Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2006. Aaaauuu! Ha!- und Hua! Hit me! Pleaaaaaaase! Alle verabschieden James Brown. Die taz würdigt seine Stöhner, die FR sein Verhältnis zu Frauen, die SZ seinen Rhythmus. Die NZZ zollt ihm Respekt. Und die Welt wünscht ihm Beinfreiheit im Himmel. Außerdem: Die NZZ will keine 300 Punkte für einen deutschen Master aufbringen. Die SZ diskutiert über die grüne Linie in israelischen Schulbüchern. Und die FAZ besucht die Riesenoper "The First Emperor" an der New Yorker Met.

TAZ, 27.12.2006

Gabriele Goettle porträtiert eine Kioskbetreiberin aus Berlin-Lichterfelde West. "Der Kiosk ist ein magischer Ort. (...) Von der Kioskfrau kommen nur Gesicht und Hände zum Vorschein, ein Lächeln vielleicht, ein Gruß, eine treffende Bemerkung. Dann geht der Kunde zufrieden seiner Wege. Das ist für uns der Kiosk. Für Frau Reinke hingegen, die ihr ganzes Leben lang innen saß, ist der Kiosk ihre Rettungskapsel, ihre Schutz- und Trutzburg, mit der sie sich die Welt draußen auf Distanz hält, und er ist das Metronom für ihren Lebensrhythmus."

Auf den Tagesthemenseiten würdigt Tobias Rapp unter der Überschrift "Ein Mann, ein Schrei" den verstorbenen Soulsänger James Brown: "Vom triumphierenden Aaaauuu! bis zu den vielen Dutzend verschiedener Ha!- und Hua!-Rufen - man könnte ein Lexikon der James-Brown-Schreie schreiben. Von den zu musikalischen Interpunktionszeichen zusammengeschnurrten Tanzbefehlen wie Hit me! über die Stöhner, die aus den tiefsten Eingeweiden kamen, bis zum bettelnden Pleaaaaaaase! Niemand konnte derart schreien."

In tazzwei beschreibt Robert Misik den säkularen Fundamentalismus des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins: "Dass Eltern ihren Kindern ihren Glauben vermitteln, nennt er gerne 'Kindesmisshandlung'. Wenn er von der Ausbreitung der Religion spricht, redet er von 'mentalen Viren'... Besonders viel Spott hat Dawkins aber für jene Leute übrig, die er für atheistische Warmduscher hält - Leute, die sagen, 'ich bin ein Atheist, aber die Leute brauchen den Glauben'."

Weiteres: Kirsten Küppers berichtet über eine Thailänderin, die am derzeit dauerfinsteren Nordkap lebt und Touristenführungen macht. Und auf der Meinungsseite resümiert Ilija Trojanow Miesheiten des Jahrs 2006 und träumt von einer besseren Welt.

Und Tom.

FR, 27.12.2006

Klaus Walter schreibt in seinem Nachruf auf James Brown über dessen berühmtestes Stück: "Nichts gegen 'Sex Machine'. Ein tolles Stück, auch wenn es noch dem letzten Tanzbodendienstleister als ultima ratio dient, um hüftsteifen Börsenmaklern zum kleinen After-Work-Partyglück zu verhelfen. Nichts gegen 'Sex Machine'. Ein tolles Stück, auch wenn sein Erzeuger bis ins hohe Alter Frauen mit Sexmaschinen verwechselt und sie behandelt, wie Männer Zigarettenautomaten behandeln, die das Geld einbehalten und keine Packung ausspucken."

Weiteres: Petra Kohse porträtiert den Schauspieler Erwin Geschonneck, der seinen 100. Geburtstag feiert. Und in Times mager hadert Hans-Jürgen Linke mit dem Geltungsbereich der weihnachtlichen Friedensbotschaft, Stichworte "Vertreiber aufdringlicher Klingeltöne" und "Weihnachtsgeruchdesigner".

