Magazinrundschau

Aber was ist mit den Karotten?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.12.2023. Der russische Autor Sergej Lebedew betrachtet für Desk Russie im Gulag von Sandarmoch erstaunt die Mutation von 200 ermordeten ukrainischen Kulturschaffenden in sowjetische Kriegsgefangene. In Granta empfiehlt Jürgen Habermas der Ukraine noch einmal Friedensverhandlungen mit Russland. Quillette zeichnet am Beispiel des Verhältnisses zwischen jüdischen und schwarzen Feministinnen nach, wie Sektenbildung funktioniert. Africa is a Country sucht in Afrika nach Vorbildern für eine Lösung des Nahostkonflikts. Elet es Irodalom freut sich über das Feuer Bela Tarrs. Der Guardian lernt das Belohnungssystem Nordkoreas kennen. Die London Review hätte ihre Alte Musik am liebsten nur halb so alt. Guernica sammelt auf dem Lamu Port-South Sudan-Ethiopia Transport Corridor in Kenia abgehackte Hände auf.

Desk Russie (Frankreich), 18.12.2023

Denkmal für die erschossenen Ukrainer in Sandarmoch. Foto: Semenov.m7, unter CC-Lizenz

Der russische Journalist und Autor Sergej Lebedew ruft dazu auf, die russischen Verbrechen in der Ukraine endlich in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen: Der Angriff auf die Ukraine, schreibt er, ist als eine logische Konsequenz einer imperialistischen russischen Politik in Europa zu begreifen, die nie geendet hat und von Russland selbst niemals aufgearbeitet wurde. Symbolisch für die Politik der Unterdrückung steht der Umgang des russischen Regimes mit dem Denkmal in Sandarmoch für das Massaker des NKWD an 6000 Gulag-Häftlingen, unter ihnen etwa 200 ukrainische Kulturschaffende: "2015 sprach Jurij Dmitriev, Forscher über die sowjetischen Zwangsarbeitslager und Leiter der karelischen Zweigstelle von Memorial, in Anwesenheit offizieller Persönlichkeiten über den Krieg in der Ostukraine - einen Krieg, den Russland nicht anerkannte und im Geheimen führte. Dmitriev sprach auch über die Opfer dieses Krieges, deren Namen eines Tages - wie in Sandarmokh - öffentlich gemacht würden, obwohl ihre Mörder auf ein ewiges Vergessen hofften ... Es war offenbar im Jahr 2015, als die Sicherheitsdienste begannen, sich mit dem Fall Dmitriev zu befassen. Er hatte eine rote Linie überschritten: Er hatte auf die ungeheuerliche Kontinuität der Verbrechen hingewiesen. Im Juli 2016 stellten zwei Historiker aus Petrosawodsk, Jurij Kilin und Sergej Weriguin, unerwartet die weit hergeholte Hypothese auf, dass in Sandarmokh keine Gulag-Häftlinge begraben worden seien, sondern sowjetische Kriegsgefangene, die während des Zweiten Weltkriegs von der finnischen Armee erschossen worden waren. Im selben Jahr ignorierten die russischen Beamten den Gedenktag am 5. August, zum ersten Mal seit der Einrichtung des Gedenkfriedhofs. Im Dezember 2016 wurde Dmitriev verhaftet...Im Jahr 2018 führte die Russische Gesellschaft für Militärgeschichte (RVIO) in Sandarmokh Ausgrabungen von zweifelhafter Legalität durch ... Bei diesen wurden mehrere Leichen aus den Massengräbern entfernt und an einen unbekannten Ort gebracht. Im Jahr 2019 gab das RVIO öffentlich bekannt, dass die Ausgrabungsdaten die Theorie von Kilin und Veriguin bestätigten ... schließlich wurde Dmitriev, der ursprünglich freigesprochen worden war, zu 15 Jahren Haft verurteilt und nach Mordowien in den Dubravlag geschickt, eine weitere Region des Landes mit einer langen und schrecklichen Strafgeschichte, tatsächlich eine der 'Inseln' des von Alexander Solschenizyn beschriebenen sowjetischen 'Archipel Gulag'. Angesichts seines Alters und der sanitären Bedingungen in den russischen Strafkolonien ist Dmitrievs Inhaftierung ein legalisierter Mord."
Archiv: Desk Russie

