Heute in den Feuilletons

Geiles atonales Nichts

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2013. Die NZZ erzählt, wem Büchner seinen physiologischen Blick auf die Welt verdankt. In der Welt rühmt Ian McEwan die großen Agentinnen. Die taz verfällt dem akustischen Klöterkram von Dino Valente. Die SZ stellt die Phantastische Bibliothek in Wetzlar vor. In der FAZ erinnert sich Monika Maron an Gert von der ZAD.

NZZ, 19.10.2013

In einem schönen Essay zum Büchner-Jubiläum unternimmt Manfred Koch unter anderem eine Ehrenrettung für Büchners Vater, den Medizinalrat Ernst Büchner: "Immerhin erwirkte er für Georg die Sondergenehmigung, die das Studium in Frankreich ermöglichte. Er lenkte - als ehemaliger Militärarzt unter Napoleon - das Interesse des Sohns auf die Geschichte der Französischen Revolution. Und nicht zuletzt führte er ihn ein in die Welt der Anatomie und lehrte ihn den physiologischen Blick, der zu Büchners stärkster literarischer Waffe wurde."

Zwei weitere Artikel in Literatur und Kunst sind Büchner gewidmet: Michael Hagner stellt Büchner als Anatom und Hirnforscher vor. Corinne Holtz sucht nach musikalischen Motiven in Büchners Werk. Außerdem schreibt Klaus Bartels über die Christianisierung antiker Monumente durch Papst Sixtus V. im 16. Jahrhundert.



Fürs Feuilleton berichtet Joachim Güntner über Leipziger Feierlichkeiten und Ausstellungen zur Völkerschlacht (und beschwört das zuweilen unterm Spektakel begrabene Grauen dieser Schlacht). Samuel Herzog flaniert über 12. Kunstbiennale von Lyon. Und Andrea Köhler liest Dave Eggers' Internet-Satire "Circle".

Spiegel Online, 19.10.2013

Ziemlich entgeistert reagiert Georg Diez auf die Feindseligkeit, die Edward Snowden und Glenn Greenwald in nicht wenigen amerikanischen und britischen Medien entgegenschlägt: "Wie ist denn dieses Gift in die Köpfe von Journalisten gedrungen? Wie können sie in einem freien Land tatsächlich solche Orwell-Sätze schreiben, dass der Staat schon wissen wird, was gut für uns ist? Ist das nur die Angst um die eigene Position, die Angst vor der medialen Herausforderung durch 'das Internet'?"

Welt, 19.10.2013

In der Literarischen Welt spricht Ian McEwan im Interview über seinen Spionageroman "Honig", seine Heldin Serena und die Siebziger, als Frauen begannen, auch den Geheimdienst zu erobern: "Stella Rimington, die erste Frau an der Spitze des MI5, hat mich fasziniert - vor allem ihr Memoire, in dem sie beschreibt, dass es Anfang der Siebzigerjahre immer noch so schien, als könnten Frauen sich nicht durch Hierarchien nach oben bewegen. Vor allem nicht beim Geheimdienst. Weil sie keine Geheimnisse für sich behalten könnten. Dabei waren die großen Verräter in der britischen Geschichte alle Männer."

Außerdem: Richard Kämmerlings verteidigt im Aufmacher den Kritiker-Blurb. Henryk M. Broder verabschiedet mit MRR eine ganze Generation jüdischer Autoren, "die keine 'Planungssicherheit' kannte".

Besprochen werden u.a. Barbara Vinkens Buch "Angezogen", eine Philosophiegeschichte von Manfred Geier, Andreas Maiers Roman "Die Straße", Petra Hulovás Hurenroman "Dreizimmerwohnung aus Plastik" und Tim Bonyhadys Band "Wohllebengasse" über seine jüdische Kunsthändlerfamilie, die 1938 von Wien nach Australien floh.

Im Feuilleton verteidigt Ulf Poschardt den Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, an dem er eine "öffentliche Hinrichtung" statuiert sieht. Eckhard Fuhr fragt sich in der Leitglosse, was eigentlich vom Bauhaus-Direktor in Dessau erwartet wird, dessen Stelle neu ausgeschrieben werden soll. Tilman Krause bittet Edda Moser zu Tisch. Michael Stürmer hörte in der American Academy am Berliner Wannsee eine Rede über Carl Friedrich von Weizsäcker als Atombombenforscher.

Besprochen werden Katy Perrys Album "Prism", Verdis von Stefan Herheim in London inszenierte Oper "Die sizilianische Vesper" und Ulrich Ritzels Krimi "Trotzkis Narr".

TAZ, 19.10.2013

Diedrich Diederichsen schwärmt vom verkifften Glück in Mono, das ihm die Vinyl-Wiederveröffentlichung des einzigen Albums des in Vergessenheit geratenen Folkmusikers Dino Valente beschert: Spätestens auf der zweiten Seite "geht es immer tiefer in eine ätherische Abgedrehtheit (...). Valente umschmeichelt und umzirpt seine imaginären (weiblichen) Gegenüber mit immer neuen Stimmpersönlichkeiten, schlängelt sich durch Szenarien, die ihm selbst bald entgleiten (...), schwingt sich zu ganz großen Gefühlen auf, wenn auch immer souverän durch die Nase serviert, und kippt schließlich in ein geiles atonales Nichts mit bassig verwundeten Hauch- und Klagetönen, Flöten und akustischem Klöterkram."