Besprochen werden eine "gedrosselte" Inszenierung von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" am Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter der Roman "Ihre Musik" von Thomas Stangl und der neue Roman "Der Nachfolger" von Ismail Kadare. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

SZ, 27.12.2006

Igal Avidan berichtet über eine heftig diskutierte Entscheidung der israelischen Bildungsministerin Juli Tamir, die so genannte "Grüne Linie", die das Kernland Israels vom Westjordanland und dem Gaza-Streifen trennt und kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg aus allen offiziellen israelischen Landkarten verschwand, in allen neuen Schulbüchern wieder einzuzeichnen. Diese Tilgung sei damals ohne Regierungsbeschluss getroffen worden und "eine der bedeutendsten Entscheidungen in der Geschichte Israels, die den Weg für die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens ebnete. Landkarten spielen eine wichtige Rolle im Schulsystem. Generationen von Israelis wuchsen auf, ohne die Staatsgrenzen zu kennen. Israel annektierte Ost-Jerusalem 1967 und die Golanhöhen 1981, im vergangenen Jahr räumte es den Gaza-Streifen. Die aktuellen Grenzen tauchen jedoch in keinem Schulbuch auf, auch die Gebiete der palästinensischen Autonomie auf der Grundlage der Oslo-Abkommen nicht. In einigen Schulbüchern ist der Gaza-Streifen weiterhin Teil Israels."

Karl Bruckmaier würdigt die verstorbene Soullegende James Brown: "Alles wurde James Brown zu Rhythmus. Melodien traten in den Hintergrund. Ob Bass und Schlagzeug, ob Gitarre oder die Bläser, alles schlug und schob und schnitt und stampfte, immer auf die Eins, denn die musste erst einmal klar sein, danach war Zehntelsekunden Zeit für Kunst und Text und einen exaltierten Tanzschritt, dann wieder die Eins".

Weiteres: Carlos Widmann resümiert eine internationale Historikertagung zum Thema "Argentinien und das Dritte Reich" in der Universität Köln. Johannes Willms berichtet aus Paris über Vergnügungssucht und Straßenbahnen. Jens Bisky gratuliert dem DDR-Schauspieler Erwin Geschonneck zum hundertsten Geburtstag. Gemeldet wird schließlich, dass Günter Grass mit dem Ernst-Toller-Preis 2007 ausgezeichnet wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Bad Art for Bad People" von Jake and Dinos Chapman in der Tate Liverpool, eine Ausstellung zum hundertsten Geburtstag des Fotografen Andreas Feininger im Landeskunstmuseum Moritzburg Halle, eine Ausstellung mit 150 Arbeiten der DDR-Fotografin Sibylle Bergemann in der Berliner Akademie der Künste, eine Aufführung von Leonard Bernsteins Musical "Candide" am Pariser Chatelet-Theater, Armin Petras' "verwässerte" Inszenierung von Kleists "Prinz von Homburg" in Frankfurt als Koproduktion mit dem Berliner Maxim Gorki Theater, Tony Scotts Thriller "Deja Vu - Wettlauf gegen die Zeit" mit Denzel Washington, der Horrorfilm "Der Pakt" von Renny Harlin und Bücher, darunter eine Biografie des Prinzen Charles-Joseph de Ligne und der Roman "Drei Herzen" von Jörg Albrecht. (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 27.12.2006

Joachim Güntner eröffnet eine Reihe über den Bolognaprozess mit einem kritischen Blick auf die Situation in Deutschland. Die Hochschulreform, die 1999 von 45 europäischen Staaten beschlossen worden war, um Europa als "Großmacht des Wissens" zu etablieren, habe hierzulande vor allem zu erhöhtem Konformismus geführt, meint er. "Es ist keineswegs europäischer Konsens, dass ein Student mit dem Bachelor sein Studium beenden müsse, der Master demnach als Ausnahme zu gelten habe. Aber die Deutschen haben dies zur Regel erhoben. Zu ihrer Normenbegeisterung gehört auch, Studiendauer und Leistungsnachweise exakt und verbindlich zu fixieren. 'Unterschiede im kulturellen Bereich wie auch zwischen den nationalen Hochschulsystemen' sollten gewahrt bleiben, hatte man 1999 in Bologna erklärt. Dass die Wahrung der kulturellen Differenz nun darin besteht, in einzigartiger, von keinem Nachbarn erreichter Deutlichkeit auszusprechen, ein angehender Master möge unbedingt 300 Leistungspunkte ('Credits') nachweisen, ist kein sonderlich beglückender Umstand."