Granta (UK), 23.11.2023

Jürgen Habermas will die Ukraine zwar unterstützen, aber mit dem Ziel, möglichst schnell in Verhandlungen einzutreten. Im Gespräch mit Thomas Meaney, das im Juli geführt wurde, kommt er zurück auf die Debatte, die er in Deutschland ausgelöst hatte - und bleibt bei seiner Position: "Die westlichen Regierungen wollen eine formelle Beteiligung an dem Krieg vermeiden. Was mich jedoch von Anfang an beunruhigt hat, ist die fehlende Perspektive. Sie versichern der Ukraine immer wieder unbegrenzte militärische Unterstützung bis zu dieser Schwelle, ohne jedoch ihre eigenen politischen Ziele zu erklären. Offiziell überlassen sie alles andere der ukrainischen Regierung und ihren Soldaten. Diese fehlende öffentliche Artikulation politischer Ziele ist umso unverständlicher, je mehr der Verlauf des Krieges zeigt, wie sich die geopolitischen Konstellationen zu Ungunsten der im Niedergang befindlichen Supermacht USA und der international handlungsunfähigen EU verändern. Deshalb habe ich im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen Zeitung - 'Ein Plädoyer für Verhandlungen' (unser Resümee) - daran erinnert, dass der Westen mit der militärischen Hilfe, die letztlich die Verlängerung des Krieges ermöglicht, eine moralische Mitverantwortung übernommen hat. Ganz abgesehen von der Entschlossenheit der Ukrainer, sich der Invasion zu widersetzen, trägt der Westen mit seiner logistischen Unterstützung und seinen Waffensystemen eine moralische Mitverantwortung für die täglichen Opfer des Krieges - für alle zusätzlichen Toten und Verletzten und alle zusätzlichen Zerstörungen von Krankenhäusern und wichtiger Infrastruktur. Es wäre daher kein Verrat an der Ukraine, sondern eine klare normative Forderung, wenn die Vereinigten Staaten und Europa darauf bestehen würden, alle Möglichkeiten für einen Waffenstillstand und einen gesichtswahrenden Kompromiss für beide Seiten auszuloten."

In dieser Ausgabe, die übrigens Deutschland gewidmet ist, gibt es auch ein sehr sehr langes Gespräch mit Eyal Weizman, Gründer von Forensic Architecture, und die Veranstaltungskuratorin und Aktivistin Emily Dische-Becker, die die Erinnerungskultur in Deutschland kritisieren, weil sie das Judentum "mystifiziere", der rechten Regierung in Israel in die Hände spiele und nicht akzeptiere, dass der Holocaust nur ein Unterfall des Kolonialismus sei. "Es ist nun offensichtlich, dass das Thema Antisemitismus ein Laboratorium für eine umfassendere antidemokratische Politik darstellt und als Präzedenzfall für das Verbot anderer Protestformen dient", ist Dische-Becker überzeugt. "Erst wurden die palästinensischen Demonstrationen aufgelöst, jetzt werden andere Demonstrationen der Linken verhindert. So hat die Regierung beispielsweise begonnen, mit Maßnahmen wie Präventivhaft gegen Umweltaktivisten vorzugehen." Was Dische-Becker allerdings mit keinem Wort erwähnt, ist der Slogan, der jahrelang bei propalästinensischen Demonstrationen gerufen wurde, bis es der trägen deutschen Öffentlichkeit mal auffiel: "Hamas, Hamas, Juden ins Gas."

In einem zweiten, ebenfalls sehr langen Gespräch mit Weizman und Dische-Becker, das nach dem 7. Oktober geführt wurde, bekennt Weizman: "Als Nachkomme einer Familie von Pogrom- und Holocaust-Überlebenden kann ich nicht leugnen, dass die Ermordung von Familien aus nächster Nähe emotional sehr aufwühlend war. Aber das Trauma, das auch ich erlebe, kann die Verantwortung der historischen Analyse nicht ersetzen. Die israelische Gesellschaft scheint im 7. Oktober festzustecken, wie in einer endlosen Gegenwart. ... Das Trauma erzeugt einen metageschichtlichen psychologischen Zustand der permanenten Verfolgung. Das ist sehr gefährlich, vor allem, wenn Israel eine so große Armee hat, mit so viel internationaler Unterstützung und einer Vernichtungsmentalität. Israelische und deutsche Politiker sagen: 'Nie wieder ist jetzt'. Das artet in eine groteske Parodie des historischen Gedächtnisses aus, wenn der israelische Botschafter bei der UNO mit einem Davidstern als Rechtfertigung für die Vernichtung des Gazastreifens dasteht und die völkermörderischen Aussagen der israelischen Regierung und Armee wiederholt. ... Der Tag nach diesem Krieg wird nicht viel anders sein als der Tag davor, solange wir nicht die Frage der Befreiung und Gleichheit der Palästinenser adressieren. Dass Palästinenser Rechte haben über Palästina? Das ist nicht die Frage, sondern das Ziel unseres Kampfes. Eine andere Frage ist: Welche Rechte haben Juden in Palästina?"
Archiv: Granta

