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Theater der Grausamkeit

Von Peter Truschner
01.11.2019. Die Serien, an denen Roger Ballen aktuell arbeitet, beschäftigen sich unter anderem mit Mäusen und Bildern von Rohrschach-Tests. Aber egal, ob es bunter wird oder wieder schwarzweiß, ob gegenständlich oder abstrakt, oder ob er, wie in der aktuellen Pariser Ausstellung, Räume inszeniert:  Letztlich befindet man sich immer auf irgendeine Weise im "House of the Ballenesque".
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Roger Ballens Fotografien gehören zu jener Art, vor denen die Betrachter in Erstaunen geraten - gleichgültig, ob sie sie zum ersten Mal sehen oder schon wiederholt in Ballens Kosmos eingetaucht sind: kellerartige Räume ohne Fenster, deren Wände von den hingekritzelten, umrisshaften Köpfen und Figuren bedeckt sind. Menschen vom Rand der Gesellschaft, die gezeichnet sind von Armut, geringer Bildung und mentaler Beeinträchtigung, haben darin mit Vögeln, Katzen und Ratten Umgang wie mit Messer und Gabel, während die Tiere sich unter den Menschen wie unter ihresgleichen bewegen. Alltagsgegenstände wie Sofas und Puppen in unterschiedlicher Größe sowie artifizielle Objekte - Masken, Gebilde aus Draht und Karton -, bilden zu Beginn die Ausstattung dieser bizarren Traumlandschaft, verdrängen mit der Zeit jedoch zusehends die Menschen und werden zu den eigentlichen Akteuren dieses sich immer wieder erneuernden Kammerspiels, auf das Ballen nicht zuletzt auch wie in einen Spiegel blickt.

Roger Ballen © Peter Truschner




























Roger Ballen wird 1950 in New York geboren. Während der Vater ein rationaler Mensch ist und mit Kunst wenig anfangen kann, betreut die Mutter Adrienne das Archiv der kurz zuvor gegründeten Fotoagentur Magnum, sammelt Fotografie und stellt sie später als eine der ersten in einer eignen Galerie aus. Fotografen wie Cartier-Bresson oder Andre Kertesz, die für Ballen prägend werden sollten, gehen im elterlichen Haus ein und aus, der junge Roger beginnt im Alter von dreizehn Jahren zu fotografieren.
Obwohl eine Karriere als Fotograf in New York buchstäblich auf der Hand zu liegen scheint, wechselt er von der Ost- an die ungleich liberalere, hippiebewegte Westküste. Er studiert zuerst Psychologie in Berkeley, bereist in den siebziger Jahren fünf Jahre lang die Welt und macht zuletzt  seinen Doktor in Geologie in Denver - ein Ausbildung, die ihm später einen Brotberuf und damit die Möglichkeit beschert, der Fotografie ohne finanziellen Druck nachzugehen.

Anfang der achtziger Jahre lernt er seine Frau Lynda kennen und zieht in das Land, aus dem sie kommt: Südafrika - ein Land, in dem zu dieser Zeit die Apartheid herrscht, gegen das international Sanktionen verhängt sind und das kulturell und politisch vom Rest der Welt regelrecht abgeschnitten ist. Auf den ersten Blick eine deprimierende Situation, über die Ballen jedoch sagt: "Ich war lange Jahre weit weg von allem, musste auf mich allein gestellt meine eigene Sprache entwickeln."

Wer Roger Ballen begegnet, lernt einen aufmerksamen, fokussierten und an einem profunden persönlichen Austausch interessierten Mann kennen, der es versteht, die Leute in seinen Bann zu ziehen. Gleichzeitig scheint unausweichlich der Einzelgänger durch, der sich als Außenseiter begreift und sich wiederum zu Außenseitern hingezogen fühlt, nicht zuletzt in der Kunst. Kein Wunder also, dass er mit der New Yorker Mentalität bis heute nichts anfangen kann, in der es nur "darum geht, sich einer grade angesagten Richtung anzuschließen, um zu Geld und Bekanntheit zu kommen".

