Magazinrundschau - Archiv

Radar

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Magazinrundschau vom 08.12.2020 - Radar

"Wie sich vier Italiener einmal auf dem internationalen Walter-Benjamin-Kongress 1992 in Osnabrück wegen Maradona in die Haare gerieten", erzählt der argentinische Philosoph Ricardo Forster: "Drei von ihnen waren aus Norditalien - einer aus Mailand, einer aus Turin und der dritte, wenn ich mich recht erinnere, aus Florenz. Der vierte war aus Neapel. Mein argentinischer Kollege Nicolás und ich legten uns mit Verve für Maradona ins Zeug, woraufhin die drei Norditaliener zu unserer ungläubigen Überraschung alle Freundlichkeit ablegten und anfingen, den 'von der Camorra inthronisierten' Maradona wegen seines 'extravaganten Gebarens' mit Worten voller Ressentiment und Rassismus niederzumachen. Der Philosoph aus Neapel stellte sich dagegen wild entschlossen an unsere Seite und sprach von der historischen Gerechtigkeit, die es für die Leute aus dem Mezzogiono darstelle, mit Maradonas Hilfe endlich einmal Juventus Turin und die anderen Mannschaften aus dem Norden vom Thron gestoßen zu haben, die normalerweise den Titel wie auch die Reichtümer des Landes unter sich aufteilten und dem Süden nur die Armut und das Elend ließen. Damit erwies er sich als Einziger auf der Höhe einer benjaminschen Sicht der Geschichte, die die Schwachen, Entwurzelten und sonstigen Plebejer um die Erlösergestalt Maradonas versammelte, den Gott der Neapolitaner, der für Gerechtigkeit sorgte, indem er die heuchlerischen Herren des Geldes und des Fußballs ausdribbelte. Ohne das besänftigende Eingreifen Michael Löwys und Professor Garbers hätte die Sache ein schlimmes Ende genommen."

Magazinrundschau vom 19.08.2014 - Radar

Nicht ohne Melancholie erinnert sich die argentinische Schriftstellerin Ana María Shua an die goldene Epoche der Zeitschrift Reader"s Digest: "Die Reader"s Digest, die unsere Eltern in den 60er Jahren lasen, stand für alles, was wir aufgeklärten jungen Leute zerstören wollten, sie war das Symbol der scheinheiligen, ungerechten, imperialistischen Gesellschaft, die wir im Namen der Freiheit, der Kunst, der Sozialen Gerechtigkeit und des Neuen Menschen von der Erdoberfläche verschwinden lassen wollten. Heute, wo derartige Publikationen bloß noch rührend wirken, ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Die wild entschlossen antikommunistische Reader"s Digest klagte den Stalinismus wegen seiner Verbrechen an - wir aufgeklärten jungen Leute glaubten kein Wort. Die Bewohner der Sowjetunion sollten nicht glücklich sein? Die Bürger Ostdeutschlands sehnten sich nach dem Kapitalismus? Lächerlich! Die Roten Khmer ermordeten zwei Millionen Menschen, fast ein Drittel der Bevölkerung Kambodschas, stand in Reader"s Digest zu lesen - eine Wahrheit, die wir nicht akzeptieren konnten. Vielleicht war die Ideologie des Imperiums, die diese Zeitschrift vertrat, doch nicht so schlimm - wer weiß, ob wir sie, wenn eines Tages unser Schulunterricht zweisprachig, in Spanisch und Chinesisch, abgehalten wird, nicht noch vermissen werden."

Magazinrundschau vom 11.11.2008 - Radar

Der Schriftsteller und Kritiker Rodrigo Fresan setzt die "Besteller auf die Anklagebank": "Wie so oft ist auch heute wieder die Rede davon, die Literatur stecke in einer Krise. Das glaube ich nicht. Der Literatur geht es gut.Wer in einer Krise steckt, sind die Bestseller: Die sind in der Tat immer schlechter geschrieben. Im Vergleich zu Dan Brown und seinen Epigonen wirken Leute wie Robert Ludlum, Irving Wallace oder Morris West geradezu wie Balzac, Hugo oder Zola. Dazu kommt, dass heute jeder flüchtige Bestseller eine Unmenge noch flüchtigerer Klone produziert, die in der Regel noch schlechter sind als das ohnehin nicht besonders gute Original. Was wiederum dazu führt, dass die erfolgreichsten Bestsellerautoren sich gezwungen sehen, sich selbst zu imitieren, oder aber - um sich irgendwie von ihrer einmal gefundenen Erfolgsformel zu befreien - in einer verzweifelt zentrifugalen Bewegung ihre besten Figuren eigenhändig auslöschen."
Stichwörter: Brown, Dan, Balzac, Honore de