Quillette (USA), 16.12.2023

Für die Israelkritiker ist ausgemacht, dass die Israelis den Palästinensern militärisch so haushoch überlegen sind, dass die Zerstörung Gazas nur ein genozidaler Racheakt für den 7. Oktober sein kann. Wie kurzsichtig dieser Blick ist, erklärt der israelische Historiker Benny Morris. Israel kämpft nicht nur gegen die Hamas in Gaza, erklärt er, sondern gegen den Iran, der die Hamas unterstützt, die um ein vielfaches tödlichere Hisbollah im Libanon, die Huthi im Jemen und islamistische Milizen in Syrien. Allen zu begegnen, würde Israel in einen Mehrfrontenkrieg zwingen, den es nicht gewinnen könnte. Also muss der Iran das Ziel sein, meint Morris: "Aus Angst vor einer umfassenderen und apokalyptischeren Konfrontation haben sowohl Washington als auch Jerusalem weitgehend auf Vergeltungsmaßnahmen gegen den Iran selbst verzichtet und ihre Angriffe im Allgemeinen auf dessen Stellvertreter beschränkt. Es ist höchste Zeit, dass sich dies ändert. Und die jüngsten Ereignisse könnten Biden und sogar den routinemäßig zögerlichen und ängstlichen Netanjahu dazu veranlassen, den Kern des Problems, den Iran selbst, anzugreifen. Die Einrichtungen des Korps der Islamischen Revolutionsgarden, der Organisation, die für die Projektion der iranischen Macht in der Region verantwortlich ist, sind bekannte Ziele, ebenso wie die iranischen Marine- und Luftwaffenstützpunkte und die unterirdischen Nuklearanlagen, die glücklicherweise (noch) keine iranische Atomwaffe hervorgebracht haben. Angriffe auf diese Anlagen wären moralisch gerechtfertigt und längst überfällig. Wenn der Iran schließlich die Bombe hat, wird es zu spät sein. ... Dies könnte der einzige Weg sein, Israel wahren Frieden zu bringen. Auf einer Landkarte betrachtet, scheinen die Bedrohungen, denen der jüdische Staat ausgesetzt ist, aus allen Himmelsrichtungen zu kommen. Aber wenn man sie zu ihrer Quelle zurückverfolgt, führt jede zu derselben Adresse."

Warum so viele linke Juden das Existenzrecht Israels nicht anerkennen, hat bisher noch niemand so recht zu erklären versucht. Man fühlt sich dabei an jene iranischen Frauen erinnert, die Ende der Siebziger Jahre für die islamische Revolution im allgemeinen und den Tschadorzwang für Frauen im besonderen demonstrierten. Wie die Entwicklung bei linken Juden verlief, kann man jetzt ganz gut nachverfolgen in Kara Jesellas Artikel über das Verhältnis zwischen jüdischen und schwarzen Feministinnen in den USA seit den Sechzigern: Noch während der Bürgerrechtsbewegung oft an einem Strang ziehend, bezichtigten schwarze Feministinnen Jüdinnen zunehmend des "Weißseins", woraufhin ein Teil der jüdischen Feministinnen immer weiter nach links rückte, um diesem Vorwurf etwas entgegenzusetzen. Wie sektenartig das am Ende wird, zeigen die ideologischen Verrenkungen, die es braucht, um zu "Queers for Palestine" zu kommen: "Der Feminismus machte sich zueigen, was die Queertheoretikerin Heather Love als eine Tendenz des queeren Denkens zu immer schärferer Abweichung ("injunction to be deviant.") beschrieben hatte. Der Essay 'Queer Times, Queer Assemblages' der Gendertheoretikerin Jasbir K. Puar aus dem Jahr 2005 feierte palästinensische Selbstmordattentäterinnen, deren 'Auflösung der Grenzen des Körpers eine völlig chaotische Herausforderung an normative Konventionen von Geschlecht, Sexualität und Rasse darstellt und normative Konventionen von 'angemessenen' körperlichen Praktiken und der Heiligkeit des nicht behinderten (able) Körpers missachtet.' Diese 'queeren Körperlichkeiten', informiert uns Puar, untergraben die liberale westliche Tradition, weil 'Selbstmordattentäter das Rationale nicht transzendieren, die Grenze zum Irrationalen nicht akzeptieren'. Sie sind die Apotheose dessen, was Queer immer versucht hatte zu sein: nicht so sehr über sexuelle Identität definiert, sondern über 'widerständige Körperpraktiken' und Devianz selbst - über internationale Grenzen hinweg. Die ideale feministische Persona hatte sich von der gebildeten arbeitenden Frau zur jungen Radikalen, zur lesbischen Frau of Color und nun zur queeren palästinensischen Terroristin entwickelt. In der Zwischenzeit verunglimpften Puar und andere - darunter die Queer-Aktivistin Sarah Schulman - Israels 'zugegebenermaßen vorbildliche' Behandlung von Schwulen und Lesben als 'Pinkwashing', ein Mittel, um die Welt von ihrem Umspringen mit den Palästinensern abzulenken."
Archiv: Quillette

