Heute in den Feuilletons

Als Unausgesprochenes umso mehr präsent

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.04.2012. Im Perlentaucher denkt Pascal Bruckner über das "gute Leben" nach, das jedenfalls nicht in der Preisgabe des westlichen Lebensstils bestehen kann. In der FAZ erzählt Liao Yiwu, warum er das Exil wählte. Die SZ verteidigt die Gema gegen Youtube. Und natürlich Grass: In der Welt nennt Hans-Ulrich Gumbrecht die wahren Gründe für sein Schweigen. Salman Rushdie wendet sich per Twitter gegen das israelische Einreiseverbot. In der New Republic glaubt Jeffrey Herf, dass der linke und linksliberale Mainstream in Deutschland nicht so weit von Grass abweicht.

Perlentaucher, 10.04.2012

Pascal Bruckner wird auf einem Perlentaucher-Podium auf dem "tazlab" zum "Guten Leben" am Samstag über den "Fanatismus der Apokalypse" sprechen. Im Perlentaucher veröffentlicht er heute einen großen Essay, in dem er unter anderem über das "gute Leben" schreibt und Prediger des Verzichts kritisiert: "Man bringt nicht sieben Milliarden Menschen zur Welt, ohne dass es Folgen hat. Die Auswirkungen müssen korrigiert werden, aber Rückkehr zu biblischer Einfachheit wäre ein Irrweg. Wenn die ganze Welt unseren Lebensstil annimmt, rufen die Heuchler, geht sie unter. Gewiss: aber dann muss man auch nach der Verführungskraft dieses Lebensweges fragen und zugeben, dass er Milliarden Menschen offenbar erstrebenswert scheint. Wir dürfen in Erwartung künftiger Fortschritte nichts von den erreichten preisgeben." Hier das Programm des "tazlabs".
Stichwörter: Apokalypse, Bruckner, Pascal

Weitere Medien, 10.04.2012

Jeffrey Herf, Autor eine Buchs über deutsche Vergangenheitsbewältigung in Ost und West, widerspricht in der New Republic Günter Grass in einem Punkt sehr entschieden: "There has been no silence in Germany, especially in such places as Der Spiegel or the Süddeutsche Zeitung, not to mention among intellectual and political forces to their left, for many decades. On the contrary, hostility to both Israel and the United States, and the view that these two countries are the major threat to world peace, became embedded in the German left-wing and left-liberal mainstream many decades ago."

New-York-Times-Autorin Margaret Talbot gewann beim Sichten der HBO-Serie "Girls" folgende Erkenntniss, die alle Religiösen, Kulturkonservativen und Reinheitsfanatiker egal welcher Couleur bedenken sollten: "Societies in which the sexes are more equal are societies in which people have more sex."

TAZ, 10.04.2012

Comedian Oliver Polak protokolliert, wie unappetitlich ihn Günter Grass' Israel-Gedicht erwischte. Und Moshe Zuckermann findet auf der Meinungsseite generell den Antisemitismus-Vorwurf inflationär gebraucht: "In Deutschland ist sie mittlerweile zum zentralen Faktor der Degeneration der öffentlichen Debatte im Hinblick auf alles, was 'Juden', 'Israel' und den 'Zionismus' belangt, avanciert."

Helmut Merker berichtet vom Filmfestival in Hongkong, das weiter auf die Magie des Kung-Fu setzt: "Hongkongs Filmindustrie produzierte in den Goldenen Siebzigern jährlich bis zu 300 Filme, im Jahre 2011 nur noch 50. Nun steckt sie in der Zwickmühle. Es lockt ein riesiger neuer Markt, es schreckt eine schizophrene Zensur."

Cigdem Akyol berichtet, dass auf die Schweizer Weltwoche Anzeigen wegen Volksverhetzung hagelten nach ihrem Titel: "Die Roma kommen: Raubzüge in der Schweiz". Besprochen werden die Ausstellung zu Claude Lorrain im Frankfurter Städel und die neue Ausgabe der Zeitschrift "Kultur & Gespenster".

Und Tom.

Aus den Blogs, 10.04.2012

Grass-Verehrer Salman Rushdie twittert zum israelischen Einreiseverbot: "OK to dislike, even be disgusted by #GünterGrass poem, but to ban him is infantile pique. The answer to words must always be other words."

