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Harsches Licht

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
08.04.2021. Das Ephemere bekommt mythischen Charakter: Okwui Enwezor nannte Jo Ractliffe mal "die am meisten unterschätzte Fotografin ihrer Generation". Ein fulminanter Band ändert das.
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Anlässlich des sechzigsten Geburtstags der südafrikanischen Fotografin Jo Ractliffe erschien bei Steidl in Zusammenarbeit mit der Walther Collection kürzlich die vierhundertsiebzig Seiten starke und fünfundneunzig Euro teure Retrospektive: "Jo Ractliffe - Photographs 1980s - now" - ein Prachtband, auf dickem Papier hervorragend gedruckt, als Standardwerk konzipiert.

Die Walther Collection hat zuvor schon vielen afrikanischen FotografInnen eine Plattform geboten, zuletzt Samuel Fosso und Zanele Muholi. Ractliffes Fotografien sind ungleich spröder und schwerer zugänglich als die Arbeiten von Fosso und Muholi, die sehr stark auf den Körper und das Gesicht referieren, während Ractliffe in der objektiveren und von menschlichen Kategorien unabhängigeren Landschaftsfotografie ein geeignetes Mittel gesehen hat, ihre großteils konzeptuellen Vorstellungen umzusetzen.

Auch dem zu ihrer Zeit in Südafrika angesagten, tagespolitisch engagierten Fotojournalismus und der nicht selten auf eine Botschaft hinaus laufenden, klassischen Dokumentarfotografie hat sie sich enthalten, mit denen die politisch und sozial Stellung beziehende Gruppe um David Goldblatt berühmt geworden ist, und die noch bei Santu Mokofeng und Mikhael Subotzky nachwirkte.

Vielmehr war sie skeptisch gegenüber jeder Form von klar umrissener künstlerischer Positionierung und haderte mit den Konventionen, denen nicht nur die Fotografie damals unterworfen war.  Ractliffe war dadurch lange eine Außenseiterin, die auf den Gruppenausstellungen südafrikanischer Fotografie kaum vorkam. "Die am meisten unterschätzte Fotografin ihrer Generation", nannte sie der einflussreiche Kurator Okwui Enwezor einmal.

Ractliffes Blick wurde als Kind geformt durch die langen Autofahrten mit dem Vater von Kapstadt zu dessen Arbeitsplatz im kargen, südafrikanischen Westen. Fotografie und (mit dem Auto) unterwegs sein gehören seither für sie zusammen, ohne dass sie je eine Reisefotografin geworden wäre.

© Jo Ractliffe, Steidl Verlag

Ihre ersten Schwarzweiß-Serien "Crossroads" (1986) und "Vissershok" (1988) sind regelrecht archetypische Bilder von "Badlands and Junkyards": improvisierte Hütten aus Blech und Karton, Ruinen von Steinhäusern, Müllhalden, Autowracks, dazwischen vereinzelt Menschen und Tiere, die verloren wirken in der Weite der öden Landschaft aus Steinen und Sand, die Ractliffe in einem harschen Licht einfängt, und in der Pflanzen und Bäume wie vegetative Zufallstreffer anmuten. Niemand würde sich wundern, wenn all das bald darauf verschwunden wäre, hinweggefegt von einem kalten, gleichgültigen Wind.

1990 wird Ractliffes Kameraausrüstung gestohlen. Sie sieht sich kurzerhand gezwungen, auf eine "Diana"-Plastikkamera zurückzugreifen, deren Bilder wie dunkle, trübe Polaroids aussehen und einen Kontrast bilden zum klaren, unerbittlichen Licht der früheren Arbeiten. Dieser Verlust erweist sich für sie im Nachhinein als Glücksfall, stellt er doch den Beginn ihres experimentellen Umgangs mit der Ästhetik von Kameras dar, deren Nennung Leica-EnthusiastInnen die Schamesröte ins Gesicht treiben würde.

Einige der Aufnahmen der Serie "reShooting Diana" (1990-1995) sind vom fahrenden oder stehenden Auto heraus geschossen, und wirken aufgrund der düsteren Atmosphäre etwas intimer als frühere Bilder. Assoziationen zu Robert Franks "The Americans" (hier) (1958/59) stellen sich ein, eine Arbeit, die für Ractliffe tatsächlich von großer Bedeutung ist. Auf einem Foto mit dem Titel  "U.S. 90, En Route to Del Rio"(1955) sitzt Franks Frau mit ihrem Kind auf dem Arm im Wagen, im Hintergrund die verschwimmende Landschaft des nordamerikanischen Westens, dessen mythisch aufgeladene Verheißungen ebenso wie das Scheitern daran FotografInnen und FilmemacherInnen bis heute dazu herausfordern, sich auf den Weg und ein eigenes Bild davon zu machen.

