Heute in den Feuilletons

Im literarischen Straflager

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.02.2012. Joachim Gauck ist der Mann der Stunde, auch in den Feuilletons. Die FAZ erklärt seinen Freiheitsbegriff. Er sei der erste von den Medien gekürte Bundespräsident, gibt die Welt skeptisch zu bedenken. Die taz nörgelt. Die NZZ findet es richtig, dass der Suhrkamp Verlag Robert Service' Trotzki-Biografie veröffentlicht. SZ und Tagesspiegel greifen nochmal in die Kracht-Debatte ein. Der Perlentaucher erklärt, warum gerade die Auskäufer von Autorenrechten den Begriff des "Geistigen Eigentums" so verteidigen.

Welt, 21.02.2012

Eckhard Fuhr denkt eine Weile über die Frage nach, ob Deutschland mit einer Pastorentochter und einem Pastor in den höchsten Ämtern nun protestantischer wird, kommt dann aber auf eine ganz andere Idee: "Neu ist etwas anderes: Joachim Gauck ist der erste Medien-Bundespräsident der Bundesrepublik. Seine Legitimation ist ihm im Wortsinne zugeschrieben. Die Bundesversammlung kann diese Zuschreibung nur notifizieren, worüber verfassungspolitisch zumindest nachzudenken ist."

Weitere Artikel: London-Korrespondent Thomas Kielinger empfiehlt Gauck mit Blick auf seine britische Kollegin auf jeden Fall schon mal "nicht zu viele intellektuelle Klimmzüge". (Hält man nur solange durch, wenn man nicht denkt?) Ulrich Weinzierl nörgelt nach der Vertragsverlängerung an der Berliner Volksbühne über "Frank Castorf ohne Ende". Sven Felix Kellerhoff schreibt zum Tod des Historikers Imanuel Geiss.

Besprochen werden ein "Don Karlos" in Stuttgart und die Ausstellung von Gerhard Richters RAF-Zyklus in der Alten Nationalgalerie Berlin.

FR/Berliner, 21.02.2012

Im Interview mit Robert Rotifer entlarvt Sinead O'Connor die dunklen Mächte der Musikindustrie (die schon die Drogen in die schwarze Community und Vanilla Ice in den HipHop geschleust haben). Und Bono, der in ihrem Song VIP als "schlechter Aprilscherz" wegkommt: "Dieser Song wurde geschrieben, nachdem der Murphy-Report über sexuellen Missbrauch in der katholischen Erzdiözese von Dublin herauskam. Ich dachte mir: Verdammt noch einmal, in 90 Jahren werden die Kinder in der Schule sitzen und lernen, was jetzt passiert ist. Das ist eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte Irlands! Es geht um nichts anderes als um die Befreiung unserer Psyche aus den Ketten der Kirche. Und die Kinder werden fragen: Was haben die Künstler im Jahre 2010 gemacht, als der Murphy-Report herauskam?"

Daniel Kothenschulte begrüßt den Einzug der Chaplin-Sammlung Staudinger ins Frankfurter Filmmuseum. Außerdem interviewt Kothenschulte den Regisseur Stephen Daldry zu seinem Film "Extrem laut und unglaublich nah". Besprochen werden unter anderem Armin Petras' Inszenierung von Ibsens Drama „John Gabriel Borkman“ und Hasko Webers Aufführung von Schillers "Don Karlos" in Stuttgart.

Aus den Blogs, 21.02.2012

Eine Stunde Reden übers Netz: Marcel Weiß von Neunetz, Matthias Spielkamp von iRights.info und Thierry Chervel vom Perlentaucher haben sich im Perlentaucher-Büro getroffen und sprachen über den Medienwandel, deutsche Blogs, französische Blogs, Debattenportale, Potentiale von Netzmedien und die Schwierigkeiten bei der Refinanzierung nicht nur, aber besonders in Deutschland.

Die Iranerin Sakineh Mohammadi-Ashtiani, die ursprünglich gesteinigt werden sollte, sitzt immer noch im Gefängnis, um möglicherweise irgendwann gehenkt zu werden. Bernard-Henri Lévys Blog La règle du jeu setzt sich seit langem für sie ein. Nun berichtet es unter Berufung auf iranische Quellen, dass ihr Anwalt Houtan Kian gefoltert worden sei. "Er soll zugegeben haben, dass er 'Propaganda gegen den iranischen Staat gemacht', der nationalen Sicherheit und dem Ruf des Landes geschadet hätte, indem er ausländischen Medien Interviews gab. Und die iranische Justiz soll ihn für sechs Jahre ins Gefängnis geworfen haben."

Der Blogger Stefan Niggemeier ist eigentlich ein entschiedener Verteidiger der Öffentlich-Rechtlichen. Nun muss er Folgendes konstatieren: "In der 'Deutschen Content Allianz' haben sich die Dieter Gornys dieses Landes zusammengeschlossen. Sie versuchen, sich vor dem Ertrinken zu bewahren, indem sie sich gegenseitig umklammern und das Wasser beschimpfen. Es fiele mir leichter, ihnen dabei zuzusehen, wenn nicht ARD und ZDF ohne Not zu ihnen ins lecke Boot gestiegen wären."