Richard Herzinger veweist in seinem Grass-Kommentar auf einen älteren Text, in dem er erklärte, warum Israel seine Atombewaffnung nie offiziell zugab: "Gegenüber radikalen Kräften in der arabischen Welt, die auf eine Mobilmachung gegen Israel drangen, konnten die arabischen Führer stets darauf verweisen, dass eine kriegerische Beseitigung Israels unmöglich sei. Indem Israel seine Atombewaffnung freilich nie öffentlich zugab, fiel für die arabischen Mächte auch der Druck weg, zwecks Gesichtswahrung ihrerseits nach Nuklearwaffen zu streben. Die stillschweigende Ausklammerung der israelischen Bombe aus dem offiziellen politischen Diskurs begründete eine Art Gentlemen's Agreement im Nahen Osten, mit dem alle Beteiligten gut leben konnten."

Facebook kauft den Foto-App-Erfinder Instagram mit seinen 13 Angestellten für eine Milliarde Dollar. Kim-Mai Cutler kommentiert in Techcrunch: "Even now, it's still shocking how the remarkably low distribution costs of the web can change a founder's fate overnight. Many startups are duds, and most grow at a clip that's just not fast enough to justify an interesting valuation. But once in awhile, a company comes along and just nails it. The right timing. The right market. The right place."

Welt, 10.04.2012

In der Welt am Sonntag überlegte Hans Ulrich Gumbrecht, was ihn an dem Grass-Gedicht am meisten gestört hat: "Was mich vor allem irritiert, ist die zur Gewissheit werdende Intuition, dass das 'Schweigen', das Grass mit retrospektivem Selbstmitleid schon im Titel seines Textes bricht, jenes Schweigen ist, das sich Nationalsozialisten und vor allem Mitglieder der SS nach dem 8. Mai 1945 auferlegt hatten. Sie taten es nicht ohne Druck seitens des neuen Staats und der alliierten Besatzungsmächte, aber vor allem, um sich Karrieren, Einkünfte und Prestige zu sichern. Die nationale Vergangenheit und ihre unauslöschbare Schuld sollten latent werden, Teil dessen, was sie 'hinter sich lassen' wollten - und was für die nach ihnen in Deutschland Geborenen als Unausgesprochenes umso mehr präsent blieb."

In der heutigen Welt stellt Wolf Lepenies ein wiederentdecktes Manifest zur Pressefreiheit vor, das Albert Camus 1939 nicht im Soir republicain veröffentlichen durfte: "Camus wehrte sich gegen die Beschränkungen, die der Presse im Krieg auferlegt wurden. Wie konnte ein Journalist seine Freiheit gegenüber der Zensur aufrechterhalten? Camus nannte vier Mittel: Klarheit, Widerspruch, Ironie und Eigensinn."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek fürchtet um Variety, die bedeutendste Filmbranchenzeitschrift, die jetzt zum Verkauf steht. Ansgar Graw schreibt zum Tod des amerikanischen Journalisten Mike Wallace. Besprochen werden eine Inszenierung von "Joseph und seine Brüder" am Deutschen Theater Berlin, die Ausstellung über Herwarth Waldens Galerie "Der Sturm" im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal und ein Konzert von Scooter in Berlin.

Zwei Artikel von Samstag sind noch nachzutragen - Henryk Broder meint: "Doch, es geht um Antisemitismus". Und Daniel Goldhagen fragt: "Muss man die Deutschen wieder an historische Fakten erinnern?"

FR/Berliner, 10.04.2012

Christian Thomas erlebte die Osterfeiertage als Passionsgeschichte mit Günter Grass. Besprochen werden Richard Jones' Inszenierung von Leos Janáceks Oper "Die Sache Makropulos" in Frankfurt und eine Turner-Ausstellung in der National Gallery in London.

NZZ, 10.04.2012

Roman Bucheli ärgert sich, dass es Günter Grass mit seinen "egozentrisch wehleidigen" Auslassungen geschafft hat, die Diskussion zu kapern. Angela Schader berichtet von der neuen Rassismusdebatte, der sich die USA nach dem Tod des schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin, der neuesten "Mad Men"-Staffel und Reaktionen auf den Film "The Hunger Games" stellen müssen. Joachim Güntner gratuliert dem Thomanerchor zu seinem achthundertjährigen Bestehen.

Besprochen werden unter anderem Georges Perros' Gedichtroman "Luftschnappen war sein Beruf" und Matthias Nawrats Roman "Wir zwei allein" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 10.04.2012

In der Urheberrechtsdebatte singt Jens-Christian Rabe ein Loblied auf die Gema und die Verwerterindustrie und wünscht sich von YouTube eine exaktere Formulierung des bekannten Gema-Sperrtexts. Weit interessanter ist eine Beobachtung, die er unter Leuten aus der Indie-Branche gemacht hat: "Das illegale Filesharing ist nicht unbedingt ihr größtes Problem. Sie goutieren es allerdings auch nicht. ... Was sie jedoch wirklich besorgt, ist die scheinbar unaufhaltsame Monopolisierung im Netz, die es kleineren Labels immer schwerer macht, ihre Angebote bei den wenigen zentralen Anbietern noch wahrnehmbar zu platzieren. Diese Plätze sichern sich immer aggressiver die Branchenführer".

