Magazinrundschau

Anthropologen mögen an die Decke gehen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.09.2023. New Lines schildert das gigantische Ausmaß an Umweltverschmutzung, das zwanzig Jahre Krieg in Afghanistan hinterlassen haben. Vegan war gestern, Carnivore ist der neue Trend, lernt der New Yorker von Hoden verschlingenden Fleischfluencern. In HVG schreibt Péter Rácz über die Tücken des Übersetzens: Um in einem Nádas-Satz das Subjekt zu finden, braucht man mitunter vier Augen. Und in Gentlemen's Quarterly gibt Martin Scorsese die Hoffnung auf die Rettung des Kinos nicht auf.

Newlines Magazine (USA), 25.09.2023

In einer großen mit 53 Minuten Lesezeit angegebenen Reportage schildert Lynzy Billing das ganze Ausmaß an giftiger Umweltbelastung, die erst das sowjetische und dann vor allem das amerikanische Militär in Afghanistan hinterlassen haben: "Anwohner berichten seit langem, dass US-Militärstützpunkte große Mengen an Abwasser, chemischen Abfällen und giftigen Substanzen von ihren Stützpunkten auf das Land und in Wasserstraßen kippen und so Ackerland und Grundwasser für ganze in der Nähe lebende Gemeinden verunreinigen. Sie verbrannten auch Müll und andere Abfälle in offenen Brenngruben - einige hatten Berichten zufolge die Größe von drei Fußballfeldern - und überschwemmten Dörfer mit giftigen Rauchwolken. Afghanistan hat mehr als 40 Jahre lang einen selten unterbrochenen Krieg erlitten. Die Beweise sind überall, einige davon statisch und vergraben, andere noch sehr lebendig. Die Kriegschemikalien vergifteten das Land auf eine Weise, die noch immer nicht vollständig verstanden ist. Bevor das US-Militär in Afghanistan eintraf, wurde den sowjetischen Streitkräften der Einsatz chemischer Waffen, darunter Napalm, vorgeworfen. Ihre Stützpunkte wurden dann von den Amerikanern umfunktioniert. Zurück bleiben heute Schichten über Schichten medizinischer, biologischer und chemischer Abfälle, die wahrscheinlich nie beseitigt werden."

Männer in Schlaghosen, Frauen in kurzen Röcken - kein seltenes Bild im Afghanistan der Sechzigerjahre, das modische Einflüsse aus Russland, Amerika und Indien vereinte, erinnert die in Afghanistan geborene Autorin Sofia Mahfouz, die Afghanistans Geschichte anhand der Mode in drei Generationen erzählt. Trugen Frauen Kopftuch, bekundete man ihnen Beileid, denn das Kopftuch wurde nur zu Traueranlässen oder zu Ramadan getragen. Und auch in den Neunzigern, als die Taliban erstmals die Macht übernahmen, versuchten afghanische Frauen noch, irgendwie ihre modische Freiheit zu bewahren: "In den dunklen Jahren der Taliban, als ich geboren wurde, war Mode ein verbotenes Wort. Meine Familie war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Kandahar gezogen. Frauen mussten sich mit formlosen Burkas bedecken und so ihre Schönheit und Identität verbergen. Doch schon damals erfreuten sie sich an den Farben ihrer Stickereien und stickten Muster aus Blumen und Vögeln auf ihre Kleidung. Meine Mutter war eine von ihnen. Da meine Mutter keine andere Möglichkeit hatte, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen, musste sie sie auf eine neue Art und Weise entfalten. Einst Professorin, die Vorlesungen über organische Chemie hielt, musste sie nun ein neues Handwerk erlernen. Sie verwendete Seidengarn, das im Licht schimmerte, und verbrachte Stunden damit, die richtigen Farben und Muster auszuwählen. Wer Zugang nach Pakistan hatte, hatte Glück. Sie konnten sehen, was in der Modewelt passiert, und etwas davon mit nach Hause nehmen. (…) Die pakistanischen Kleider hatten raffiniertere Muster und Farben. Jeder, der nach Pakistan reiste, wurde daher mit der Aufgabe betraut, mit den gewünschten Stoffen und Stickmaterialien zurückzukehren."