Im Blog der NY Review of Books bricht Tim Parks eine Lanze für das E-Book. Denn was wir an gedruckten Büchern lieben – das Papier, das Cover, den Druck - hat nichts mit der literarischen Essenz eines Werks zu tun. "Joyce ist in Baskerville genauso Joyce wie in Times New Roman. Und wir können die Wörter in jeder Geschwindigkeit lesen und unsere Lektüre so oft unterbrechen wie wir wollen. Jemand, der für den 'Ulysses' zwei Wochen braucht, hat ihn nicht weniger gelesen als jemand, der daran drei Monate saß oder drei Jahre. Wir können an einem Text alles ändern – nur nicht die Wörter und ihre Reihenfolge. Das literarische Erlebnis liegt nicht in der Wahrnehmung oder im physischen Kontakt mit dem materiellen Objekt (noch weniger im Besitz schmucker Meisterwerke in unserem Bücherregal), sondern in der Bewegung unseres Geistes durch eine Abfolge von Wörtern von Anfang bis Ende. Mehr als jede anderen Kunstform ist die Literatur rein geistiges Material, näher kommt man dem Denken nicht. Auswendig gelernt ist ein Gedicht in unserem Geist genauso Literatur wie auf einem Stück Papier ist."

Perlentaucher, 21.02.2012

Thierry Chervel erklärt im Perlentaucher, warum gerade die Medien, die in dieser Frage keine Waisenknaben sind, den Begriff des "Geistigen Eigentums" so scheinheilig verteidigen und wirft einen Blick auf die aktuelle Landschaft der Debatte über das Netz: "Die Frage Pro oder Kontra Netz und Pro oder Kontra 'Geistiges Eigentum' wird nicht entlang parteipolitischer, sondern sozialer Positionen beantwortet. Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die Konfliktlinien in Internetdebatten durch alle politischen Richtungen ziehen. Es gibt Internetfeinde in der klassischen wie ökologischen Linken, bei den Liberalen und den Konservativen."

Tagesspiegel, 21.02.2012

Der Spiegel hat sich aus der Debatte um Georg Diez' Polemik zu Christian Krachts Roman "Imperium" gewunden, indem er seine Spalten für Krachts Verleger Helge Malchow öffnete. Irgendwie billig, findet Gerrit Bartels: "'Der Text von Diez hat eine Debatte über die Methoden der Literaturkritik ausgelöst', steht scheinheilig über Helge Malchows Text – dabei ist es vor allem die Methode der Diez-Kritik, um die es geht. Wäre diese nicht so danebengegriffen, müsste man fast Mitleid mit Diez bekommen. Im eigenen Haus mag anscheinend auch niemand so recht eine Lanze für ihn brechen. Oder zumindest präziser erklären, wie es sich mit Krachts Literatur nun wirklich verhält."

TAZ, 21.02.2012

Die taz wäre nicht zufrieden mit einem neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Anja Maier macht er ein schlechtes Gewissen: "Nicht jeder Ostdeutsche hat nun mal so eine vorzeigbare Biografie wie Pfarrer Gauck aus Rostock. Viele waren einfach nur Mitläufer auf der Suche nach dem privaten Punk." Daniel Bax wirft ihm einen "oberflächlichlichen Freiheitsbegriff" vor und sammelt Stimmen von einigen Linken, die Gauck ein "reaktionäres Weltbild" vorwerfen und wie Daniela Dahn fürchten, er könne mit seiner Kritik am real existierenden Sozialismus ins "Fahrwasser einer Relativierung der NS-Vergangenheit" geraten. Deniz Yücel kotzt dem "eitlen Zonenpfaffen" gleich auf die Krawatte.

Nur Jürgen Trittin verteidigt Gauck im Interview: Erstens war der Kandidat sein Vorschlag und zweitens haben die Grünen "Frau Merkel nach der Abschaffung der Wehrpflicht, nach dem Atomausstieg auch in der Frage des Bundespräsidenten unsere Position aufgezwungen".

Im Kulturteil nimmt Julia Grosse den Religionsrummel in Britannien aufs Korn. Jürgen Gottschlich berichtet von der Stilllegung des einst von deutschen Architekten erbauten Istanbuler Bahnhofs Haydarpasa. Besprochen werden die Retrospektive von Thomas Ruff im Münchner Haus der Kunst, die Aufführung von David Martons "Wohltemperiertes Klavier" an der Berliner Schaubühne und Bill Cleggs Roman "Porträt eines Süchtigen als junger Mann" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 21.02.2012