Magazinrundschau vom 03.06.2008 - Radar

Vor dreißig Jahren, am 1. Juni 1978, begann die berühmt-berüchtigte Fußball-WM im damals noch von einer Militärdiktatur regierten Argentinien. Gustavo Veiga erinnert sich: "Manche Preise können regelrecht wehtun. Der damals von Fürst Rainier von Monaco geleitete Internationale Verband gegen Gewalt im Sport verlieh dem von starken Polizeikräften überwachten argentinischen Publikum abschließend einen 'Preis für gutes Benehmen'. Und Henry Kissinger, Ehrengast der Militärjunta, feierte den WM-Sieg der Heimelf als 'unwiderlegbaren Beweis, wozu die Argentinier, nicht bloß auf sportlichem Gebiet, imstande sind'." Um eine für den 29. Juni geplante Gedenkveranstaltung im Estadio Monumental samt Fußballspiel zwischen WM-Veteranen und internationalen Gästen scheint derweil ein heftiger Streit entbrannt. Trainerlegende Cesar Luis Menotti hat seine Teilnahme abgesagt: "Derlei Veranstaltungen interessieren mich nicht, ich brauche mich mit nichts und niemandem auszusöhnen."

Magazinrundschau vom 12.09.2006 - Radar

"Ich glaube nicht, dass der Tango heute einen Aufschwung erfährt, was zunimmt, ist lediglich das Geschäft damit." Wenig optimistisch über Gegenwart und Zukunft des Tango äußert sich einer der größten lebenden Vertreter seines Faches, Rodolfo Mederos: "Der Tango befindet sich im Zustand der Totenstarre. Man hat ihn lebendig begraben, und jetzt hören wir sein Klopfen von unter der Erde. Aber er liegt unter soviel Schutt, wir wissen gar nicht, wie wir ihn freilegen sollen, wir haben kein Werkzeug dafür." Schon allein deshalb, "weil kaum noch brauchbare Bandoneons aufzutreiben sind. Und die wenigen, die es gibt, sind durch den Tango-Tourismus für Einheimische unbezahlbar geworden." Schuld an der Fehlentwicklug trägt neben anderem Astor Piazzolla, meint Mederos, "er hat den Tango zu etwas Abgehobenem, Isoliertem gemacht und die Tradition einzig auf ihn selbst verengt."

Mariana Enriquez erinnert an die Ermordung des Rappers Tupac Shakur vor zehn Jahren: "Die schwarze Community Nordamerikas hatte seit Jahren über keinen so eindeutigen Repräsentanten mehr verfügt, und entsprechend verwaist blieb sie zurück: Nie wieder verbanden sich im Rap in derselben Weise politischer Aktivismus und musikalischer Anspruch. Shakurs einziger Erbe ist ironischerweise ein Weißer, Eminem."

Magazinrundschau vom 08.08.2006 - Radar

Wenig optimistisch über die Aussichten seines Berufsstandes äußert sich Yves Champollion, Nachkomme des mythischen Hieroglyphenentzifferers Jean-Francois Champollion, weltbekannter Spezialist für wissenschaftliche Übersetzungen und einer der Entwickler der Übersetzungssoftware Wordfast: "Als Übersetzer befindet man sich heute in der gleichen Situation wie die Industriearbeiter vor hundert Jahren: Ein heutiger Übersetzer schafft zwanzig Seiten pro Tag, vor zwanzig Jahren waren es höchstens fünf. Man muss immer schneller arbeiten und hängt immer stärker von der Maschine ab. Im Grunde genommen arbeiten die Übersetzer heute wie Roboter. Zu 97 Prozent besteht ihre Arbeit aus technischen oder kommerziellen Texten, Literaturübersetzung ist inzwischen völlig marginal, reine Folklore."

Im Interview vergleicht sich Alberto Garcia-Alix, berühmt geworden als der Fotograf der Madrider 'movida', mit seiner Kollegin und Bekannten, der US-Fotografin Nan Goldin: "Ich empfinde mehr Scham als Goldin, Menschen, die im Sterben liegen, wollte ich nie abbilden. Spanier haben ein stärkeres Gefühl für die Tragik des Lebens als Angelsachsen. Ein Spanier wütet, dreht durch, ist exzessiv, aber anschließend verspürt er Scham angesichts der Tragödie."