Weiteres: Johannes Wilms liest Michel Treguers "Avec le temps", eine Recherche über Kollaborationen mit Nazi-Besatzern in einem französischen Dorf, deren Verbreitung kürzlich in zweiter Instanz wegen der Verletzung der Persönlichkeitsrechte eines Bewohners aus der Region untersagt wurde. Gustav Seibt liest "Faust"-Exegeten im Laufe der Geschichte. Alexander Menden spricht mit dem Komponist Rufus Wainwright, der von der Oper zurück zum Pop gefunden hat. Joseph Hanimann blickt in Debatten des französischen Wahlkampfs. Gottfried Knapp flaniert in Wien durch einen ganzen Reigen von Ausstellungen zum 150. Geburtstag von Gustav Klimt.

Besprochen werden der Naziufo-Film "Iron Sky", Konstanze Lauterbachs Inszenierung der tschechischen Nationaloper "Sarka" mit blassen Männern und umwerfenden Frauen im Staatstheater Braunschweig, Alize Zandwijks Inszenierung von Thomas Manns Roman "Joseph und die Brüder" am Deutschen Theater in Berlin und Sven Hillenkamps Geschichtensammlung "Fußabdrücke eines Fliegenden" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.04.2012

In der Sonntags-Faz kann Marcel Reich-Ranicki im Interview eigentlich nur einen Grund für das Grass-Gedicht entdecken: "Er, Grass, war immer schon an Sensationen, an Affären, an Skandalen interessiert. Mit seinen Gedichten hat er wenig erreicht, Romane hat er nur einen wirklich sensationellen geschrieben, die 'Blechtrommel'. Mit seinem literarischen Werk hat er erreicht, was er erreichen konnte, mehr hat er nicht zu bieten. Und dass er jetzt die Juden attackiert, das ist kein Zufall. Er hat etwas verstanden, was ein anderer vor ihm genau so verstanden hat. Und dieser andere ist Martin Walser. Er hat verstanden: Wenn man die Juden attackiert, kann man damit allerhand erreichen. Und in der Tat haben beide, er und Walser, viel erreicht."

Liao Yiwu erzählt die Geschichte seiner Flucht aus China (über Vietnam) und erklärt, warum er das deutsche Exil wählte: "Ich will nicht noch einmal ins Gefängnis, und schon gar nicht will ich für diejenigen, die außerhalb der Gefängnismauern sind, zum 'Symbol der Freiheit' werden. Ich musste raus aus diesem Gefängnis namens China, um endlich schreiben und veröffentlichen zu können, was ich will. Es ist meine Pflicht, der Welt die Augen zu öffnen über dieses China."

Weitere Artikel: Die Seite 1 des Feuilletons ist noch ganz Grass' "Gedicht" gewidmet. Louis Begley bekennt seine Empörung. Joseph Croitoru sammelt Stimmen aus arabischen Ländern (die meisten verteidigen Grass). Jordan Mejias liest amerikanische Reaktionen, unter anderem Jonathan S. Tobin in Commentary (hier): "Dass eine solche Person als Gewissen seiner Nation angesehen wird, spricht Bände über den heruntergekommenen Zustand des intellektuellen Diskurses im gegenwärtigen Europa." (Als einen weiteren krassen Fall nennt er Emma Thompsons Aufruf, ein israelisches Theater von einem Festival im Globe Theatre auszuschließen, der unter anderem von Filmregisseur Mike Leigh und vielen anderen Theater- und Filmleuten unterzeichnet wurde, mehr hier und hier.) Im politischen Teil wird über das israelische Einreiseverbot für Grass berichtet, das von vielen israelischen Stimmen (wie Avi Primor oder Joram Kaniuk) kritisiert wird. Außerdem besucht Stephan Templ Mies van der Rohes gründlich renovierte Villa Tugendhat in Brünn.

Besprochen werden John von Düffels Dramatisierung von Thomas Manns Josephs-Roman am Deutschen Theater Berlin, Simon Stephens Stück "Wastwater" in Köln, Istvan Szabos Film "Hinter der Tür", Leos Janaoceks Oper "Die Sache Makropoulos" in Frankfurt und eine Ausstellung über den Dreißigjährigen Krieg in Brandenburg.