Africa is a Country (USA), 14.12.2023

Yahya Sseremba denkt am Beispiel von Südafrika, Uganda und Tansania darüber nach, was Israel von Afrika lernen könnte, wenn es um das Zusammenleben zweier verfeindeter Bevölkerungsgruppen in einem gemeinsamen Staat geht. Ganz überzeugend ist das nicht, aber man lernt immerhin, dass auch afrikanische Staaten große Probleme haben, den richtigen Umgang mit ihren Minderheiten zu finden - vor allem, wenn diese Minderheiten sehr groß sind. Uganda wurde "im Namen indigener Gemeinschaften gegründet, die im dritten Anhang der Verfassung von 1995 verankert sind ... Es hat inzwischen vier Massenvertreibungen nicht-indigener Gemeinschaften durchgeführt, darunter der kenianischen Luos, der Indern und der Banyarwanda. Die Logik, die zur Vertreibung der Palästinenser im historischen Palästina führt, ist dieselbe Logik, die zur Vertreibung nicht-indigener Gemeinschaften in Uganda führt. Dies ist die spaltende Logik des Nationalstaates, von der der Zionismus nur eine extreme, aber keineswegs außergewöhnliche Ausprägung ist." In Tansania hat man sich gegen einen "identitätsbasierten" Nationalstaat entschieden, so Sseremba. "Die wichtigsten Kategorien der Staatsbürgerschaft in Tansania - Staatsbürgerschaft durch Geburt und durch Abstammung - definieren einen Tansanier als jede Person, die in Tanganjika oder Sansibar vor der Unabhängigkeit von Tanganjika oder vor der so genannten Revolution von Sansibar geboren wurde. Das Gleiche gilt für die Nachkommen einer solchen Person. Diese Definition hat nichts mit der Rasse zu tun, auch wenn es in Tansania große arabische und asiatische Bevölkerungsgruppen gibt, die mit der schwarzen Bevölkerung koexistieren." In Tansania hatte allerdings "die so genannte Sansibar-Revolution durch ethnische Säuberungen die Araber geschwächt und sie auf eine kleine, überschaubare Minderheit reduziert. So konnte die schwarze Mehrheitsbevölkerung Tansanias die Araber tolerieren und friedlich mit ihnen koexistieren, ohne Angst haben zu müssen, von ihnen dominiert zu werden." Am Ende ist vielleicht Südafrika das geeignetere Vorbild, meint Sseremba. Einen palästinensischen Nelson Mandela weiß er allerdings nicht zu nennen.

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.12.2023

Bei der diesjährigen Verleihung des Europäischen Filmpreises in Berlin wurde der Regisseur Béla Tarr mit dem Ehrenpreis des EFA ausgezeichnet. Auch seine Rede war eine der besten auf dieser Veranstaltung, lobt der Kritiker György Báron: "Tarr war der Einzige auf dieser Messe der Eitelkeiten, der ernsthaft sprach, und das gab der leichtgewichtigen Gala unerwartetes Gewicht und Bedeutung. Zunächst sprach er darüber, warum zum Teufel man Filme macht, und dann, damit zusammenhängend, welchen Rat er jungen Menschen gibt: Sei du selbst, finde deinen eigenen Weg. Das sei das Einzige, was zähle, nicht das Geld, schließlich könne man auch mit dem Handy drehen, auf dem Heimcomputer schneiden und die Zuschauer im Internet erreichen. "Scheiß auf die Industrie", sagte er auf einer Veranstaltung, bei der es naturgemäß mehr um Industrie und ums Geschäft als um Kunst ging. In der heutigen Krise erinnerte er die Zuschauer in ihren schwarzen Krawatten und kleinen und großen Schwarzen daran, worum es beim Film geht und was zu verblassen scheint: dass er einst Kunst war und nicht verschwinden darf. Seid frei! - beendete er seine Rede über die Verantwortung der Schreiber, gefolgt von einer stehenden Ovation, die noch länger war als die erste. In diesen kurzen drei Minuten spürte die sich selbst feiernde Filmgemeinde und mit ihr die seriöse, zum Teufel geschickte Branche etwas von der Größe, die sie einst angestrebt und dann auf dem roten Teppich zurückgelassen hatte."