Als Kind war der syrische Journalist Asser Katthab der einzige, der in der Schule Deutsch lernte. Hätte ihm jemand gesagt, dass ein paar Jahre später eine halbe Million syrische Menschen hier leben würden - er hätte es nicht geglaubt, schreibt er. Im Jahr 2017 floh auch er aus seiner Heimat, weil ihm wegen seiner Arbeit schwere Repressionen drohten. Ein französisches Asylvisum - sein Antrag in Deutschland wurde abgelehnt - erlaube ihm seitdem, nicht nur in Frieden zu leben, sondern auch frei reisen zu können. Kaum hatte er die Gelegenheit, reiste er nach Deutschland, nach Nürnberg um genau zu sein, um sich dort das Germanische Museum anzusehen. Die Begegnungen mit seinen Landsleuten waren nicht immer einfach, erzählt er, manchmal traf er auf Sympathisanten des Regimes oder konservative Syrer, die andere Mitglieder der Diaspora kontrollierten und sicherzustellen, dass sie keinen "westlichen" Gewohnheiten verfielen. Andere, so stellte er verblüfft fest, waren hundertfünfzigprozentige Bayern geworden. Vor allem aber konnte er beobachten, dass es eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Syrern gibt, auf die ihn seine eigenes Interesse für die deutsche Geschichte stieß: "Ich war mir bereits bewusst, dass die Deutschen angesichts dessen, was im vergangenen Jahrhundert geschehen ist, nicht sehr stolz auf die Vergangenheit ihrer Nation sind. Aber ich war überrascht, dass mein Interesse an der Geschichte des Landes - sogar vor der Vereinigung unter Kaiser Wilhelm I. und Bismarck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ganz zu schweigen von den beiden Weltkriegen - fast jeden, den ich dort traf Unbehagen bereitete. Die meisten Deutschen, mit denen ich zu tun hatte, schienen darin übereinzustimmen, dass ihr Land sein Recht verloren hat, seine Kultur und sein Erbe zu feiern. Viele der Syrer, die nun schon seit Jahren hier sind, scheinen die gleiche Einstellung zum Rückblick auf die Vergangenheit zu haben. Diese Syrer waren schließlich unter einem Regime aufgewachsen, das in vielerlei Hinsicht dem Nationalsozialismus ähnelte. Sie wissen sehr gut, wie der Stolz auf die Geschichte dazu genutzt werden kann, gefährliche Ideen über Nationalismus und Macht zu schmieden."

New Yorker (USA), 25.09.2023

Carnivor zu leben, ist der neuste Ernährungstrend, allerdings mit alten Wurzeln, hält Der Anthropologe Manvir Singh nach der Lektüre etlicher Ernährungstraktate - und einigen Ausflügen auf die TikTok-Accounts der "Fleischfluencer" - fest. Der "Liver King", bei dem der Name Programm ist, hat drei Millionen Follower auf TikTok und durchaus, ähm, interessante Ernährungstipps auf Lager: "Dem Buch 'The Carnivore Code' zufolge sind Pflanzen Gift - sie wollen nicht gegessen werden und haben daraus resultierend chemische Reaktionen entwickelt, die die Verdauung angreifen sollen. Ebenfalls in 'The Carnivor Code' verkündet der Influencer Shawn Baker (319 000 Instagram-Follower), dass die Proto-Menschen am effizientesten an Protein und Kalorien gekommen sind, indem sie 'ein riesiges, fettes, energiegefülltes Tier der Megafauna erlegt haben.' Sie mögen ab und zu an Früchten und Nüssen geknabbert haben, gibt er zu, aber die Zeit und Energie, um dadurch das gleiche Resultat zu bekommen, wäre 'um mindestens eine Größenordnung größer.' Der Liver King selbst hat sich folgenden prägnanten Slogan überlegt: 'Warum Gemüse essen, wenn du auch Hoden essen kannst?'" Ob diese Ernährungsweise so effektiv ist, wie die Fleischfluencer ihren Zuschauern verklickern wollen, davon ist Singh noch nicht so recht überzeugt: "Modediäten eignen sich perfekt für eine schnelle Verbreitung. Sie sprechen die Unzufriedenheit an. Sie liefern primitive Erklärungen dafür, warum alles schief läuft. Und sie bedienen sich einer intuitiven Logik, die bei spirituellen Traditionen im Mittelpunkt steht: Je größer das Opfer, desto größer die Belohnung." Nachhaltig ist am Ende keine, meint Singh.

