Heute in den Feuilletons

Das sind insgesamt Kleinigkeiten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2010. In der FAZ erklärt Jürgen Brokoff: auch der poetische Peter Handke ist ein Ideologe. In der FR erzählt Klaus Wagenbach, wann die Herzklausel in Kraft tritt. Die Welt würdigt die Fiesiognomien des designierten Büchner-Preisträgers Reinhard Jirgl. In der SZ verbeugt sich Martin Walser vor dem knieenden Bastian Schweinsteiger. Die Emma bringt Necla Keleks Porträt der Jugendrichterin Kirsten Heisig.

FAZ, 10.07.2010

15 Jahre nach dem Massaker an bosnischen Muslimen durch serbische Milizen in Srebrenica fragt der Germanist Jürgen Brokoff: Kann man in Peter Handkes Büchern zwischen dem politischen und dem poetischen Handke trennen, wie die Kritiker es in den letzten Jahren gern getan haben? Brokoff meint: Absolut nicht, und resümiert nach einschlägigen Beispielen: "Es ist eine Verharmlosung, Handke für seine vermeintlich naiven politischen Stellungnahmen zu kritisieren. Der eigentliche Sündenfall dieses Autors ereignet sich nicht auf dem Feld des Politischen, sondern auf dem Feld des Literarischen. Die textstrategisch äußerst geschickten Anleihen bei der Sprache des serbischen Nationalismus, seine antimuslimischen und antialbanischen Insinuationen auf der symbolischen Ebene und seine Verhöhnung der muslimischen Opfer des Bosnien-Krieges machen dies deutlich."

Außerdem: Für den Aufmacher besucht Dieter Bartetzko den Programmierer Benjamin Koren, der nicht nur Computersimulationen für Architekten entwirft, sondern auch die Goldberg-Variationen oder den Dow Jones in Grafiken umwandelt. Patrick Bahners hat einen Ortstermin in der Klasse 8c der Realschule von Essen-Überruhr. Kris Kristofferson erzählt im Interview, wie Johnny Cash ihm geholfen hat, ein erfolgreicher Songwriter zu werden: "Er hat einfach nur gesagt, meine Songs seien großartig. Nicht mehr und nicht weniger." (Hier singen die beiden "Sunday morning coming down")

Im Feuilleton mahnt Thomas Gsella die Endspielsieger: "Dieses möget Ihr beim Schwenken / Eurer Fahnen doch bedenken. / Siegen heißt nicht nur: bekommen / ..." Tilman Spreckelsen freut sich über den Büchnerpreis für Reinhard Jirgl. Jürgen Dollase isst in Adeline Grattards Restaurant Yam"Tcha im Pariser Hallenviertel (Hier erklärt Madame, wie man "Ravioles de crevettes Black Qwenli" zubereitet.) Lorenz Jäger schreibt zum Achtzigsten von Harold Bloom. Auf der letzten Seite beschreibt Johanna Adorjan den Rechtsruck in Ungarn. Und auf der Medienseite erklärt der Filmregisseur Eric Fiedler, warum seine Dokumentation "Aghet" über den Genozid an den Armeniern dem amerikanischen Kongress vorgeführt wird: Um beurteilen zu können, ob die im März ausgesprochene Empfehlung an den Präsidenten, den Volkermord an den Armeniern anzuerkennen, bestätigt werden sollte oder nicht.

Besprochen werden die Neuordnung der Kunstsammlung K20 (mehr hier) in Düsseldorf, einige CDs, darunter Aufnahmen von Mahlers Siebter mit Neeme Järvi und Achter mit Paavo Järvi sowie das Album "The five ghosts" der kanadischen Band Stars, ein "Fidelio" in Perm 36, einem ehemaligen sowjetischen Straflager für politische Gefangene, und Bücher, darunter Klaus Wagenbachs Erinnerungsband "Die Freiheit des Verlegers" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Gert Ueding ein Gedicht von Johannes R. Becher vor:

"Der Sommer summt. Das ist die Zeit, zu gehen
Bis an das Ende dieser Welt.
..."

Weitere Medien, 10.07.2010

Vor einigen Tagen hat die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig Selbstmord begangen. Necla Kelek hatte die Richterin vor einigen Wochen getroffen, um sie für Emma zu porträtieren - Emma hat die Reportage jetzt online gestellt. Die Jugendrichterin erklärt ihr das "Neuköllner Modell" für straffällig gewordene Jugendliche, die in Neukölln nicht selten Migrationshintergrund haben: "Bisher war es so, dass drei oder vier Richter für mehrere Polizeiabschnitte zuständig waren. Das ist jetzt anders. Jeder Jugendrichter ist für einen bestimmten Bezirk zuständig und bekommt alle Fälle auf den Tisch. Die Täter können also sicher sein, dass die Richter spätestens beim zweiten Delikt wissen, wen sie vor sich haben. Die Richter können selbst entscheiden, welche Fälle sie mit Priorität verfolgen."