Ganz richtig findet Ulrich M. Schmid die Entscheidung des Suhrkamp Verlags, Robert Service' Trotzki-Biografie zu veröffentlichen, die der trotzkistische Gralshüter David North, der amerikanische Historiker (und selbst Trotzki-Biograf) Bertrand Patenaude sowie vierzehn deutsche Historiker und Soziologen verhindern wollten: "Weder North noch Patenaude haben Argumente vorbringen können, die Service' grundsätzliche Kritik an Trotzkis revolutionärem Fanatismus und seiner Gewaltbereitschaft entkräften. Trotzki setzte den Roten Terror im Jahr 1918 mit eiserner Faust um, organisierte die ersten Konzentrationslager und ließ den Aufstand der Kronstädter Matrosen 1921 blutig niederschlagen. Ein Publikationsverzicht würde der öffentlichen Debatte im deutschsprachigen Raum einen wichtigen Forschungsbeitrag vorenthalten, der Trotzkis historische Rolle in einem breiteren Kontext untersucht." (Hier North' Text von der Seite der Vierten Internationale zur Debatte, hier der Brief der Wissenschaftler an den Suhrkamp Verlag auf derselben Seite)

Weiteres: Joachim Güntner stellt Harald Welzers Weltverbesserungsinitiative FuturZwei vor. Matthias Weichelt berichtet von einer Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach zu Peter Handke Besprochen werden eine Aufführung von Händels "Alcina" an der Opéra de Lausanne, Ursula Frickers Roman "Außer sich", zwei Bücher zu Gottfried Benns Gelehrsamkeit sowie die Analyse "Privat war gestern" der Anwälte Christian Schertz und Dominik Höch (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

SZ, 21.02.2012

Ziemlich ungeschickt findet Lothar Müller den Versuch Georg Diez' im Spiegel, Christian Krachts Roman "Imperium" als Ausdruck rechten Gedankenguts zu skandalisieren. Aber die Behauptung des Verlegers Helge Malchow, Autor und Romanfigur hätten nichts miteinander zu tun, erscheint ihm auch etwas fadenscheinig. Und so fragt er: "Was hat es damit auf sich, wenn aus der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, in der das Wechselspiel von Rausch und Askese, politischer Desillusionierung und Aufbruch ganzer Heerscharen von Fernreisenden zur prägenden Erfahrung der Nachkriegsgenerationen gehört, ein Roman den Kolonialismus und die Welterlösungsphantasien des deutschen Kaiserreichs in komisch-satirischem Gewande aufleben lässt? Und dies bei einem Autor, der in seinen vorangegangenen Büchern so düstere Welten des Totalitären gezeichnet hat, als müsse er den Rausch des Selbstgenusses im literarischen Straflager durch Selbstkasteiung für seine Exzesse büßen?" Eine Antwort gibt Müller dann aber nicht.

Weitere Artikel: Johan Schloemann meldet, dass sich im griechischen Olympia Kunsträuber beim mangels Budget leichten Einbruch zwar im Museum geirrt, aber dennoch antike Schätze erbeutet haben. Laura Weißmüller weiß, warum das neue Windows-Logo so schlicht ist.

Besprochen werden die Ausstellung mit Bildern von Lucian Freud in der National Portrait Gallery in London, Schillers "Don Karlos" und Sartres "Das Spiel ist aus" am Schauspiel Stuttgart, die Ausstellung über die Kultur der Armenier im Museo Correr in Venedig und Bücher, darunter Ernst Augustins neuer Roman "Robinsons blaues Haus" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.02.2012

Die ganze Seite 1 des Feuilletons ist Joachim Gauck und den Umständen seiner Kür gewidmet. Regina Mönch schreibt in ihrem kleinen Porträt:"Woher kommt Gaucks machtvolle Sehnsucht nach Freiheit? Unter anderem aus der Abwesenheit derselben, eine Kindheitserfahrung schon, wie sie schlimmer kaum sein kann. Der Vater, ein Kapitän, wird 1951 'abgeholt', wie man das damals nannte – ein Synonym für das Verschwinden von Menschen, das aus der anderen, nur wenige Jahre zuvor untergegangenen Diktatur übernommen worden war."

Außerdem lässt Nils Minkmar den denkwürdigen Sonntag Revue passieren. Christian Geyer schreibt über Gaucks Freiheitsbegriff. Und Edo Reents erinnert an eine Begegnung zwischen Gauck und einem anderen großen Rostocker, Walter Kempowski.

Weitere Artikel: Der Autor Aris Fioretis versucht ein Psychogramm des griechischen Vaters. Der Schauspieler Philipp Hochmair erzählt, wie er einmal vor Helmut Schmidt spielte. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Historikers Imanuel Geis. Gerhard Rohde wendet sich gegen den Plan des SWR, seine Sinfonieorchester zu fusionieren. Wiebke Huester kommt beschwingt aus Amsterdam zurück, wo sie meisterhafte Choreografien von und mit Igone de Jongh, Hans van Manen, Anna Tsygankova und Alexej Ratmansky gesehen hat. Gina Thomas berichtet auf der Medienseite von inneren Verwerfungen in Rupert Murdochs Zeitung The Sun.

Besprochen werden Bücher, darunter Michael Axworthys Geschichte des Irans (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).