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Nachtfahrt mit Streiflichtern

Von Peter Truschner
18.11.2019. Fotografie ist eine relativ neue Kunst. Aber Foto-Galerien, die meist viel weniger Geld machen als die großen Hype-Maschinen des Kunstmarkts, sind überwiegend konservativ. Auf der Paris Photo konnte man das gerade wieder besichtigen - und stieß dennoch hier und dort auf aufregende neue Positionen.
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Am Stand von Equinox & Laurence Miller kann man Helen Levitt auf einem ihrer Streifzüge durch die Straßen New Yorks begleiten. In der Galerie Sophie Scheidecker die zeitlos schönen Akte von Erwin Blumenfeld bewundern. In der Galerie Hershkovitz sich vor einem in wolkigem Van-Dyck-Braun gehaltenen Seestück von Gustave Le Gray niederlassen. Und wenn man es rechtzeitig zum Book Signing einer 91-jährigen Legende wie William Klein schafft und mit dem Meister ein paar freundliche Worte wechseln kann, beginnt die Seele echter Fotofans zu schweben und vereint sich unter dem gläsernen, von mintgrün lackierten Stahlstreben zusammengehaltenen Dach des Grand Palais zu einer glücklichen Blase namens Paris Photo, die vom 7.bis 10 November wie jedes Jahr über die Bühne ging.

Wer es noch nicht weiß und sich dahingehend vielleicht falsche Vorstellungen macht, dem sei gleich gesagt: Die Paris Photo ist keine reine Leistungsschau der Gegenwartsfotografie. Wer nach dem State of the Art in der künstlerischen Fotografie sucht, wird auf den großen Messen der bildenden Kunst wie der Biennale von Venedig oder der Art Basel Hongkong wahrscheinlich mehr Glück haben.
Die Messe in Paris ist nicht anders als eine bayrische Landwirtschaftsmesse vor allem eine Geschäftemacherei. Dass sie trotz des happigen Tageseintritts von dreißig Euro bei einem breiten Publikum Anklang findet, liegt jedoch nicht etwa daran, dass es wie bei der Landwirtschaftsmesse die neuesten Innovationen vom Saatgut bis zur Melkanlage, sondern überwiegend ikonisch gewordene Positionen aus dem 20. Jahrhundert zu bestaunen gibt, während das 21. Jahrhundert selbstverständlich vorkommt, aber nicht zuletzt geschäftlich eine eher untergeordnete Rolle spielt.

Die Paris Photo im Grand Palais


Die Gründe dafür liegen einerseits nahe. Über Jahrzehnte etablierte und lukrative Künstler erzielen naturgemäß höhere Preise als junge und noch relativ unbekannte. Da es mit der Fotografie im Gegensatz zur Bildenden Kunst per se deutlich weniger Geld zu verdienen gibt, gibt es auch den hysterischen Hype um neue Positionen nicht, die dann von namhaften Insiderkreisen gepusht werden und wie eine Aktie an der Börse preislich durch die Decke schießen. Der dritte und einzige Punkt, dem nicht eine, wenn auch unsympathische, so doch nachvollziehbare Marktlogik innewohnt: obwohl die Fotografie historisch gesehen sowohl eine ziemlich junge Technologie als auch Kunstgattung ist, und eine auf der ganzen Welt ebenso selbstverständlich wie enthusiastisch geteilte Praxis, ist der dazugehörige Betrieb  - Galerien, Sammler*innen, Kurator*innen, Publikum - in der Regel konservativer als etwa in der Bildhauerei oder der Installation. Darzulegen, warum das so ist, wäre einen eigenen Essay, wenn nicht überhaupt ein kleines Buch in den dafür geeigneten Reihen bei Merve oder Diaphanes wert.

Der Konservatismus entfaltet sich sowohl in zeitlicher als auch formaler Hinsicht. Zeitlich liegt der Schwerpunkt auf Fotgraf*innen, deren Hauptwerk sich zwischen 1930 und 1990 entfaltete: von Frank Horvat bis Carolee Schneeman; oder die schon vor der Jahrhundertwende ins Rampenlicht rückten: von Sally Mann bis Roger Ballen.
Formal bedeutet es, dass frontal aufgenommene Portraits, Akte, Stadtlandschaften, irgendwelche Gebäude in landschaftlicher Weite und nicht zuletzt Fotohybride aus dem Bereich der Beauty- und Lifestyle -Industrie hoch geschätzt werden - am liebsten in messerscharfem, digitalem HD oder edler, analoger Plattenkamera-Ästhetik, gerne unter Mitwirkung von Models und Prominenten.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Foto-Kunst aus dem 21. Jahrhundert besser oder interessanter wäre - im Gegenteil: dass dem nicht so ist, ist ein manifestes Problem in der Gegenwartsfotografie. Belegt wird das auf der Messe unter anderem durch zwei deutsche Fotografen, die eine ganze Generation junger Fotograf*innen beeinflusst haben: Jürgen Teller, Macher betont trashiger Proms, Models & Buddy-Pics, der am Stand der Galerie Suzanne Tarasieve das immergleiche Zeug zeigt, das irgendwann mal innovativ und überhaupt voll geil war; oder Wolfgang Tillmans, neuer Vorsitzender des Londoner ICA und gehätschelter Guru des Fotoestablishments, der passend zu seinem Image ein unbedarftes Palmenbildchen am Cover des Aperture-Magazins platzieren darf, in dem es um "Spirituality" geht.