Magazinrundschau vom 11.10.2005 - Radar

Vor dreißig Jahren gelang es der Journalistin Maria Moreno, die argentinische Malerin und Dichterin Silvina Ocampo (mehr hier und hier), schon damals ein lebender Mythos, zu einer Reihe von Interviewsitzungen zu überreden, die soeben in Buchform erschienen sind. Unter anderem erzählt die so exzentrische wie elitäre Autorin darin vom Besuch einer Tierhandlung: "Einmal wollte ich mir einen Vogel kaufen. Nicht sein Gefieder, sondern sein Gesang sollten beim Kauf den Ausschlag geben. Der Verkäufer führte mir eine Lerche vor, einen Kardinalsvogel, eine Drossel, ja sogar eine Elster. Ich konnte mich für keinen entscheiden. Da hörte ich ein sehr seltsames Geräusch aus einem der Käfige im hintersten Teil des Ladens. 'Das ist es, dieser Gesang gefällt mir', sagte ich, trat näher und sah einen winzig kleinen Affen vor mir, dessen Gesicht in meine Hand gepasst hätte."

Der katalanische Sänger Jaume Sisa (mehr) versucht den Anspruch, kostenlos jede Art von Musik aus dem Netz herunterzuladen, konsequent zu Ende zu denken: "Und zuletzt ist es soweit: Eine Welt ohne Geld. Der digitalen Technologie gelingt, was weder die Französische Revolution noch die Republik noch der Oberste Sowjet noch der Mai '68 geschafft haben: der Traum von Arkadien wird wahr."

Magazinrundschau vom 26.04.2005 - Radar

"Anders als in Brasilien war die Kirche in Argentinien stets die Kirche der herrschenden Klassen. Und die argentinischen Großvermögen sind bis heute Beitragszahler erster Ordnung an den Vatikan." Der bekannte argentinische Journalist Horacio Verbitsky, dessen Buch "El Vuelo" vor zehn Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Einleitung der Aufarbeitung der während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen leistete (s. a. hier), spricht im Interview über sein soeben erschienenes Buch "El Silencio". Darin beschäftigt sich Verbitsky mit den engen Beziehungen hochrangiger Vertreter des katholischen Klerus zu den Militärs. Seinen Recherchen zufolge überließ etwa der damalige Sekretär des Militärvikariats Emilio Grasselli über einen Strohmann die auf einer Insel im Parana-Delta gelegene Ferienresidenz "El Silencio" des Kardinalerzbischofs von Buenos Aires den gefürchteten Spezialeinheiten der Marine, die den Ort als geheimes Gefangenenlager und Folterzentrum nutzten. Verbitsky geht in seinem Buch auch dem Einfluss nach, den die französische fundamentalistisch-katholische Organisation "Cite Catholique" seit Ende der fünfziger Jahre auf die Ideologie der argentinischen Militärs hatte (s. a. hier). Eine zentrale Rolle spielten dabei laut Verbitsky die von Vordenkern dieser Organisation ausgearbeitete Definition des Terminus "Subversion" und ihre während des Algerienkrieges formulierte theoretische Rechtfertigung der Folter: "Die Kirche war das Gehirn, das den Militärs die Waffen an die Hand gab."

Magazinrundschau vom 08.03.2005 - Radar

Am 29. Juni 2005 jährt sich zum hundertsten Mal der Aufstand der Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin. Eduardo Montes-Bradley, argentinischer Filmemacher und Autor einer neuen Cortazar-Biographie, hat die genauen historischen Umstände und vor allem das Schicksal der 670 Mann Besatzung recherchiert: "Borges hatte Recht: 'Panzerkreuzer Potemkin ist kein realistischer Film.' In Eisensteins Darstellung gerät der Aufstand zu einem gewitzten Matrosenstreich. In Wahrheit wurden bis auf sieben Offiziere und drei Unteroffiziere, ohne die das Schiff nicht hätte gesteuert werden können, sämtliche Mitglieder des Stabs ermordet: erstochen oder über Bord geworfen, um den Aufständischen als schwimmende Zielscheiben zu dienen. Auch die berühmten Salven auf das Theater von Odessa, Symbol par excellence der unterdrückerischen Bourgeoisie der Stadt, verfehlten in Wirklichkeit ihr Ziel um Längen und zerstörten Wohnungen und Geschäfte im Stadtzentrum." Mit der Flucht von Odessa begann eine Odyssee durch verschiedene Häfen des Schwarzen Meeres. Ein Großteil der Matrosen akzeptierte schließlich das Asylangebot des rumänischen Königs. 31 von ihnen gelangten mit Hilfe deutscher Sozialdemokraten nach England und bestiegen dort später ein Schiff nach Argentinien - "was es künftigen Biografen unmöglich machen sollte, das Thema als abschließend behandelt zu betrachten", frohlockt Montes-Bradley, der hier, nicht zu Unrecht, entzückt "die Eröffnungsszene eines weiteren Panzerkreuzerfilms" vor Augen zu haben glaubt.