Weitere Artikel: Ian Johnson liest Ian Johnsons superbes Buch über chinesische Undergroundhistoriker "Sparks: China's Underground Historians and Their Battle for the Future". Missbrauch in österreichischen Kinderheimen nimmt Margaret Talbot unter die Lupe. Jennifer Wilson liest J. M. Coetzees  Roman "Der Pole". Amanda Petrusich trifft sich mit Joan Baez, um über neuen Dokufilm über ihr Leben (unsere Besprechung) zu sprechen - und natürlich über Bob Dylan. Außerdem unterhält sich Petrusich mit dem Elektromusiker Daniel Lopatich.
Archiv: New Yorker

The Insider (Russland), 19.09.2023

Putin geht, wenn er nicht in die Ukraine einfällt oder seine eigene Bevölkerung terrorisiert, einem sinnlichen Hobby nach: Er besitzt die Weingüter Divnomorskoe und Krinitsa, hat The Insider in einer Investigativ-Recherche herausgefunden. Leider läuft das Geschäft nicht allzu gut, auch wenn sich Putin die Hilfe von mehreren europäischen Experten, zum Beispiel dem Franzosen David Pernet und dem Italiener Ricardo Cotarella, geholt hat. Es bleibt nur die Selbstvermarktung: "In diesem Sommer wurden die Weine der königlichen Weinkellereien in die Speisekarte der größten Fluggesellschaft des Landes aufgenommen. Am 21. Juli kündigte Aeroflot eine neue Weinkarte für die Business Class an, darunter 'Arena' von Krinitsa und 'Yuzhny Les', 'Kholodny Tuman' und 'Solnechny Veter' vom Weingut Divnomorskoe. Die Weine des Weinguts Divnomorskoe werden bei Regierungsveranstaltungen ausgeschenkt, vom Besuch von Xi Jinping bis zum Bankett mit Kim Jong Un in Wladiwostok. Das erkennbare Logo mit einer Muschel am Flaschenhals war auf Fotos des Wurstkorbs zu sehen, den Igor Setschin vor seiner Verhaftung Minister Uljukajew 'von Iwanitsch' überreicht hatte. Die Flasche aus der königlichen Weinkellerei sollte offenbar Putins direkte Beteiligung an dem Geschenk symbolisieren. Für ein breiteres Publikum werden die Weine des Präsidenten im Fernsehen beworben."
Archiv: The Insider
Stichwörter: Xi Jinping, Jinping, Xi