FR, 10.07.2010

Arno Widmann unterhält sich mit dem Verleger Klaus Wagenbach zu dessen morgen anstehendem 80. Geburtstag. Er erfährt auch das Geheimnis eines Verlagsprogramms mit ganz eigener Note: "Herzklausel. Wir machen ein Konsensprogramm. Alle Lektoren müssen zu jedem Titel Ja sagen. Aber es gibt die Herzklausel. Wenn einer einen Titel gegen alle anderen doch machen möchte, dann fragen wir ihn, ob sein Herz daran hängt. Sagt er ja, drucken wir ihn. Ist es dann aber doch nichts Rechtes, dann wird er geschmäht."

Weitere Artikel: Judith von Sternberg würdigt den diesjährigen Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl unter der jirglnden Überschrift "1 gute Wahl". Als neuen Professor an der Frankfurter Städelschule begrüßt Sandra Denicke den Star-Videokünstler Douglas Gordon. In ihrer US-Kolumne bewundert Marcia Pally die Flinkheit der New Yorker Eichhörnchen noch bei allergrößter Hitze. Einem missglückten Dialog zwischen Autor und Journalist widmet Grete Götze eine Times Mager. Georg Imdahl freut sich über die Eröffnung des Anbaus der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und erinnert an deren vor wenigen Tagen verstorbenen Gründungsdirektor Werner Schmalenbach.

Besprochen wird Janelle Monaes Debütalbum "The Archandroid".

Aus den Blogs, 10.07.2010

Nach sieben Jahren entlässt Kuba einige Dissidenten aus dem Gefängnis, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie nach Spanien ins Exil gehen. Daniel Wilkinson kommentiert im Blog der New york Review of Books: "Those prisoner releases were also welcome news at the time each occurred. But they did not bring an end to repression in Cuba. The government never stopped locking up its critics and stifling dissent on the island. There is little reason to think this time will be different."

Welt, 10.07.2010

Günther Nickel ist so weit einverstanden mit dem Büchner-Preis für Reinhard Jirgl und erzählt die Geschichte seines eigensinnigen Werks. Erst mit dem Roman "Abschied von den Feinden" fand Jirgl eine Heimat bei Hanser, erläutert Nickel: "Zu sehr verstörten Jirgls orthografische Eigenheiten, für die meist Arno Schmidt als Vorbild ausgemacht wird. Allein bei der Konjunktion 'und' unterscheidet er zwischen den Schreibweisen 'und', 'u', 'u:', '&', '+', Physiognomien sind bei ihm mitunter 'Fiesiognomien' oder der Kapitalismus ein 'wirrtueller', und bei der Arbeit am und mit dem Mythos mutiert bei ihm dieses Wort schon mal zum 'Mühtos'."

Weitere Artikel: In der Leitglosse nimmt Alan Posener Bezug auf zwei Artikel in der gestrigen FR, die ihm den Ausruf "ekelhaft" abringen. Anders als Arno Widmann (hier) findet er keineswegs, dass die Gründung Israels Unrecht war. Und anders als der pakistanische Blogger Amanullah Jiffarey Kariapper (hier) kann er sich kaum vorstellen, dass jüdische Lobbies an Selbstmordattentaten in Pakistan Mitschuld tragen. Harald Peters hört sich die jüngste Platte der linksradikalen Popmusikerin MIA an. Ulf Poschardt blättert durch einen Band mit Modefotografien der DDR-Zeitschrift Sibylle. Paul Jandl unterhält sich mit dem Direktor der Wiener Albertina Klaus Albrecht Schröder über die Frage, ob Museen Geld von BP nehmen dürfen (für Ölgemälde schon, nehmen wir an). Und Marc Reichwein erstellt für die Reihe "Der Leser, das unbekannte Wesen" eine "Typologie des Bettlesers".

In der Literarischen Welt erzählt die Regisseurin Helma Sanders-Brahms, wie Rossini-Musik und eine Kur in Wildbald ihr bei der Genesung von einer Krebserkrankung halfen. Uwe Wittstock erinnert sich an Begegnungen mit Heinrich Böll. Und Thomas Schmid gratuliert Klaus Wagenbach zum Achtzigsten.

TAZ, 10.07.2010

Wiebke Porombka geht mit dem Verleger Klaus Wagenbach, der morgen seinen 80. Geburtstag feiert, spazieren und alles endet mit Bratkartoffeln und Hacksteak. Aus dem überschuldeten und demoralisierten Spanien liefert Reiner Wandler einen Stimmungsbericht. Doris Akrap unterhält sich mit Paul Sandner, beim Schmetterling-Verlag zuständig für die Linkstheorie-Reihe theorie.org. Tobias Nolte weist auf die alternative Hotlist der kleinen Verlage hin - mögliche Gewinner werden per Internet-Abstimmung mit-vorausgewählt. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne findet Tania Martini nicht den Antikapitalisten, sondern den Spaßbadbereiter Slavoj Zizek unangenehm und gefährlich.