1996/99 arbeitet Ractliffe an den Serien "N:1 every hundred kilometers" und "End of Time". "N1" - eine eintausendvierhundert Kilometer lange Straße von Kapstadt nach Johannesburg, wo Ractliffe inzwischen wohnt, ist eine konzeptuelle Arbeit, die Ractliffe als Hommage an John Baldessaris Arbeiten versteht, etwa "The Backs off all Trucks passed while driving from Los Angeles to Santa Barbara" (1963), auf deren zweiunddreißig Farbfotografien genau das zu sehen ist, was der Titel verspricht. Eine ähnliche Arbeit von Ed Ruscha lautet "Every Building on the Sunset Strip" (1966). Spätestens anhand dieser Serialität wird klar, dass es Ractliffe nicht ums Offensichtliche geht, um eine möglichst klare Bedeutung von etwas, sondern eher um Nebensächliches, Vieldeutiges, eher um Absenz als Präsenz.

Im Zuge dieser Arbeit kommt sie an drei Eseln vorbei, die erschossen am Straßenrand liegen. Wie so oft bei Ractliffe weist ein auf den ersten Blick wie zufällig wirkendes Motiv oder Detail auf einen größeren, in der Tiefe der Geschichte der Landschaft wurzelnden Vorgang hin: die zunehmende Verarmung und teilweise Vertreibung von Leuten, die in dieser Region traditionell auf von Eseln gezogenen Wagen von Farm zu Farm zogen, um als Schafscherer zu arbeiten.

© Jo Ractliffe, Steidl Verlag

Am 2. Juni 1999 vertieft sie ihre konzeptuelle Herangehensweise, in dem sie politisch und historisch äußerst kontaminiertes Gelände westlich von Pretoria fotografisch ins Auge fasst: "Vlakplass" ist eine Farm, auf der unter Führung des nach Ende der Apartheid von der "Truth and Reconciliation Commission" (TCR) zu lebenslanger Haft verurteilten Eugene De Kock unzählige, überwiegend schwarze Menschen gefoltert und umgebracht wurden (der frühere Präsident de Klerk will von all dem nichts gewusst haben).

Ractliffe war nicht darauf vorbereitet, wie harmlos dort alles aussah - die banale Gestalt eben, die das Böse annehmen kann. Es gab keine Spuren auf die dort begangenen Verbrechen. Mit einer "Holga" - einer weiteren Plastikkamera - nahm sie ihre Fahrt dorthin und das Gelände auf. Danach wurden die Prints aneinandergeheftet, mit einer Videokamera aufgenommen und als Loop auf Wände projiziert; dazu lief vom Band die Aussage eines Offiziers von Vlakplaas vor der TCR, der die Ungeheuerlichkeiten schildert, die dort vor sich gingen.
 
In Stadtaufnahmen von Durban ("Port of Entry", 2000/01) und Johannesburg ("Johannesburg Inner City Works", 2004) wird nicht nur das Aneinanderheften von Einzelbildern stilistisch perfektioniert, es kommt  - wiederum aufgenommen mit der Holga - auch die Farbfotografie ins Spiel. Aufnahmen von verschieden Orten der Stadt, zu verschiedener Tageszeit, mal ruhig stehend, mal aus dem fahrenden Auto, sodass sich - in Verbindung mit der wiederum begrenzten, aber in dieser Begrenzung signifikanten, einprägsamen Abbildungsleistung der Fertigkamera halluzinatorische Sequenzen ergeben, eine Stadt in ständigem Werden und Vergehen, eher etwas Temporäres, Atmosphärisches denn stabile, auf Dauer angelegte Wohneinheiten und Verkehrswege.

© Jo Ractliffe, Steidl Verlag

Literatur ist für Ractliffe sehr wichtig. Jedem Kapitel im Buch hat sie ein Zitat von SchriftstellerInnen vorangestellt. Pablo Neruda. William Burroughs. Yann Martel. Vor allem Ryszard Kapuscinski, dessen Buch "Another Day of Live" (1976) sie ein Leben lang begleitet hat. Es handelt vom angolanischen Befreiungskampf von der portugiesischen Kolonialherrschaft in Zeiten des Kalten Krieges. Wie sich später herausstellt, waren neben kubanischen auch südafrikanische Truppen illegal und ohne Kenntnis der Bevölkerung an den Kämpfen beteiligt.