Guardian (UK), 18.12.2023

Meredith Shaw übersetzt Auszüge aus dem Memoiren des Schriftstellers Kim Ju-sŏng, der in Japan aufgewachsen war, 1976 mit 16 Jahren als ethnischer Koreaner nach Nordkorea zog und sich 28 Jahre später nach Südkorea absetzte. Unter anderem schreibt Kim über den nordkoreanischen Schriftstellerverband, der, anders als der Rest des Landes, in beschränktem Umfang Zugang zu ausländischer Literatur hat. Es geht jedoch auch um die politischen Mechanismen, die die Herrscherfamilie an der Macht halten. Kim schreibt über einen "carrot-and-stick approach". Die "sticks" des repressiven Regimes sind kaum zu übersehen: "Aber was ist mit den Karotten? Als Führer des Landes reisen die Kims immer wieder durch ihr Land, um 'Anleitung vor Ort' zu geben. Während diesen Touren werden Menschen, die den Führern begegnen, in zwei Kategorien eingeteilt: Zeugen und Gesprächspartner. Ein Zeuge ist jemand, der einen Führer von nahem sehen konnte, oder in einem Gruppenfoto mit ihm zu sehen ist. Einige dieser Zeugen haben die Ehre, Gesprächspartner werden zu dürfen - also zu Menschen zu werden, die tatsächlich Worte mit einem Führer wechseln. In anderen Worten der Status eines Individuums hängt davon ab, ob man tatsächlich 'mit Gott gesprochen' hat. ... Ich habe von Fabriken gehört, in denen die Arbeiter in einen Lagerraum gesperrt wurden, wenn einer der Kims unerwartet vorbeikam. Es ist also nicht so, dass einfach jeder Zeuge werden kann. Diejenigen, die es tun, werden unterschiedlich belohnt, aber ein Erinnerungsfoto mit dem Führer ist Standard. Dieses Foto dient als 'Lizenz' des Interviewten; es wird wunderschön gerahmt und wie ein Familienerbstück in der Wohnung aufgehängt. Wenn Sie ein solches Porträt erwerben, kümmert sich die örtliche Partei von diesem Moment an besonders um Ihre Familie. Das kann eine schnellere Beförderung bedeuten, ein größeres Haus oder die Erlaubnis, die Kinder auf bessere Schulen zu schicken. Für die Gesprächspartner sind die Belohnungen noch um einiges größer. Das hängt vom Inhalt des Gesprächs ab, aber zu den größten Belohnungen, von denen ich gehört habe, gehörten die Erlaubnis, nach Pjöngjang zu ziehen, eine Luxuswohnung und ein Mercedes-Benz."

Die weibliche "Stärke" im Cary-Yale-Visconti-Spiel
Jonathan Jones rekonstruiert die Geschichte der Tarot-Karten. Ursprünglich hatten diese, lernen wir, keinerlei Verbindung zu esoterischem Gedankengut. Tatsächlich handelte es sich anfangs um ein durch und durch weltliches Kartenspiel, das in der frühen Neuzeit an Fürstenhöfen gespielt wurde. Das älteste teilweise erhaltene Kartendeck, das als Cary-Yale-Visconti-Deck bekannt ist, zeichnet sich außerdem "durch kraftvolle Darstellungen von Frauen aus. Unter den dargestellten Figuren fondet sich eine mit eine schwerttragende Ritterin, die in goldenem Kleid auf dem Pferd sitzt, ihre Waffe in die Luft hält und von einer Pagin begleitet wird. Tatsächlich enthalten Karten aller vier Farben Darstellungen starker Frauen. Das ist typisch für die höfische Kultur im Italien der Renaissance, die den Hofdichter Ariosto auch dazu inspirierte, eine Ritterin, Bradamante, in sein episches Gedicht 'Orlando Furiosa' zu integrieren - Jahrhunderte vor 'Game of Thrones'. Solche ritterliche Ikonografie verweist auf die Wurzeln des Tarot, eines Spiels, das von Hofleuten zwischen Turnieren und Schönheitswettbewerben gespielt wurde. Am Hof nahmen Männer und Frauen gemeinsam an allen möglichen Aktivitäten teil. Frauen, die mit Tarotkarten spielten, wollten vermutlich sich selbst repräsentiert sehen. In einer anderen Karte des Decks kontrolliert eine Frau, die Stärke symbolisiert, problemlos einen Löwen, indem sie sein Maul mit ihren Händen geöffnet hält."
Archiv: Guardian