Weitere Artikel: Stefan Reinecke spricht mit dem Historiker Peter Brandt, der gerade ein Buch über seinen Vater Willy verfasst hat. Lucy Fricke begibt sich in der Ortschaft Tielenhemme auf Spurensuche nach der Dichterin Sarah Kirsch, die sich einst dorthin zurückgezogen hatte. Fernerhin bringt die taz einen Erfahrungsbericht des Schriftstellers Arnon Grünberg, der sich freiwillig in eine psychiatrische Anstalt begeben hat.

Auf der Medienseite empfiehlt Michael Brake die 112. Ausgabe des Comicmagazins Strapazin, das sich thematisch mit Fernsehserien befasst. Hier kann man es lesen und bestellen.

Besprochen werden die Ausstellung "Auf den Spuren der Irokesen" im Martin-Gropius-Bau in Berlin und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Jacob Taubes (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr)

Und Tom.

Aus den Blogs, 19.10.2013

Und hier noch "10 Vagina Cakes For Baby Showers That Are Disturbing And Awesome".

SZ, 19.10.2013

Kathleen Hildebrand stellt die in Wetzlar ansässige Phantastische Bibliothek vor, die mit einer Viertelmillion Bücher aus Science Fiction und Fantasy den weltweit größten öffentlichen Bestand dieser Genres verwaltet. Das macht sie mittlerweile auch als Ideenpool für Firmen und Regierungen interessant: "Wenn eine Firma der Bibliothek einen Forschungsauftrag gibt, dann lesen Le Blanc und seine beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Hunderte Romane und durchsuchen sie nach Ideen. ... Mit Prognosen aus der Science-Fiction liegt man selten ganz daneben: Es wird einfach alles wahr."

Außerdem: Jörg Häntzschel liest "The Circle", den neuen, gerade in den USA erschienenen Roman von Dave Eggers, der sich dem Trend unter amerikanischen Schriftstellern anschließt, das Internet zu verteufeln. Gerhard Matzig ärgert sich darüber, wie in Hamburg architektonische Erinnerungen an die Nazizeit für mondäne Townhouses aus dem Stadtbild getilgt werden. Felix Stephan hört sich auf Youtube eine Vorlesung des Harvard-Professors Michael Sandel zum Thema "Gerechtigkeit" an:



Auch wenn seine Zuschauerzahlen mittlerweile im tiefsten Bereich dümpeln, ist Harald Schmidt noch immer fürs aasige Feuilletongespräch gut: So ätzt er Hilmar Klute auf der Medienseite allerlei Abfälliges zum Medienbetrieb ins Mikro, auch wenn seine Zynismen auch schon mal frischer wirkten. Sagt er auch selbst: "In gar keinem Fall bastle ich an neuen Ideen."

Besprochen werden eine Géricault-Ausstellung in Frankfurter Schirn, ein Konzert der Grunge-Rocker Pearl Jam, Niko von Glasows Film "Mein Weg nach Olympia" und Bücher, darunter Leander Haußmanns Memoiren (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende empört sich Heribert Prantl nach den jüngsten Flüchtlingstragödien vor der italienischen Küste über die Flüchtlingspolitik der EU: "Kaum waren die alten Mauern zwischen Ost und West gefallen, hat Europa damit begonnen, neue Mauern zu bauen. Sie bestehen aus Paragrafen, aus Visasperren und Überwachungstechnik." Außerdem staunt Harald Hordych über das Präzisionshandwerk der Uhrenmacher, und Martin Zips porträtiert den österreichischen Jazzer Marcus Füreder alias Parov Stelar, der auf seiner Website ausführlich in sein Werk reinhören lässt.

FAZ, 19.10.2013

Im Zweigenerationengespräch mit Beatrix Schnippenkoetter erinnert sich Monika Maron an ihre Kindheit: "Als wir einen Hund hatten, bin ich gern zu ihm in die Hütte gekrochen. Die war groß und hatte zwei Räume. Der Hund hieß 'Gert von der ZAD', was wohl Zentrale Ausbildungsdienststelle bedeutete. Er war ein großer Schäferhund, ein ausgemusterter Polizeihund, der nicht schussfest war und unter den Tisch kroch, wenn es irgendwo knallte." Und nebenan behauptet Marons Enkel Anton über Großeltern: "Sie sind nicht so streng wie die Eltern."

In der Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Marbacher Literaturarchiv lernt Hubert Spiegel: "Nie setzte der Reclam Verlag mehr Exemplare von Goethes 'Faust' ab als in den Jahren zwischen 1914 und 1918" - vor allem aber präsentiert die Ausstellung Texte von über den Krieg aus Schriftstellerarchiven. Wolfgang Günter Lerch schildert die Bedrängnis orientalischer Christen. Hannah Lühmann besucht den Berliner Ableger der evangelikalen Kirche des Pasators und Obama-Freundes Rick Warren, der Verzicht auf Sex vor der Ehe predigt und Homosexualität verurteilt. Auf der Medienseite stellt Astrid Kaminski die schicke Beiruter Zeitschrift The Outpost vor.

Besprochen werden die große Géricault-Ausstellung in der Schirn und Bücher, darunter eine neue Anne-Frank-Gesamtausgabe.

Die Frankfurter Anthologie präsentiert Marcel Reich-Ranickis Deutung eines Gedichts von Gustaf Gründgens:

"Gräfin, dazu bin ich zu vornehm,
ich bin so schrecklich vornehm,
o Gott, wie bin ich fein,
es ist nicht auszuhalten! (...)"