Stattdessen zieht es ihn, kaum dass er in Johannesburg angekommen ist, ins Hinterland, zu den abgelegenen Gehöften und Siedlungen verarmter, von der Welt vergessener und parziell  von Inzucht geplagter burischer Farmer. Sein Ansatz ist zu Beginn ein dokumentarischer, an Walker Evans und Diane Arbus orientiert - überwiegend lichtdurchflutete Schwarzweißaufnahmen einfacher Leute, die ruhig dastehen und frontal in die Kamera blicken. Erste Serien wie "Platteland" (1994) machen ihn in der Szene schlagartig bekannt. Inzwischen weltberühmte Fotos wie das der Zwillinge Dresie und Casie (hier) schaffen es zudem, das Selbstbild der Buren als weiße Herrenrasse subtil, aber nachhaltig zu demontieren.

Um 1997 gibt Ballen seine Erkundungen unter den überwiegend weißen Bewohnern des südafrikanischen Hinterlands auf. Gleichzeitig wendet er sich vom rein dokumentarischen Zugang ab und öffnet seine Arbeit für Ansätze aus der bildenden Kunst und der Literatur. In schäbigen Hütten, Männerheimen, Unterkünften von Obdachlosen und billigen Baracken von Minenarbeitern findet er jene Menschen und Räume, die ihm dabei helfen, die Bausteine für die Formensprache jener Welt zu entwickeln, deren wesentliche Eigenschaft am Ende darin bestehen wird, ballenesque zu sein. Die Räume sind eine Art Provisorium, eine nur vorübergehend und unzulänglich gebändigtes Chaos, dessen Bewohner - Menschen wie Tiere - nicht wirklich wissen, wie lange sie sich darin aufhalten oder - falls es sich um willkürlich besetzten Raum handelt - wann sie daraus vertrieben werden.

© Roger Ballen




























Die prekären und chaotischen Lebensverhältnisse kommen Ballen entgegen, der die Welt selbst für ein nur mühsam in die Schranken gewiesenes Chaos hält und die Zivilisation für eine allzu dünne Eisschicht über dem Strom ewig gleicher, archetypischer Ängste und Begierden. Einen nachhaltigen Eindruck dieses Szenerie vermittelt das Video "Roger Ballen's Outland" von B. J. Grossman - die Absurdität von allem, die Ballen in Anlehnung an Samuel Beckett dem menschlichen Leben und Handeln als Diagnose stellt, findet hier ihren ebenso schrägen wie lebensbejahenden Ausdruck.



Die Denkfigur des Jungschen Archetypus hat für Ballen in seiner Herangehensweise immer eine Rolle gespielt. Ein gelungenes Foto oder Kunstwerk besitzt seiner Meinung nach potenziell auch "die archetypische Kraft, sich in einer Mikrosekunde im Gedächtnis festzusetzen" und etwas weit über es selbst und seinen Kontext hinaus Reichendes zu bedeuten.

Für seine Arbeit mit den Marginalisierten der Gesellschaft, die die Serien "Outland" (2000) und "Shadow Chamber" (2004) kennzeichnen, ist Ballen immer schon dahingehend kritisiert worden, dass er deren geistige, körperliche oder soziale Benachteiligung für seine künstlerischen Zwecke ausnutze und vorführe. Es ist bemerkenswert, wie sicher und gelassen Ballen diesen Vorwürfen begegnet. "Meine Kritiker haben in Wahrheit keine Ahnung von der Wirklichkeit, in der ich mich bewege, oder von den teils tiefen Beziehungen, die ich zu den Leuten unterhalte, die auf meinen Fotografien zu sehen sind."

Mit manchen Räumen und deren Bewohnern setzt er sich über lange Jahre auseinander, nutzt sie regelrecht als Studio. Etwa das Haus der Familie Beanhead, deren Wände von Kohle- und Kreidezeichnungen der Kinder Madeleine und David übersät sind. Die Zeichnungen werden immer wieder durch andere ersetzt, so dass letztlich nur Ballens Fotografien Zeugnisse ihrer Existenz abgeben.