Meduza (Lettland), 15.12.2023

In Meduza porträtiert James Jackson den Dichter und Sänger Grzegorz Kwiatkowskis, dessen Großvater im Konzentrationslager Stutthof inhaftiert war. Kwiatkowski setzt sich für eine aktivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein, was er am Beispiel Stutthof demonstriert. "Kwiatkowski erklärt, dass Stutthof, weniger als eine Autostunde von Gdańsk entfernt, das Lederreparaturzentrum für alle Konzentrationslager der Nazis in Europa war. Die Schuhe wurden ihren meist jüdischen Besitzern - Männern, Frauen und Kindern - gestohlen und hierher gebracht, um zu Lederwaren verarbeitet zu werden. (...) Er und ein Freund stießen 2015 auf die verrottenden Sohlen und erzählten die Geschichte später der internationalen Presse. Nachdem der Guardian und CBC darüber berichtet hatten, änderte sich nichts. Doch als Reporter des Deutschlandfunks ihr Kommen ankündigten, geriet das Museumspersonal Berichten zufolge in Panik und ließ diese Artefakte des Völkermords verschwinden. 'Die Museumsmitarbeiter hatten Angst und schämten sich, weil die Deutschen sie sehen würden - es ist so paradox', sagt Kwiatkowski, frustriert über diesen offensichtlichen Versuch, die Geschichte unter den Teppich zu kehren. Anders als die Museumskuratoren sieht er es als seine Pflicht an, sich mit den Verbrechen und der Vernachlässigung der Geschichte auseinanderzusetzen. 'Es ist ein Privileg, ein Kurator dieser blutigen Vergangenheit zu sein', sagt er. 'Man kann daraus eine Anti-Hass-Botschaft machen: Nicht töten, andere respektieren.' Später brachte ihn eine zufällige Begegnung in einer Autowerkstatt dazu, an den Behauptungen des Museums zu zweifeln, diese Artefakte seien respektvoll entsorgt worden. Angeblich wies die örtliche Mülldeponie einen Lastwagen mit einigen der Schuhe ab, so dass die makabre Fracht auf einem Feld neben der Werkstatt des Mechanikers verbrannt wurde. 'Ich war sehr nervös und fing an, Fragen zu stellen, aber ich war zu neugierig, und dann wollte er [der Mechaniker] nichts mehr sagen', erzählt Kwiatkowski, während wir von Stutthof wegfahren."
Archiv: Meduza

iTvar (Tschechien), 18.12.2023

Der tschechische Schriftsteller und Soziologe Stanislav Biler verleiht in der Literaturzeitschrift Tvar seinem Gefühl Ausdruck, dass von Jahresende und Jahresbeginn zu sprechen, in den letzten Jahren seinen Sinn verloren habe: "So wie sich die Jahreszeiten verwischt haben, wenn Schnee und Frost im Dezember keine Gewissheit, sondern eine Überraschung darstellen, hat sich generell die Zeit verwischt. Sie verweigert einen Anfang und ein Ende. Die Epidemie hat unsere erlernten Zeitrhythmen durcheinandergebracht, und ich glaube, wir haben es nicht wieder geschafft, sie in die so mühsam eingefahren Spuren zurückzubringen. Neben vielen anderen Dingen hat Russlands Angriff auf die Ukraine die letzten Gewissheiten darüber zerstört, was möglich oder unmöglich ist, und also ist alles möglich, wie in thematischer Anknüpfung die Schrecken aus Israel und Gaza zeigen. Was Geschichte bleiben sollte, ist wieder Gegenwart. Das Jahresende verliert seinen Sinn, es erfüllt nicht das Versprechen von Abschluss, Versöhnung und Neubeginn. Es endet überhaupt nichts, und wenn etwas beginnt, weckt es höchstens Ängste. Die auf nationaler Ebene genährt werden von der Ankündigung einer weiteren Energie- und Lebensmittelverteuerung und der anhaltenden Wohnungsknappheit. Alle Kriegen schreiten fort, und die Zerstörung des Klimas ist augenscheinlich unumkehrbar …"
Archiv: iTvar
Stichwörter: Biler, Stanislav

The Insider (Russland), 13.12.2023

Iwan Schemanow erinnert an die wenigen Beispiele einer gerechten Justiz in der Sowjetunion in Zeiten des Roten Terrors. Damals gab es nur wenige Juristen, die sich trauten, wirklich als Verteidiger für ihre Mandanten aufzutreten: "Eine dieser genialen Juristinnen war Elena Romanowa, ein Mitglied der Moskauer Anwaltskammer. Romanowa erhielt von der 3. Juristischen Fakultät die Erlaubnis, in den Archiven zu arbeiten, wo sie Fälle von Personen, die wegen konterrevolutionärer Propaganda verurteilt worden waren, nachschlug, studierte und Klagen verfasste." Als Andrei Artemenko, leitender Ingenieur in einem Rüstungsbetrieb, konterrevolutionärer Umtriebe und der Produktionssabotage verdächtigt und ohne Gerichtsverhandlung verurteilt wurde, übernahm Romanowa seine Verteidigung an. "Da es während des Krieges nicht möglich war, eine Kassation beim Moskauer Militärbezirk einzureichen, schrieb Romanowa eine Beschwerde an Sergej Romanowski, den Vorsitzenden des Militärgerichts, und schilderte die Umstände des Falles. Romanowski war ihre einzige Möglichkeit. Als Vorsitzender des Tribunals war er befugt, die von seiner Abteilung behandelten Fälle zu überprüfen. (...) Ihr Kalkül ging auf: Der Vorsitzende legte unter Berufung auf Romanowas Argumente Protest ein, und am 21. Dezember 1942 hob das Militärtribunal die Verurteilung wegen der konterrevolutionären Anklage auf und legte den Fall der sabotierten Produktion zur weiteren Untersuchung vor." Artemenko überlebte die Gerichtsverhandlung und diente in der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Sein Fall wurde nicht wieder aufgegriffen. "Natürlich ist Andrej Artemenkos ungewöhnliches Schicksal zu einem großen Teil das Ergebnis seiner eigenen Bemühungen, seines Mutes und seines Glücks. Doch zumindest ein Teil seines Glücks ist Elena Romanova zu verdanken, die die Kraft fand, eine politisch motivierte Verurteilung anzufechten, selbst in einem vom Krieg zerrissenen totalitären Staat."
Archiv: The Insider