Aperture Award für Sohrab Hura



Die "Aperture Awards der Paris Photo" haben hingegen großteils gehalten, was sie versprechen: herausragende Fotoprojekte der Gegenwart. Hannah Darabis bei Spector-Books herausgegebener Foto-Katalog des Jahres "Enghelab Street - a Revolution through Books" ist eine visuell überwältigende und in Bezug auf das nötige Hintergrundwissen die meisten Betrachter hoffnungslos überfordernde Zeitreise durch den Iran zwischen dem Sturz des Schahregimes und der Übernahme der Macht durch die Ayatollahs. Sohrab Huras im Selbstverlag uglydog herausgegebenes Buch "Coast" ist das Fotobuch des Jahres: wild, hemmungslos, hart, eine indische Nachtfahrt mit grellen Streiflichtern, in der sich Fakt und Fiktion mischen - im Grunde das Gegenteil dessen, was es auf der Messe überwiegend zu sehen gibt.

Natürlich gibt es auch interessante Positionen im Grand Palais wie die sich über drei Wände spannenden Amazogramas von Roberto Huarcaya am Stand von Rolf Art -  man muss sie nur geduldig suchen.

Schon auf der Biennale in Venedig war Afrika ein großes Thema. Auf der Paris Photo hat sich das mit einer anderen Parole des Zeitgeistes - Frauen! - verbunden und vor allem in den um Gediegenheit und politische Korrektheit bemühten, US-amerikanischen Galerien zu bemerkenswert konventionellen Resultaten geführt: Schwarze Frauen werden mit den Mittel der schwarzweißen Frontalaufnahme oder der Fashion-Fotografie großformatig abgelichtet, als hätte man kurz zuvor gerade erst von ihrer Existenz erfahren, und als hätte es Beyonce oder Oprah nie gegeben. Mir ist der politische Hintergrund von "Black Lives Matter" schon klar - aber gerade auf der Ebene derartiger Bilder säuft  die Dringlichkeit dieses Diskurses völlig ab. (Dass sowohl auf der Messe als auch unter den Vertretern der angesprochenen Galerien kaum einmal ein schwarzes Gesicht zu sehen war, sollte da niemand verwundern.)

Carolle Benitah, Galerie 127



Wie es anders geht, zeigt zum Beispiel die Galerie 127 - Marrakech, die sich auf Künstler*innen maghrebinischer Abstammung spezialisiert hat. Am Stand ergibt sich die Gelegenheit, Carolle Benitahs "Souvenirs", eine auf drei große rote Boxen verteilte Foto-Geschichte ihrer Kindheit und Jugend zu besichtigen, die Benitah mit subtextuellen Motiven bestickt und übernäht hat - ein in seiner Zartheit, Konsequenz, Detailverliebtheit und Kunstfertigkeit einzigartiges Meisterwerk, dessen bei Kehrer erschienene, abfotografierte Ausgabe leider nur ein schöner Schatten davon ist. An einer anderen Wand gibt es wuchtige, schwarzweiße Großformate von Safaa Mazirh, einer 1989 in Rabat geborenen Autodidaktin. Mazirhs Bilder sind von einem Konflikt geprägt: Frauen, die ihre Fesseln ablegen (wollen), und dabei doch gefangen bleiben - kein Wunder, dass sie an alte Fotos aus psychiatrischen Heilanstalten für Frauen erinnern.

An Fesseln eigener Art arbeitet sich Mari Katayama am Stand der SAGE Galerie ab. Aufgrund einer Gewebekrankheit wurden ihr Teile beider Beine amputiert. Was Katayama daraus gemacht hat, ist schlicht Wahnsinn: mit kunstvoll gefertigten Prothesen, Gewändern und lebensgroßen Puppensurrogaten ihrer selbst entwirft sie sich als lebendig gewordenes Anime ihrer heldinnenhaften, von Verletzbarkeit und Widerstandskraft geprägten Punk-Geschichten, von denen man nur schwer die Augen lassen kann. 

Mari Katayama, SAGE Galerie

Wer im Besitz einer VIP-Card war, kam in den Genuss, sich von BMW zu anderen Kunstevents shutteln zu lassen, etwa zu den abendlichen Soireen ins 5-Sterne Hotel "Sinner", in dem Renée Jacobs und Andreas Bitesnich besondere, von einem Sponsor produzierte Ausgaben ihrer Arbeiten einem finanziell potenten Publikum zum Genuss darboten; oder zu Parallelveranstaltungen wie "Offprint" und "Fotofever", in denen die ausstellen, die sich die rund zwanzigtausend Euro für einen Stand im Grand Palais nicht leisten können oder wollen, darunter einiges an Mittelmaß, aber auch das eine oder andere, noch zu entdeckende Juwel; zur überaus sehenswerten "Polycopies", einer Plattform von künstlerisch interessanten, kleineren Verlagen in einem Schiff an der Seine; zur Eröffnung der Ausstellung von Modeschöpfer Thierry Mugler, bei dem die Wolke aus unterschiedlichen Parfums der zahllosen Besucherinnen derart penetrant war, dass Besucher nach kurzer Zeit ins Freie und Luft schnappen mussten; zur langweiligen Party des Aperture Awards, die im ebenso langweiligen Club des legendären "Les Bains" stattfand, und bei der sich die meisten Besucher*innen gepflegt verabschiedeten, als das Angebot an gratis Bier und Gin Tonic zu Ende war.

Wenn man nach intensiven vier Tagen am Sonntag gegen Mittag mit Antoine d'Agata zusammensitzt, durch sein neues Buch "Stasis" blättert, in das zugleich lauernde als auch offene Vogelgesicht mit den großen, wachen Augen schaut und ihn intensiv über sein neues Projekt in Südamerika reden hört, verrät der dunkelschokoladige, nussige Geschmack des Espressos, der einem dabei durch die Kehle rinnt, das man nächstes Jahr wohl wieder dabei sein wird: bei der Paris Photo 2020.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de