'Kritischen Rekonstruktion', immer wieder selbst als 'das Gedächtnis der Stadt' bezeichnet worden, auch von seinen Kritikern. Auch deshalb kann man zu dem Urteil kommen, dass Kleihues mit seinen architekturhistorischen Aktivitäten die geistige Topographie der Hauptstadt (der Berliner Republik?) mitgestaltet hat."

Weitere Artikel: "Es gab in diesem Wettbewerb Filme, die Beachtung verdienten", bemerkt Heike Kühn trocken zum Filmfestival von Locarno, das mit einem Silbernen Leoparden für "En garde" der Hamburger Regisseurin Ayse Polat recht versöhnlich zu Ende ging. Michael Braun würdigt den verstorbenen polnischen Dichter und Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz als "Meisterdenker der Häresie". Wie "Damen in dünnen Kleidchen im Wasser Wrestling betreiben", durfte Florian Malzach bei Karin Beiers Inszenierung von Friedrich Hebbels "Nibelungen" vor dem Wormser Dom miterleben. In Times Mager philosophiert Harry Nutt über die Zivilreligion Sport. Auf der Medienseite observiert Harald Keller schließlich die Gräkomanie auf allen Kanälen.

TAZ, 16.08.2004

Die Londoner Tate Britain lässt die Swinging Sixties in einer großen Ausstellung Revue passieren, und Marcus Woeller nutzt den Anlass, die Nachgeborenen aufzuklären. "Am Ende löst sich die ganze Epoche auf. Die plastikhafte Leichtigkeit und bonbonbunte Farbigkeit der Sixties enden in Ernüchterung. Im Osten Londons kollabiert der Plattenbau 'Ronan Point' an der eigenen statischen Unausgereiftheit, auf den Straßen protestieren die Studenten gegen den Vietnamkrieg, die Beatles verschwinden nach Indien."

Gabriele Lesser schreibt zum Tod des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz. Thilo Knott sieht den Kulturkampf um die Homoehe als hoffnungsvolles Zeichen einer allmählichen Liberalisierung der amerikanischen Gesellschaft. Niklaus Hablützel registriert den neuen Entwurf zur Überwachung der Telekommunikation mit amüsiertem Schrecken. Tilman Baumgärtel staunt über die ehemalige Diktatorengattin Imelda Marcos, die beim philippinischen Volk immer besser ankommt.

Auf der Meinungsseite schimpft Klaus Dieter Bock über die geplanten Studiengebühren. "Bevor Studierende für die Lehre zahlen, sollten die Universitäten erst einmal die Qualität der Ausbildung verbessern." Rene Martens hofft, dass der neue RTL-Geschäftsführer Marc Conrad die grassierende Retro-Manie eindämmt. Besprochen wird Markus Werners siebter Roman "Am Hang" (Werner festigt damit seinen Ruf als "Garant für Sucht erzeugende Prosa", jubelt Oliver Pfohlmann rechtschreibreformkonform).

Und Tom.

Welt, 16.08.2004

Die einst und heute bekannte Kolumnistin Julie Burchill verteidigt in starken Worten ihre Ehe mit einem um einiges jüngeren Mann, die in Großbritannien von sich reden machte. "Wie eine wachsende Zahl anderer Frauen - eine von vier mittlerweile - habe ich einen jüngeren Mann geheiratet - 13 Jahre jünger, genau genommen. Geht es nach dem Sexdoktor, hält ein Mann idealerweise Ausschau nach einer Frau, die halb so alt ist wie er, plus neun Jahre. In der Theorie also hätte mein Mann sich um eine 25jährige bemühen müssen, ein 40jähriger um eine 29jährige, ein 50jähriger Mann um eine Frau um die 34. Außerdem informiert man uns regelmäßig über einen 'epidemischen' Verlust sexuellen Verlangens unter jungen Frauen. Ohne frohlocken zu wollen: Könnte dieser Verlust damit zu tun haben, dass drei von vier dieser jungen Frauen immer noch alte Macker heiraten? Zeigen Sie mir eine alte Mieze, verheiratet mit einem jungen Mann, und ich zeige Ihnen jemanden, der nie Kopfschmerzen kriegt."

Ralf Dahrendorf befürwortet Reformen unseres Sozialstaats, aber sie werden seiner Meinung nach nicht ausreichen: "Die schwierigere Aufgabe wird es sein, die traditionellen Volkswirtschaften grundlegend zu modernisieren. Niemand hat diesen Prozess bisher wirklich bewältigt, nicht einmal die angelsächsischen Länder. Eine wirklich moderne Volkswirtschaft wird eine Dienstleistungswirtschaft sein, die hochproduktive wissensbasierte Tätigkeiten mit Arbeit im Bereich der unverzichtbaren persönlichen Dienstleistungen verbindet." 

NZZ, 16.08.2004

In einem sehr lesenswerten Artikel stellt die Kunsthistorikerin Ursula Seibold-Bultmann Bibliotheksneubauten in Ostdeutschland vor. Klare Favoriten sind die Universitätsbibliothek Magdeburg, deren "aufgeständerte nordwestliche Nase schnittig in Richtung Campusmitte weist", sowie die SLUB in Dresden, die vor allem von außen beeindruckt: "Die vorgehängten Fassaden bestehen aus Travertinplatten, in die Reihen unterschiedlich breiter, aber gleich hoher vertikaler Streifen 'eingefräst' sind. Dieses Muster, das im Gebäudeinnern bei Parkett, Sichtbetondecken und Wandverkleidungen ein Echo findet, erinnert an Bücherrücken ebenso wie an die heute in Bibliotheken üblichen Strichcodes. Die im Licht changierenden Steinflächen und die schmalen, bodenlangen Fenster lassen entfernt die Wehrhaftigkeit mittelalterlicher Burgen anklingen."