HVG (Ungarn), 14.12.2023

Die Publizistin Boróka Parászka kommentiert denkt anlässlich der Nobelpreise für die Iranerin Narges Mohammadi (Frieden) und für Katalin Karikó (Medizin, zusammen mit Drew Weissman) darüber nach, was eine solche Auszeichnung über die Lage der Frauen aussagt: "Narges Mohammadi könnte heute, wenn es nur nach ihrem Talent und ihren Fähigkeiten ginge, eine gut bezahlte Ingenieurin sein, die das Leben einer Frau mittleren Alters führt. Aber solch ausgeglichene, vorhersehbare und angesehene Karrieren für Frauen mittleren Alters sind selbst im'"sicheren' Westen selten. Katalin Karikó, die erste ungarische Nobelpreisträgerin, versäumte es nicht, in ihrer Dankesrede (…) zu betonen, wie wichtig es ist, Rückschläge zu überwinden, durchzuhalten und nicht aufzugeben. Das Geheimnis des Nobelpreises für Frauen ist nicht, wie wir das Beste aus unserem Talenten machen. Oder wie wir die Fallen des Nörgelns, Ignorierens und Sabotierens überwinden. Dies ist die friedliche Version. Man könnte sagen, dass es feierlich ist, dass es großartig ist, was Karikó wiederfuhr. Aber auch wenn die Anerkennung viele mit Stolz erfüllt, ist der holprige Weg zum Preis ein kleinkarierter und bitterer. Und für den Friedensnobelpreis für Frauen, der unter einer Kriegsdiktatur gereift ist, braucht es noch mehr als die Beharrlichkeit und Entschlossenheit einer Katalin Karikó."
Archiv: HVG

London Review of Books (UK), 14.12.2023

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Peter Phillips ist selbst ein Chorleiter und immerhin Gründer der weltberühmten Tallis Scholars. Mit Hingabe bespricht er das Buch "The Pursuit of Musick - Musical Life in Original Writings and Art c.1200-1770" des vielleicht nicht ganz so berühmten, aber, wie es scheint um so legendäreren Andrew Parrott. Phillips bekennt seine Bewunderung für diesen Fanatiker der authentischen Aufführungspraxis Alter Musik. Und dann macht er sich lustig. Parrotts superrigide Auffassungen über die Art und Weise, wie man früher sang, will Phillips nicht mitmachen. Anders als bei alten Instrumenten gibt es da sehr viel weniger materielle Hinweise. Parrott dekretiert etwa, dass Männer früher nicht im Falsett gesungen hätten, was Phillips für Unsinn hält. Und überhaupt, man überlege mal, wie wohl der Chor des Vatikan geklungen haben mag, als er seine größte Zeit hatte, im 16. Jahrhundert, dem Zeitalter Palestrinas: "Seine Musik, so perfekt geformt, so schimmernd, schreit förmlich nach jener Art von Chordisziplin, die heute selten ist - und die damals wohl gar nicht existierte. 'Erstaunlich ist die Zahl der päpstlichen Sänger im 16. Jahrhundert, die von ihren Zeitgenossen als nicht kompetent angesehen wurden', berichtet Richard Sherr in 'Music and Musicians in Renaissance Rome and Other Courts' (1999). Zu den Adjektiven, mit denen sie beschrieben wurden, gehören 'harsch' (aspra), 'heiser' (rauca), 'dissonant' (disona: 'ungestimmt') ... und sie werden gelegentlich mit dem Substantiv imbecillitas ('Schwäche') in Verbindung gebracht. Viele von ihnen waren regelmäßig krank oder abwesend, einige waren sehr alt, konnten aber nicht entlassen werden, und einige waren ohne Probespiel zugelassen worden. 'Kurz gesagt', schließt Sherr, 'wir wollen die Musik des Sixtinischen Chors im Zeitalter Palestrinas am Ende gar nicht so hören, wie sie gesungen wurde".