Besprochen werden das neue M.I.A.-Album "Maya" und Bücher, darunter der Sammelband "Ein Paradies für Ethnographen" mit frühen Reportagen von Ryszard Kapuscinski und Stephan Schulmeisters Vorschlag für einen New Deal für Europa "Mitten in der großen Krise" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 10.07.2010

Roman Bucheli denkt über die Verwandtschaft von Literatur und Fußball nach: "Wie Romane sind auch Fußballspiele Weltschöpfungsmaschinen." In der Reihe "Europa - wie weiter?" erinnert John Banville an den jämmerlichen Tod des Keltischen Tigers. Ronald D. Gerste berichtet aus den USA von Protesten gegen die Pläne eines Baukonsortiums, das neben dem Schlachtfeld von Gettysburg ein Spielkasino bauen will. Charles Saatchi will mehr als zweihundert Werke aus seiner Sammlung dem britischen Staat schenken, berichtet Marion Löhndorf. Roman Bucheli meldet, dass Reinhard Jirgl mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird. Thomas Schacher stellt das Programm der Musikwoche Meiringen vor.

In Literatur und Kunst schreibt Georg Kohler zum hundertsten Geburtstag der Philosophin Jeanne Hersch. Abgedruckt ist auch ein Text von Hersch "über die Demokratie und das größte menschliche Geheimnis". Und Uwe Justus Wenzel erkundet ein Motiv im Denken Jeanne Herschs: die existenzielle Leere. Für die Bildansichten betrachtet Anne Weber Joachim Patinirs Gemälde "Saint Jerome dans le desert".

Besprochen werden die Aufführung von Martin Zimmermanns und Dimitri de Perrots Stück "Chouf Ouchouf" mit der Groupe acrobatique de Tanger beim Festival d'Avignon und Bücher, darunter Christoph Simons Roman "Spaziergänger Zbinden" und der Krimi "Und die Nilpferde kochten in ihren Becken" von Jack Kerouac und William S. Burroughs (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 10.07.2010

In einem offenen Brief an Bastian Schweinsteiger zeigt Martin Walser Bewunderung für dessen Kniefall nach der Niederlage von Kapstad: "Sie sollen wissen, Sie hätten uns durch keinen Sieg so faszinieren, so bannen, so für sich einnehmen können, wie durch dieses Hinknien."

Die Literaturseite ist komplett dem Verleger Klaus Wagenbach gewidmet, der seinen 80. Geburtstag feiert. Gewürdigt wird er vom Kollegen Michael Krüger (Hanser) und dem Autor Durs Grünbein, der seine Verehrung, aber auch einige geschmackliche Differenzen zum Ausdruck bringt: "Ich verstehe bis heute nicht seine Abneigung gegen einen gelassenen Aufrechtgänger wie Joachim Fest, ein Neinsager wie er. Einmal gerieten wir auseinander, weil ich Erich Fried, den er für einen großen Dichter hält, nicht die gebührende Achtung erwies. Auch bin ich nicht unbedingt seiner Auffassung, dass der Lyriker Günter Grass unterschätzt wird. Aber das sind insgesamt Kleinigkeiten."

Weitere Artikel: Lothar Müller porträtiert den diesjährigen Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl. Er erklärt auch, warum die Deutschen die "idealen Zuschauer" fürs spanisch-holländische WM-Endspiel sind. Zum Hinknien findet Andrian Kreye das neue Album "Personal Jesus" von Nina Hagen. Die Schwierigkeiten des großen Restitutionsfalls der Privatsammlung Alfred Flechtheim beschreibt Ira Mazzoni. Marc Hoch erinnert zum 15. Jahrestag an das Massaker von Srebrenica und schildert nach wie vor offene Fragen zur Verantwortungskette. Ihr Wissen über den "modernen Yachtbau" gibt Laura Weissmüller weiter. Tobias Lehmkuhl gratuliert dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom zum Achtzigsten. Tanjev Schultz schreibt zum Tod Gerold Beckers, der die Odenwaldschule geleitet und viele seiner Schutzbefohlenen missbraucht hat.

Für die SZ am Wochenende hat Verena Stehle zwei der Hauptdarsteller der "Twilight"-Saga, nämlich Kristen Stewart und Taylor Lautner, getroffen. Tobias Moorstedt hat sich in der Branche der Coaches und Motivationstrainer umgesehen.Auf der Historienseite geht es um den Deutschen Ritterorden und seine vernichtende Niederlage gegen Litauen und Polen in der Schlacht von Tannenberg vor 600 Jahren. Vorabgedruckt wird eine Erzählung von Antonio Tabucchi mit dem Titel "Klappe für den Staatsanwalt". Willi Winkler unterhält sich mit dem Musiker Jeff Beck über "Gitarren".

Besprochen werden Nicole Holofceners Komödie "Please Give" und Klaus Wagenbachs Erinnerungen "Die Freiheit des Verlegers" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).