Colin Rhodes vergleicht diese Durchdringung von Kunst und Leben, die in Grossmans Video augenscheinlich wird, mit dem mittelalterlichen Karneval, wie ihn Michail Bachtin brillant dargestellt hat. Der Körper, ja, Mensch als solches ist im Karneval, in dem sich die (Herrschafts-)Verhältnisse auf den Kopf stellen, ein offner, geradezu grotesker, kein in sich geschlossener, stabiler. Ebenso gibt es keinen Unterschied zwischen Teilnehmer und Zuschauer - Karneval betrachtet man nicht, man lebt in ihm.

Sowohl im ephemeren Charakter des Vorgangs, der Einfachheit der Materialien und der instinktiven Ursprünglichkeit ihres Einsatzes korrespondieren die Kinderzeichnungen an den Wänden dabei den künstlerischen Ansätzen, die für Ballen in dieser Phase seiner Entwicklung von Bedeutung sind. Etwa die Mitglieder der Gruppe Cobra, Karel Appel und vor allem Jean Dubuffet, deren Ästhetik sich aus den künstlerischen Erzeugnissen von kleinen Kindern oder psychisch Beeinträchtigten speist. Dubuffet möchte "das Denken auf einer Entwicklungsstufe einfangen, bevor es zu ausgearbeiteten Ideen werden konnte" und gibt der so betriebenen Kunstrichtung den Namen "Art Brut" - Kunst, die Ballen über Jahre suchen und ebenso sammeln und in seine Arbeiten integrieren wird  wie zufällig auf der Straße gefundene und auf den ersten Blick belanglose Gegenstände. Ein Verfahren, dessen Koordinaten "Zufall" und "Banalität" wiederum auf einen weiteren, für Ballen prägenden Einfluss verweisen: die automatischen, vom Momentum geprägten Kunstprozesse der Surrealisten um André Breton und das "Objet trouvé" Marcel Duchamps.

In der großen Ausstellung in der Halle Saint Pierre in Paris und dem gleichnamigen, bei Thames & Hudson erschienen Buch gibt es nun neben über hundert teils ikonischen Schwarzweißfotos zum ersten Mal konzentriert eine weitere Entwicklungsstufe von Ballens Werk zu besichtigen: die in den Raum ausgreifenden Installationen, die aus unzähligen Zeichnungen, Masken, Puppen, absurden Objekten, bemalten Einrichtungsgegenständen gebaut sind, in deren Zentrum eine Roger Ballen lebensecht nachgebildete Puppe auf einem Schemel sitzt und eine Kamera in der Hand hält: The Artist is always present.

Durchschreitet man die ineinander übergehenden Räume, wird der szenische Charakter der Installationen offenkundig - absurde Passionsspiele, die keinen Anfang und kein Ende haben, und irgendwo zwischen Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" und Andrej Worons Puppentheater "Kreatur" changieren. Kein Wunder, dass Ballen selbst seinen letzten Arbeiten Namen wie "Theatre of the Mind" oder "Theatre of Darkness" gab.

Roger 2 at Halle Saint Pierre © Peter Truschner






















Mit der Eroberung des szenischen Raums ging eine Erweiterung des Farbraums einher. Nicht nur Ballens künstlerische Assistentin Marguerite Rossuow, die Fotos der Installationen gemacht hat - Ballen selbst hat sich der digitalen Farbfotografie zugewandt. Jüngste, bisher unveröffentlichte Farbfotos sind sowohl in der Ausstellung als auch im Buch zu sehen.

Die Serien, an denen Ballen aktuell arbeitet, beschäftigen sich unter anderem mit Mäusen und Bildern von Rohrschach-Tests. Aber egal, ob es bunter wird oder wieder schwarzweiß, ob gegenständlich oder abstrakt - letztlich befindet man sich immer auf irgendeine Weise im 2017 in Arles realisierten "House of the Ballenesque". Denn: "Inside there's a theatre. The theatre is a place in my mind."

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de 

Roger Ballen: The World according to Roger Ballen. 208 Seiten, 25 x 31,5 cm. Hardcover, Thames & Hudson, London 2019, ca. 35 EUR. ISBN: 9780500545218

The World according to Roger Ballen. Halle Saint Pierre, Rue Ronsard 2, 75018 Paris. Bis 31.07.2020.


Childhood (1974 - 2018). Photographs by Roger Ballen. Galerie Carsten Greve, Rue Debelleyme 5, 75003 Paris. 8.11. bis 28.12. 2019