Cela dit, haben die Fanatiker der Alten Musik immer einen Trumpf: Bei ihnen klingt Musik so fremd, dass sie wieder neu ist. Hier das Credo aus Guillaume de Machaults "Messe de Nostre Dame" unter Andrew Parrott:

Guernica (USA), 18.12.2023

Unter dem donnerndem Applaus der Bevölkerung zogen im Jahr 2021 Containerschiffe in den Hafen der kenianischen Stadt Lamu ein, erinnern April Zhu and Theo Aalders. Der Hafen ist, wie die sogenannte Lamu-Garissa-Straße, Teil des gigantomanen Lamu Port-South Sudan-Ethiopia Transport Corridor (LAPSSET) "der nach den Worten der LAPSSET-Behörden 'das erste gigantische, integrierte, transformative und wegweisende Infrastrukturprojekt' in Kenia ist. Die Ortsnamen in der Abkürzung stehen für das Versprechen von Reichtum: Das Projekt soll die Ölfelder im Südsudan und in Turkana im Norden Kenias durch ein Netz von Autobahnen, Eisenbahnen und Pipelines mit dem Hafen von Lamu verbinden", schreiben Zhu und Alders. Nur - seit 2021 sind kaum mehr Schiffe in den Hafen von Lamu gelaufen, der Bau der Lamu-Garissa-Road steht still. Es gibt viele innenpolitische Gründe für das schleppende Vorangehen des Projekts, aber der größte ist die Unsicherheit - seit Jahren häufen sich furchtbare Angriffe der radikalislamischen Miliz Al-Shabaab, so die Journalisten, dabei war "Sicherheit" eines der Hauptversprechen der kenianischen Behörden: "Die peinliche Verzögerung bei der Entwicklung des Projekts - eine Peinlichkeit, die durch die ständigen Beteuerungen der Regierung und der LAPSSET-Beamten, dass die Unsicherheit kein Problem mehr sei, noch verstärkt wird - stellt das gesamte Projekt in Frage. In der Zwischenzeit sind die LAPSSET-Infrastruktur selbst und die Arbeiter, die sie bauen, zunehmend zu Opfern geworden. Im März 2022 stürmten militante Al-Shabaab-Kämpfer mit schwarzen Fahnen ein Camp der CCCC (China Communications Construction Company, die den Hafen von Lamu erweitert), wie ein Video zeigt, das mit einer GoPro-ähnlichen Kamera aufgenommen wurde. Auf den Aufnahmen zwingen sie die CCCC-Mitarbeiter, den Koran zu rezitieren. Diejenigen, die das nicht können, bekommen ein rotes Etikett mit der Aufschrift 'Kaafir' (Ungläubiger) digital über den Kopf geklebt, wie in einem Videospiel, und werden auf der Stelle hingerichtet. Mindestens vier Arbeiter wurden getötet. Nach Angaben von Kalume Kazungu, einem Reporter der kenianischen Tageszeitung Daily Nation, der größten Zeitung des Landes, wurden zwei chinesische Vorarbeiter entführt und später wieder freigelassen, einer davon mit abgehackten Händen. Vier Monate später versuchte ein weiterer Zeitungsartikel zu erklären, 'warum al-Shabaab keine Bedrohung mehr für den LAPSSET-Korridor darstellt'. Doch am 28. Dezember 2022 überfielen al-Shabaab-Kämpfer Reisende auf einer anderen Straße etwa fünfzig Meilen vom Hafen entfernt und töteten zwei von ihnen. Zwei Tage später detonierte ein Sprengsatz auf einer anderen Straße in der Nähe, alle vier Insassen starben, nur der verkohlte Toyota Hilux wurde gefunden. Eine Woche später, am 17. Januar, griffen bewaffnete Al-Shabaab-Kämpfer einen weiteren Baukonvoi an und töteten einen Menschen und verletzten fünf. Die Medienberichte über diese Anschläge haben einen merkwürdigen Ton: In keinem der Berichte werden die Namen der kenianischen Arbeiter genannt, die bei der Arbeit ums Leben kamen, aber einige beschreiben die zerstörten Fahrzeuge. In Verbindung mit den Verlautbarungen über die anhaltende Bedeutung des Projekts für die Regierung entsteht der Eindruck, dass die Lamu-Garissa-Straße mehr ist als nur ein Zeuge und ein Tatort. Die Straße fühlt sich wie ein Opfer an, das um jeden Preis geschützt werden muss."
Archiv: Guernica