London Review of Books (UK), 25.09.2023

Dass kapitalistische und kolonialistische Expansion historisch oft Hand in Hand gingen, ist keine neue Erkenntnis. Der Historiker Philip J. Stern will es in seinem Buch "Empire, Incorporated" genauer wissen und untersucht die Rolle privater Firmen im britischen Imperialismus. Michael Ledger-Lomas zeichnet in seiner Besprechung diese wechselvolle Geschichte nach. Besonders wichtig waren die Firmen in der Frühphase des Kolonialismus, als es darum ging, möglichst schnell möglichst viel Land in Besitz zu nehmen. Inbesondere frühe Aktiengesellschaften spielten dabei eine wichtige, teilweise auch ambivalente Rolle: "Aktiengesellschaften, die passive Investoren anzogen, waren ein Paradies für Betrüger. Schmierfinken, Piraten und Mystiker schrieben ihre Prospekte. Spektakuläre Aktionen waren ihnen wichtiger als Geschäftsberichte, wie etwa der Fall der Virginia Company beweist, die Pokahontas auf eine Tour durch England schickte, um die Rentabilität des Powhatan-Stamms zu beweisen. Francis Drake, Humphrey Gilbert und andere Freibeuter deckten ihre Kosten, indem sie spanische Schiffe ausraubten (und sie dann der Britischen Flotte übergaben, als eine Form verdeckter Kriegsführung); oder sie unternahmen den Versuch, so viel indigenes Land wie möglich in ihren Besitz zu bringen, bevor sie es an ihre Tochtergesellschaften weitergaben. Sie waren besser in dieser Art des Matrjoschkageschäfts als darin, profitable oder gar nützliche Geschäfte aufzubauen. Elisabeth die Erste wollte 1000 Pfund in die Martin Frobisher Company aus Cathay investieren, ein Bergbauunternehmen, dessen Schiffe 1000 Tonnen wertlosen Fels aus der Neuen Welt nach England verschifft hatte und das kollabierte, bevor auch nur eine Urkunde ausgestellt worden war."

Francis Gooding berichtet Erstaunliches aus der Welt der Schwertwale aka Orkas. Seit ein paar Jahren greifen die Tiere bei der Straße von Gibraltar immer wieder Schiffe an - oder wollen sie nur spielen? Wie Gooding darlegt, sind Mensch-Orka-Interaktionen historisch betrachtet keine Seltenheit. Und wenn man in der Erdgeschichte noch etwas weiter zurückgeht, wächst die Bedeutung der Schwertwale ins Unermessliche: "Es ist möglich, dass die Orkas das Meer in ähnlicher Weise beeinflusst haben wie die frühen Menschen das Land, und es ist zumindest denkbar, dass das ökologisch zerstörerische übermäßige Töten anderer Spezies eine weitere Parallele zwischen der Frühgeschichte der Orkas und der Menschen ist. Das Auftauchen der Orkas vor ungefähr zehn Millionen Jahren korreliert mit dem plötzlichen und mysteriösen Verschwinden von mehr als der Hälfte der bekannten Arten an Walen, Robben und Seekühen (Dugongs und Manatees) aus den fossilen Funden. Ähnlich wie im Fall des weit verbreiteten Ausdünnung terrestrischer Fauna in Gegenden, die im Pleistozän von Menschen kolonisiert wurden, könnten die Orkas, das ist eine Hypothese, im Zuge ihrer Verbreitung im maritimen Ökosystem andere Seesäugetiere gejagt und ausgerottet haben." Überraschend fände Gooding das nicht: "Orkas sind ausgesprochen intelligente Wesen. Zu sagen, dass Tiere 'Kultur' besitzen, sorgt hier und da immer noch für Stirnrunzeln, aber das meiste von dem, was das Leben der Orka ausmacht, ist nicht genetisch vorprogrammiert, sondern wird individuell oder in Gruppen gelernt. Anthropologen mögen an die Decke gehen, wenn man so etwas Kultur nennt, aber es fällt schwer, ein Wort zu finden, das besser passt, um lokale Verhaltenstraditionen zu beschreiben, die durch soziales Lernen weitergegeben werden."