In einem langen Interview gibt Allround-Künstler Eduardo Bergara Leumann, eine Art argentinischer Andre Heller, Herr über "La Botica del Angel", Tango-Tempel und auf Exklusivität (keine eigene Website) bedachte Touristenattraktion in einer ehemaligen Kirche im Szeneviertel San Telmo, eine Unzahl Tango-Anekdoten zum Besten - kein Wunder, so ziemlich alle Größen dieses wohl erfolgreichsten argentinischen Exportartikels gehörten zu seinen Gästen oder traten bei ihm auf. In der Essenz reduziert sich Bergaras Suada auf einen Ausspruch der Schriftstellerin Silvina Ocampo, der neben vielen anderen die Wände des Etablissements schmückt: "Tango: Sich freuen, dass man traurig ist."

Außerdem eine Übersicht über die, nach Ansicht der Radar-Redaktion, sehenswertesten Beiträge des am 10. März beginnenden Filmfestivals von Mar del Plata.

Magazinrundschau vom 18.01.2005 - Radar

Martin Solares hat für Radar den chilenischen Schriftsteller Alejandro Jodorowsky (mehr hier) besucht, der seit Jahren jeden Mittwoch in einem Pariser Cafe eine "psychomagische" Ambulanz betreibt. Jodorowsky, der einst die Vorlagen für die Pantomimen von Marcel Marceau schrieb, später mit Fernando Arrabal und Roland Topor die Bewegung "Panique" gründete und in den sechziger Jahren in Mexiko mit seinen Filmen und Theaterinszenierungen regelmäßig Skandale auslöste, verdient sich heute als über Siebzigjähriger seine Rente mit Tarot-Sitzungen, zu denen die Leute stundenlang anstehen: "Kunst ohne Heilkraft interessiert mich nicht. Früher bewunderte ich Dostojewski, Proust, Kafka, aber ihre Werke sind nur Ausdruck einer großen Neurose. Sie verbringen ihre Zeit mit Nabelschau, Beschreibungen ihrer Neurosen. Als ich das begriffen hatte, sagte ich mir: 'Schluss, ich habe es satt, was ich will, ist eine Kunst, die heilt.'" Unter anderem empfiehlt Doktor Jodorowsky seinen Patienten: "Begehen Sie einen Raubüberfall, ernähren Sie sich 22 Wochen lang von einem Steak, zertrümmern Sie mit bloßer Faust sieben Wassermelonen, legen Sie neun weiße Rosen auf das Grab eines Großvaters."

Der Schriftsteller Rodrigo Fresan kommentiert nicht ohne Häme die große neue Borges-Biografie des Oxford-Professors Edwin Williamson (die bereits die Zustimmung von Christopher Hitchens und vernichtende Kritik durch David Foster Wallace erfahren hat): "Für englischsprachige Leser ein korrektes, funktionelles, angemessenes Buch, aber für uns total überflüssig. Wir erfahren so gut wie nichts Neues. Aber geben wir es zu: Borges' Biografie ist einfach nicht besonders interessant oder amüsant. Das ist bei den meisten Schriftstellern so. Im Vergleich zu anderen üben sie schlichtweg einen ziemlich bewegungsarmen Beruf aus. Erst in seinen letzten Jahren verwandelte sich Borges in eine Art blinden Phineas Fogg, der - freiwillig oder gezwungenermaßen - mehrfach die Welt umkreisen sollte, um nichts zu sehen und dabei zu viel zu reden." (Hier eine Übersicht über die in den letzten Jahren erschienenen argentinischen Borges-Biografien.)