Im Buch gibt es ein Kapitel, das beschreibt, wie die angolanische Bevölkerung und das Militär aus der umkämpften Stadt Luanda abziehen und dabei ihre Hunde zurücklassen, die auf der Suche nach Nahrung die Stadt durchkämmen, dabei dünner, kränker und immer weniger werden, bis sie eines Tages förmlich über Nacht verschwunden sind. Kapuscinski malt sich aus, was wohl mit ihnen geschehen ist.

Ractliffe hat eine Affinität zu Tieren, die in ihren Bildern häufiger und prägnanter vorkommen als Menschen. Kapuscinskis Buch und ihre besondere Beziehung zu Hunden hat Ractliffe Jahre zuvor schon zu einer außergewöhnlichen, visuell spektakulären Arbeit inspiriert: "Nadir" (1986-1988). Auf großformatigen, rudimentär kolorierten analogen Fotomontagen streifen Hunde wie Dämonen durch jene lebensfeindlichen Gebiete des Hinterlands, die Ractliffe immer wieder auf- und untersucht - in "Nadir" nehmen sie geradezu eine apokalyptische Dimension an.

Als Ractliffes Hund Gus 1997 unerwartet stirbt, setzt sie ihm ein Denkmal: Sie legt die abgebissenen Überreste seiner geliebten, quietschenden Plastikspielzeuge - ein Hai, ein Krokodil -  in eine Lightbox und fotografiert sie in Farbe im Stil der Produktfotografie.

Als Ractliffe 2007 nach Angola aufbricht, geht es ihr jedoch weniger um die Hunde, als um den Mythos des Grenzlands, von dem sich alle Südafrikaner so gut es ging fernhalten sollten. Die Landschaftsaufnahmen der dabei entstanden Schwarzweiß-Serien wie "Terreno Ocupado" zeigen Ractliffe auf der Höhe ihres Könnens. Das Ephemere bekommt mythischen Charakter, die blanke, schroffe Gegenwart ist durchdrungen von einer vielstimmigen Geschichte, die sichtbaren Relikte gewalttätiger Auseinandersetzungen auf teils immer noch vermintem Gelände, aus dem alle Wildtiere verschwunden sind, verweisen auf die prekäre und fragile, zugleich jedoch für alle folgenschwere Anwesenheit des Menschen.

Im letzten Teil der Trilogie gibt es Porträts der in den Gebieten zum Teil gegen den ausdrücklichen Willen der Regierungen verbliebenen Menschen, darunter viele Kriegsveteranen, denen nach Freiheitskampf, Kaltem Krieg und Bürgerkrieg nichts geblieben ist als dieser wüste Flecken Land und die in ihm lebendigen Erinnerungen.

©Jo Ractliffe, Steidl Verlag

2016 erleidet Ractliffe eine Verletzung der Wirbelsäule, die ihr das Gehen lange Zeit unmöglich macht. Sie nutzt die langwierige Reha, um all jene Fotografien zu sortieren, die neben den konzeptuellen Arbeiten entstanden sind, und entdeckt dabei zu ihrer eigenen Überraschung viele Aufnahmen von Menschen in privaten Momenten und anderes Allzumenschliches, das sie in den Serien "Everything is everything" und "Signs of Life" bündelt, die das Buch abschließen.

Zanele Muholis Selbstporträts sind in den letzten Jahren geradezu ikonisch geworden, sie verleihen dem aktivistischen Aufbruch unterschiedlicher People of Color ebenso ein Gesicht wie Menschen, die ihre Identität im LGBTQ+ Bereich verorten
Ractliffes Bildern muss sich jede/r allein stellen, mit all seinen/ihren Zweifeln und Vorbehalten, mal mehr, mal weniger ausgeprägten Wissbegier, mal mehr, mal weniger vorhandenen Aufmerksamkeitsspanne. Muholis Bilder taugen als Emblem für ganze Gruppen von Menschen, während Ractliffes Bilder einer solchen affirmativen Geste geradezu entgegenarbeiten.

Weshalb ich glaube, dass sie außerhalb von Südafrika mit dieser Publikation erst recht ein Artist's Artist werden wird, eine Künstlerin, die nicht zuletzt von KünstlerInnen und KennerInnen geschätzt wird, jemand, der abseits von Stephen Shore oder Thomas Struth ein eigenes Stück Foto-Land abgesteckt und bearbeitet hat.

Ich denke, sie wird damit leben können.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de

Jo Ractliffe: Photographs 1980s - now. 470 Seiten, 28 x 24 cm, Hard Cover. Steidl Verlag, Göttingen 2020, 95 Eur. -  ISBN-10 : 395829698X. (Bestellen bei eichendorff21)