HVG (Ungarn), 25.09.2023

Der Fachübersetzer und Leiter des ungarischen Übersetzerhauses Péter Rácz erläutert unter anderem die Herausforderungen des literarischen Übersetzens: "Ungarische Sprachkenntnisse sind eine Zulassungsvoraussetzung. Die Kandidaten übersetzen dann in der Regel zehn völlig unterschiedliche Werke in ihre eigene Sprache, um sich an allem zu versuchen. Literarisches Übersetzen kann man lernen, wenn man eine Leidenschaft für Literatur, Ästhetik und Satzbau hat, aber selbst dann ist es nicht für jeden leicht. So haben die Russen, Polen und Tschechen ein ausgezeichnetes Gespür für das Absurde, (…) die Japaner vielleicht weniger. Auch chinesische Übersetzer haben keine leichte Aufgabe. In ihrem Grundstudium befassen sie sich nicht mit der ästhetischen Analyse und sezieren auch nicht die Beweggründe der Figuren, sondern konzentrieren sich lediglich auf die Handlung. (…) Selbst bei Texten, die im Großen und Ganzen leicht zu übersetzen sind kann es ein oder zwei Tage dauern, bis man die Lösung herausgefunden hat. Kürzlich (…) konnte ich einem französischen Kollegen, der mich nach jiddischen Wörtern aus einem Roman von Péter Nádas fragte, einen Leitfaden anbieten. Wenn wir einen längeren Satz von Krasznahorkai oder Péter Nádas gelesen haben, haben wir uns oft dabei ertappt, wie wir gemeinsam nach dem Subjekt des Satzes gesucht haben. Die Form muss man ja auch in der Prosa einhalten. Höchstens dann, wenn sie sich schon lange gequält haben, schieben sie noch das eine oder andere Satzzeichen am Ende des Satzes ein. Vier Seiten eines Krasznahorkai-Buches am Tag zu übersetzen, reichen aus, statt der durchschnittlichen acht bis zehn Seiten. Dies sind die wirklichen Herausforderungen, für die es sich lohnt, diesen Beruf zu wählen."
Archiv: HVG

La regle du jeu (Frankreich), 25.09.2023

Die Journalistin Annette Lévy Willard, ehemals Libération, erzählt die Geschichte des Pierre Goldman und betreibt damit eine Archäologie der linken Geschichte der französischen Nachkriegszeit, die heute wirklich tief versunken wirkt. Goldman war Sohn jüdischer Widerstandskämpfer - wenig bekannt ist, auch weil die Kommunistische Partei es später nach Kräften beschwieg, dass einige der größten Heldentaten der Résistance von jüdischen Widerstandskämpfern aus dem Ausland, meist aus Polen, begangen wurden. Goldman knüpfte später an und geriet noch später auf eine sehr schiefe Bahn. Lévy erinnert an eine Episode kurz vor 1968: "In den Jahren 1966-1968 sah ich als junge Studentin an der Rechtsuniversität Assas einen Pierre Goldman auftauchen, der so etwas wie ein Held der damaligen Linken war. Er war der Chef des Ordnungsdienstes der Studentenvereinigung UNEF. Wir linken Studenten wurden an der Universität Assas, die ein Hort der faschistischen OAS-Bewegung war, oft auf der Straße angegriffen, wenn wir die Uni verließen. Wir gingen dann zurück und suchten im Foyer Schutz. Und plötzlich hörten wir, wie die kahlgeschorenen Schädel der Rechtsextremen 'Goldman kommt!' brüllten und wegliefen, verängstigt von diesem kräftigen Kerl, der ein Kommando von anderen stämmigen Studenten anführte, die mit Hacken oder Eisenstangen bewaffnet waren. Es ging hart zur Sache. Wir spielten den bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung nach. Und wir zeigten, dass Juden sich nicht mehr von Antisemiten angreifen oder abschlachten lassen würden." Goldman war 1968 nicht in Paris, weil er dann lieber in die lateinamerikanische Guerilla ging. Zurück in Paris wurde er kriminell und überfiel Apotheken - einmal wurden dabei zwei Apotherkerinnen getötet, aber er beteuerte seine Unschuld. Der Prozess gegen ihn ist eine berühmte Episode in der französischen Rechtsgechichte. 1979 wurde Goldman möglicherweise von rechtsextremen spanischen Terroristen ermordet. Cédrik Kahn hat einen Film über seine Geschichte gemacht, "Le Procès Goldman", der in Frankreich gerade ins Kino kommt.
Archiv: La regle du jeu