Martin Horat schreibt im Nachruf auf James Brown: "Es war eine Sache des Respekts. Selbst noch im engsten Umfeld von James Brown pflegte man sich mit Nachnamen anzusprechen. Die Tatsache ist bekannt und symptomatisch für einen, der ein Leben lang mit zähem Willen nach eigenen Regeln Respekt einforderte - für sich, seine Hautfarbe, die Unterprivilegierten in aller Welt."

Besprochen werden eine Ausstellung zu Andreas Feininger im Kunstmuseum Moritzburg in Halle und Bücher, darunter die bisher nur auf Französisch erschienene Arthur-Honegger-Monografie von Jacques Tchamkerten und Willy Cohns Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933-1941 "Kein Recht, nirgends" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 27.12.2006

Die Welt besteht heute vor allem aus Seiten mit dem Jahresrückblick 2006. Auf der Magazinseite wünscht Josef Engels dem Weihnachten verstorbenen James Brown: "Im Musikhimmel möge James Brown ein Ehrenplatz mit viel Beinfreiheit zuteil sein."

Im zweiseitigen Feuilleton gratuliert Günter Agde dem Schauspieler Erwin Geschonneck zum 100. Geburtstag. Besprochen werden die Ausstellung "1001 Nacht - Wege ins Paradies" im Bremer Überseemuseum, ein von "subtiler Erotik" durchzogener "Nussknacker" in der Inszenierung Marco Goeckes und eine Hänsel-und-Gretel-Inszenierung an der Semperoper.

FAZ, 27.12.2006

Die Zusammenarbeit der chinesischen Exportschlager Tan Dun (mehr), Zhang Yimou (mehr) und Ha Jin (mehr) für die groß angelegte Oper "The First Emperor" an der hypermodernen New Yorker Met (hier der hauseigene Blog zur Oper) beeindruckt Jordan Mejias, begeistert ihn aber nicht. "Drei Millionen Dollar soll die Produktion gekostet haben, aber auch bei der Besetzung wurde nicht gespart. Kein Geringerer als Placido Domingo übernahm die Rolle des Kaisers, der er mit seinem jetzt baritonal eingedunkelten, sensationell frisch bewahrten Tenor eine permanent düstere Eindringlichkeit verlieh. Elizabeth Futral als Prinzessin und Paul Groves als Komponist nutzten die Gelegenheit, mit ihren lyrischen Stimmen immer wieder in den von Tan heißgeliebten Extremregionen zu prunken. Aber auch sie hatten es nicht leicht, sich in einem ritualisierten, langatmigen Spektakel zu behaupten, das dem menschlichen Schicksal die Staatsaktion überstülpt."

Weiteres: Jonathan Fischer verabschiedet James Brown recht kurz und distanziert. Hape Kerkelings Lebensweisheiten aus seinem Wanderbericht "Ich bin dann mal weg" hält Johanna Adorjan für eine erbauliche Mischung aus Poesiealbum und Buddhismus. Der Jurist Bernd Rüthers stellt sich gegen den Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch, der Juristen als Pianisten, also ziemlich selbständige Interpreten einer Partitur auffasst. Joseph Croitoru informiert sich in kultura (hier frei einsehbar) und Russia Profile über die Situation des russischen Theaters. Christoph Moeskes besucht den neu eingerichteten Raum zur sowjetischen Besatzung im georgischen Staatsmuseum in Tiflis. Regina Mönch gratuliert dem Schauspieler Erwin Geschonneck zum hundertsten Geburtstag.

Im Medienteil porträtiert Erna Lackner den Deutschen Oliver Voigt, der die österreichische "News"-Verlagsgruppe saniert hat. Auf der letzten Seite macht Klaus Berger den auch ökonomischen Erfolg des Zisterzienser-Ordens an der Fusion von Liebe und Rationalität fest. Meike Laaf stellt den Rapper Kid Lucky vor, der Hip-Hop-Konzerte in der U-Bahn organisiert. Wiebke Hüster hat sich beim Konzepttanz der Berliner Tanznacht gelangweilt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit einigen der 3.000 Kleider der New Yorker Gesellschaftsdame Nan Kempner im Metropolitan Museum, Ken Loachs Irland-Film "The Wind That Shakes the Barley", und Bücher, darunter ein Gespräch von Julia und Maya Onken über das Thema "Hilfe, ich bin eine emanzipierte Mutter" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).