Ansonsten gibt es dreimal Festspiel: Peter Hagmann widmet dem Eröffnungskonzert des Lucerne Festivals eine beschwingte Besprechung: das Festival Orchestra unter der Leitung Claudio Abbados gab die "Vier letzten Lieder" von Richard Strauss sowie den zweiten Aufzug aus "Tristan und Isolde". Alfred Zimmerli schreibt über die Bregenzer Festspiele und lobt deren Intendanten David Pountney. Und Alexandra Stäheli resümiert die Filmfestspiele in Locarno.

Und zwei Nachrufe: Ulrich M. Schmidt verabschiedet den polnischen Dichter Czeslaw Milosz, und Claudia Schwartz würdigt den verstorbenen Architekten Josef P. Kleihues.

SZ, 16.08.2004

Der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz ist tot, Thomas Steinfeld lässt ihn in seinem Nachruf dankenswerterweise ausgiebig zu Wort kommen. "Die Besonderheit dieser Gegend, erzählt Czeslaw Milosz in seinem autobiografischen Roman 'Das Tal der Issa' aus dem Jahr 1955, liege in der Zahl der dort ansässigen Teufel. Sie sei größer als irgendwo sonst, was vermutlich daran liege, dass die Teufel sich in morschen Weiden, Mühlen, Ufergesträuch besonders wohlfühlten. 'Diejenigen, die sie gesehen haben, sagen, ein Teufel sei nicht groß, von dem Wuchs eines neunjährigen Kindes, er trage einen grünen Frack, ein Jabot, die Haare zum Zopf geflochten, weiße Strümpfe und bemühe sich, durch Schuhe mit hohen Absätzen die Hufe, deren er sich schämt, zu verstecken.' Vielleicht, so räsoniert der Erzähler, seien die lebensklugen Teufel aus dem Tal der Issa in das Kostüm der Aufklärung geschlüpft, weil die dortige ländliche Bevölkerung eine fast abergläubische Bewunderung für die Deutschen hege, für die Menschen des Handels, der Erfindung und der Wissenschaft."

Geschichte basiert auf Briefen, stellt Detlef Schöttker fest und fragt sich ganz unsentimental, wie das Gedächtnis der Gesellschaft erhalten bleiben soll, wenn keiner mehr Briefe schreibt. "Selbst wenn alle Briefe der Vergangenheit digitalisiert und im Netz zugänglich werden, das Netz also selbst zum 'Haus der Briefe' wird (was vielleicht noch denkbar ist), so bleibt die Vorstellung, dass zumindest alle wichtigen E-Mails gesichert werden können, ein frommer Wunsch - ebenso die schöne Idee einer Arbeitsgruppe des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, alle Autoren darum zu bitten, eine Kopie ihrer E-Mails automatisch nach Marbach zu senden, um sie dort zu speichern und für die Nachwelt zu sichern."

Weitere Artikel: Gerwin Zohler schreibt zum Tod des Berliner Architekten Josef Paul Kleihues. Fritz Göttler bangt, ob Robert de Niro ein Italiener werden darf. Der Ethikrat wird auf eine Kampfabstimmung in der Klonfrage verzichten, weiß Alexander Kissler. Dirk Peitz freut sich über die c/o pop, den "kleinen, aber feinen" Nachfolger der Kölner Popkomm. Die keltische Grossiedlung Tarodunum bei Zarten ist keine bloße Vermutung mehr, kolportiert Stefan Tolksdorf. Gemeldet wird außerdem, dass die türkischstämmige und in Hamburg lebende Regisseurin Ayse Polat mit "En garde" den Silbernen Leoparden von Locarno gewonnen hat. 

"Die Partizipialkonstruktion im Präsens ist eine entfernte Verwandte, eine ungeliebte und etwas kauzige Tante mit einem Faible für komplizierte Frisuren und ausufernde Hutmode", schwelgt der Schriftsteller Jan Wagner im zwölften Teil der schönen SZ-Reihe "Vom Satzbau". Den brasilianischen Journalisten steht eine staatliche Disziplinierung ins Haus, berichtet Jost Maurin auf der Medienseite. Martin Zips geht mit Fernsehclown Oliver Pocher in den Zoo. "München also. Streichelgehege. Affenhaus. Pocher."

Besprochen werden Claudio Abbados Auftritt mit dem Festival Orchestra in Luzern, wo er den zweiten Aufzug des "Tristan" dirigierte, Elmar Goerdens Inszenierung von Eugene O'Neills Familiendrama "Eines langen Tages Reise in die Nacht" bei den Salzburger Festspielen, Karin Beiers Eröffnung der Wormser Festspiele mit Hebbels "Die Nibelungen" sowie Jessica Hausners nicht typisch österreichischer Film "Lovely Rita"

Und Bücher, allen voran Gabriele Goettles Reportagenband "Experten" ("Man muss das erst mal schaffen: Mitten im Hochsommer Sehnsüchte nach Schneetreiben wecken", applaudiert Julia Encke), Cathleen Schines Roman "Tage mit Emma" sowie Durs Grünbeins Kommentar zu Senecas Traktat "Die Kürze des Lebens" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).