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.09.2023

Der Kunsthistoriker József Mélyi gratuliert dem Schriftsteller und Historiker György Dalos voller Anerkennung zum 80. Geburtstag: "Das Wort 'Autorität' kommt mir jetzt in den Sinn, obwohl er weder damals noch offensichtlich heute wenig bis gar keinen Wert auf 'Autorität' legte. In den späten neunziger Jahren war ich am meisten von seiner kulturellen Autorität in Deutschland beeindruckt, von der Vorstellung, dass seine Meinung jederzeit in den Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitungen erscheinen konnte; dass alle Größen der Literatur gerne mit ihm sprachen, dass ein Ministerpräsident oder der künftige Staatschef seinen politischen oder kulturellen Betrachtungen mit Interesse zuhörten. Nur wenige Ungarn vor und nach ihm haben das geschafft - in den 1990er Jahren Eörsi, Konrád, Esterházy, Heller - und heute fallen mir neben ihm vielleicht drei oder vier solche Größen ein.  (...) Eigentlich ist es traurig, wenn man bedenkt, dass Dalos seit vielen Jahren in Deutschland weitaus mehr Ansehen genießt als in Ungarn. Er wird dort in Jurys eingeladen, seine Bücher werden in wesentlich größerer Zahl veröffentlicht, er wird nach seiner Meinung zum Weltgeschehen gefragt, während er in Ungarn schon lange keinen Staatspreis mehr erhalten darf. Aber György Dalos - der beste Rhetoriker und der kritischste Redakteur, den ich kenne - würde sicher sagen, dass dieser Satz nicht an das Ende eines Toasts passt, also schreibe ich ihn hier (…): Ich bin auch zuversichtlich, und alles Gute zum Geburtstag!"
Stichwörter: Melyi, Jozsef, Dalos, György

Africa is a Country (USA), 22.09.2023

Fast die Hälfte der 54 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union sind ehemalige französische Kolonien und für die meisten dieser Staaten stellt die französische Hegemonie bis heute das größte Problem dar, meint der Politologe Mbaye Bashir Lo in einem "Nichts Gutes kommt aus Frankreich" überschriebenen Artikel in Africa Is a Country: "Mit Ausnahme von Guinea-Conakry gelang es keinem ehemals kolonisierten Gebiet, eine eindeutige Unabhängigkeit von Frankreich zu erlangen. Sie wurden in das heutige frankophone Afrika integriert, das in den letzten Jahrzehnten zynisch als Francafrique bezeichnet wurde. Charles de Gaulle, von 1959 bis 1969 Präsident Frankreichs, erkannte den Wunsch Afrikas nach wahrer Unabhängigkeit und schürte die Illusion der Selbstbestimmung, ohne diesen Nationen echte wirtschaftliche oder politische Souveränität zu gewähren. Ähnlich wie Frankreichs historische Verwüstung in Afrika markierte diese neue Vereinbarung den Beginn der dritten Phase des 'Französischen Problems' in Afrika. Das Fortbestehen dieses neokolonialen Arrangements kann auf zwei Schlüsselfaktoren zurückgeführt werden: Frankreichs Schattendiplomatie steht in krassem Widerspruch zu den öffentlichen Erklärungen von Paris, Demokratie und Selbstbestimmung in Afrika zu unterstützen. In der Praxis sind an dieser verdeckten Diplomatie inoffizielle und verdeckte Bürokraten des französischen Élysée-Palastes beteiligt, die die politischen Ergebnisse in den frankophonen Ländern maßgeblich beeinflussen. Prominente afrikanische Führer und öffentliche Intellektuelle, die sich der neokolonialen Struktur Frankreichs widersetzten, erlebten eines von drei Schicksalen: Entfernung von der politischen Macht, Entlassung aus einflussreichen Positionen und Inhaftierung oder - tragischerweise - Ermordung. Es ist erwähnenswert, dass seit 1990 schätzungsweise 78 Prozent der 27 Staatsstreiche in Ländern südlich der Sahara in frankophonen Ländern stattfanden."

Himal (Nepal), 26.09.2023

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Seit Generationen ist das Leben von Süd- und Westasiaten in vielfältiger Weise miteinander verknüpft, weiß Namrata Raju. Das Buch "Sovereigns oft he Sea: Omani Ambition in the Age of Empire" der indischen Historikerin Seema Alavi schließt nun endlich die "historische Lücken für diejenigen, die an einer zusammenhängenden Geschichte Omans, Sansibars und Südasiens interessiert sind", freut sich Raju. Entlang den Geschichten von fünf omanischen Sultanen erklärt der Band "die Verflechtung von Südasien, Westasien und Ostafrika durch Politik, Wirtschaft, den anglo-französischen Kolonialismus, den Sklavenhandel und unzählige Gemeinschaftsbeziehungen. Alavis Buch erzählt diese Geschichte aus der Sicht der Sultane und mit Fokus auf den Indischen Ozean von 1791 bis in die 1880er Jahre und lässt den Leser über die strengen Grenzen der Nationalstaaten nachdenken und darüber, ob die heutigen Grenzen jemals angemessen erklären können, wer wir heute sind und woher wir kommen." Der moderne Oman, so Raju, bildet angesichts seiner geschichtsträchtigen Vergangenheit "eine Brücke zwischen der alten und der neuen Welt". Ein Beispiel für die Gemeinsamkeiten der Kulturen, verrät sie, sind die Geschichten über Dschinns, die heute noch immer eine bedeutende Rolle spielen: "Man glaubt, dass Dschinns verborgene Wesen sind, die in einer Parallelwelt zu den Menschen existieren und weder unbedingt gut noch böse sind. Eng verwoben mit dem islamischen Glauben gibt es im Oman auch heute noch Gerüchte über Dschinns. So erzählte mir ein alter Freund in Oman, dass unerschrockene Reisende manchmal davor gewarnt werden, eine ältere Anhalterin mitzunehmen, die bei der Darsait-Überführung in Muscat auftaucht. Ohne dass die Reisenden es merken, entpuppt sich die Dame bald als Dschinn mit Ziegenbeinen. Solche Geschichten sind auch heute noch in der südasiatischen Landschaft anzutreffen. So glaubt man zum Beispiel, dass in Delhis berühmtem Feroz Shah Kotla, der 1354 von Feroze Shah Tuglaq erbaut wurde, Dschinns wohnen."
Archiv: Himal

Gentlemen's Quarterly (USA), 25.09.2023

Im November wird Martin Scorsese 81, in den USA startet demnächst sein neues Epos, "Killers of the Flower Moon" - erneut ein dreieinhalbstündiges Drama. Wie viel Energie noch in ihm steckt, um danach nochmal einen solchen Film zu drehen, weiß er selber nicht genau, wie er in diesem tollen, sehr altersmelancholischen Porträt von Zach Baron verrät. Es ist eine Rückschau aufs Erreichte, auf Jahre der Tränen und der Triumphe - und eine Bilanz all dessen, wovon man sich verabschieden muss, wenn die Lebenszeit knapp wird. Um markige Statements ist Scorsese, der seine Filme heute nicht mehr in Hollywood produziert, sondern von Streamingdiensten finanzieren lassen muss, aber auch weiterhin nicht verlegen:  "'Die Filmbranche ist am Ende', sagt Scorsese. 'Oder anders gesagt, jene Filmbranche, von der ich - wann, vor 50 Jahren? - ein Teil war. Man könnte auch im Jahr 1970 jemanden fragen, der Stummfilme gedreht hat, was seiner Ansicht nach passiert ist.' Aber natürlich hat Scorsese Theorien. Die Studios, sagt er, sind nicht 'länger daran interessiert, individuelle Stimmen zu unterstützen, die persönliche Gefühle, Gedanken oder Ideen ausdrücken - und das mit einem großen Budget. Was passiert ist? Die haben das schön in die Schublade gesteckt, auf der 'Indiefilme' steht.' ... Mit der Überfülle von Franchise-Filmen und Comicverfilmungen, die man derzeit vor allem im Kino sehen kann, hat er Probleme. 'Die Gefahr besteht darin, was das mit unserer Kultur anstellt', sagt Scorsese. 'Weil es jetzt Generationen gibt, die denken, dass Filme sich darauf beschränken, dass es das ist, was Filme eben sind. ... Sie denken das bereits. Was nur heißt, dass wir umso stärker zurück kämpfen müssen. Und das muss von der Graswurzel aus losgehen. Es muss von den Filmemachern selbst kommen. Wir haben da die Safdie Brothers, wir haben Christopher Nolan, wissen Sie, was ich meine? Und wir müssen sie von allen Seiten treffen, von allen Seiten, niemals aufgeben. Lass mal sehen, was Du hast. Geh raus und tu es. Leg los, erfinde die Sache neu. Beschwer Dich nicht. Aber es ist einfach die Wahrheit: Wir müssen das Kino retten.'"

Tablet (USA), 20.09.2023

Anti-Zionismus oder Antizionismus? Izabella Tabarovsky plädiert dafür, den in Amerika normalerweise mit Bindestrich geschriebenen Begriff ohne Bindestrich zu schreiben, denn so drückt er besser aus, dass es es sich um ein geschlossenes Weltbild und nicht etwa um eine Auseinandersetzung mit Zionismus handelt. Wenn sich also jetzt in den USA ein antizionistisches Forschungsnetzwerk namens "Institute for the Critical Study of Zionism" (ICSZ) bildet, das angibt, Studien über den Zionismus betreiben zu wollen, aber zutiefst der BDS-Bewegung verbunden ist, dann sollte man trotz der fatalen Verortung an Universitäten keine wissenschaftliche Zielsetzung erwarten, meint Tabarovsky unter Bezug auf einen Aufsatz David Hirshs über den heute modischen Antizionismus: "In seinem Aufsatz in der demnächst erscheinenden "Routledge History of Antisemitism" stellt Hirsh fest, dass der 'Zionismus', gegen den der Antizionismus seine Ideologie definiert, etwas ist, das aus antijüdischen Fantasien zusammengezimmert ist'. Der Antizionist stellt sich den Zionismus als 'Kolonialismus, Apartheid, Rassismus, Überwachungsstaat, als etwas, das dem Nazismus ähnelt, und überhaupt als etwas, das gute Menschen ablehnen würden', vor - mit anderen Worten, als ein Phänomen, das sich von dem von Juden vertretenen Zionismus 'zutiefst unterscheidet'. Genauso wie Antisemiten gegen ein Hirngespinst von 'den Juden' kämpfen, das in ihren eigenen Köpfen existiert, kämpfen die neuen Antizionisten gegen einen 'Zionismus', der nirgendwo auf der Welt existiert und stattdessen von ihrer eigenen fiebrigen Fantasie heraufbeschworen wird. Die Abschaffung des Bindestrichs in 'Antizionismus' mag nicht wie ein radikaler Schritt erscheinen, aber genau wie die Änderung der Schreibweise von Anti-Semitismus in Antisemitismus hat dies wichtige konzeptionelle Auswirkungen und hilft uns, das Phänomen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten." Die Denkfiguren dieses modischen Antizionismus sind laut Tabarovsky übrigens uralt und lassen sich bereits auf den sowjetischen Antizionismus zurückführen, mehr zu dem Thema von Tabarovsky hier.
Archiv: Tablet