Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.03.2005. Die New York Review of Books feiert die Wiederentdeckung des Pianisten William Kapell. Im Spiegel erklärt Salman Rushdie den Unterschied zwischen westlicher und östlicher Pornografie. Radar erzählt die Geschichte der Matrosen nach ihrem Aufstand auf der Potemkin. Der New Yorker feiert Fatih Akins "Gegen die Wand". Das ungarische Elet es Irodalom fürchtet, dass die Aufklärung über die kommunistische Vergangenheit ein Hobby feiger Internetchampions wird. Die New York Times stellt ein Buch über Al-Jazeera vor und porträtiert den ehrenwerten Leung Kwok-hung, den Joschka Fischer von Hongkong.

New York Review of Books (USA), 24.03.2005

Michael Kimmelman feiert enthusiastisch die Wiederentdeckung des größten amerikanischen Pianisten des letzten Jahrhunderts: William Kapell. "Er war das Stereotyp eines gebürtigen New Yorkers: schlau, frech, taktlos, ehrgeizig, eingebildet witzig, und dünnhäutig. Er konnte ausgesprochen großzügig sein und schrecklich gehässig. Er wa eine nervöse, obsessive person - und pedantisch. Wie der Pianist Eugene Istomin einmal sagte, war Kapell kein einfacher Mann, sondern ein großartiger. Am Klavier saß er aufrecht und war zugleich konzentriert und gebieterisch, aber seine seltsamen Manierismen auf der Bühne konnten davon ablenken. Er watschelte ungeduldig auf die Bühne und wieder herunter, zuckte ein wenig während der orchestralen Stellen eines Konzerts und zog manchmal sogar einen Kamm aus seiner Tasche, um darauf herumzuratschen."

Stephen Kinzer, Reporter der New York Times, hält nichts von einer Konfrontation mit dem Iran, sondern setzt auf das, was die Europäer so gern kritischen Dialog nennen: "Für die USA wird es zu keinem postiven Resultat führen, den Iran weiter als Pariah zu behandeln. Ihn zu destabilisieren, wird das Regime nur in seinem Gefühl der Isolation bestärken. Ein Angriff auf den Iran wird die bemerkenswert proamerikanische Bevölkerung wieder einmal in Amerikahasser verwandeln... Auch wird ein Regimewandel den Iran nicht von seinem nuklearen Kurs abbringen, da die meisten Iraner jeglicher Couleur darin übereinstimmen, dass das Land so viel Recht zu nuklearer Macht hat wie Israel, Pakistan, Indien und Nordkorea. Den Iran als Mitglied der Weltgemeinschaft zu behandeln, mit seinen eigenen Hoffnungen und Ängsten, mag immerhin zu Verantwortlichkeit, Frieden mit seinem Nachbarn und vielleicht sogar Demokratie führen."

Außerdem: Elizabeth Drew begrüßt die Rückkehr des republikanischen Politikers Newt Gingrich auf die Washingtoner Bühne, die er einzig und allein seiner "Gerissenheit und Frechheit" zu verdanken habe. Bill Moyers fragt sich, warum sich ausgerechnet die christliche Rechte so wenig um die Umwelt schert, wo sie doch sonst keinen bevorstehenden Untergang unbeschworen lässt. Der Neurologe Oliver Sacks erinnert an den vergangenes Jahr verstorbenen Entdecker der DNS, Francis Crick, der laut Sacks intellektuell so stark glühte wie ein Atomreaktor.

Spiegel (Deutschland), 07.03.2005

"Wenn westliche Pornografie ein Symptom westlicher Dekadenz ist, dann ist östliche Pornografie eine Begleiterscheinung der östlichen Repressionen. Pornografie ist fast immer das Ergebnis - oder das dramatische Symptom - eines nichtpornografischen sozialen Unbehagens. Sie ist fast nie dessen Ursache", schreibt der Autor Salman Rushdie in einem Aufsehen erregenden Essay für Timothy Greenfield-Sanders' Bildband "XXX 30 Porn-Star Portraits", den der Spiegel in dieser Woche abdruckt. Die subversive Qualität der Pornografie zeige sich zum Beispiel im Iran: "Die iranische Regierung sperrt immer wieder den Zugang zu Websites mit 'pornografischen und regierungsfeindlichen Inhalten'. Das ist übrigens eine interessante Wendung. Als Chomeini 1979 an die Macht kam, haben seine verurteilungsfreudigen Ajatollahs, wie etwa der 2003 verstorbene Chalchali, zahlreiche Prostituierte hinrichten lassen. Und nun scheinen die Porno-Königinnen die Stoßtrupps der Opposition zu bilden!"
Archiv: Spiegel

Radar (Argentinien), 06.03.2005

Am 29. Juni 2005 jährt sich zum hundertsten Mal der Aufstand der Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin. Eduardo Montes-Bradley, argentinischer Filmemacher und Autor einer neuen Cortazar-Biographie, hat die genauen historischen Umstände und vor allem das Schicksal der 670 Mann Besatzung recherchiert: "Borges hatte Recht: 'Panzerkreuzer Potemkin ist kein realistischer Film.' In Eisensteins Darstellung gerät der Aufstand zu einem gewitzten Matrosenstreich. In Wahrheit wurden bis auf sieben Offiziere und drei Unteroffiziere, ohne die das Schiff nicht hätte gesteuert werden können, sämtliche Mitglieder des Stabs ermordet: erstochen oder über Bord geworfen, um den Aufständischen als schwimmende Zielscheiben zu dienen. Auch die berühmten Salven auf das Theater von Odessa, Symbol par excellence der unterdrückerischen Bourgeoisie der Stadt, verfehlten in Wirklichkeit ihr Ziel um Längen und zerstörten Wohnungen und Geschäfte im Stadtzentrum." Mit der Flucht von Odessa begann eine Odyssee durch verschiedene Häfen des Schwarzen Meeres. Ein Großteil der Matrosen akzeptierte schließlich das Asylangebot des rumänischen Königs. 31 von ihnen gelangten mit Hilfe deutscher Sozialdemokraten nach England und bestiegen dort später ein Schiff nach Argentinien - "was es künftigen Biografen unmöglich machen sollte, das Thema als abschließend behandelt zu betrachten", frohlockt Montes-Bradley, der hier, nicht zu Unrecht, entzückt "die Eröffnungsszene eines weiteren Panzerkreuzerfilms" vor Augen zu haben glaubt.

In einem langen Interview gibt Allround-Künstler Eduardo Bergara Leumann, eine Art argentinischer Andre Heller, Herr über "La Botica del Angel", Tango-Tempel und auf Exklusivität (keine eigene Website) bedachte Touristenattraktion in einer ehemaligen Kirche im Szeneviertel San Telmo, eine Unzahl Tango-Anekdoten zum Besten - kein Wunder, so ziemlich alle Größen dieses wohl erfolgreichsten argentinischen Exportartikels gehörten zu seinen Gästen oder traten bei ihm auf. In der Essenz reduziert sich Bergaras Suada auf einen Ausspruch der Schriftstellerin Silvina Ocampo, der neben vielen anderen die Wände des Etablissements schmückt: "Tango: Sich freuen, dass man traurig ist."

Außerdem eine Übersicht über die, nach Ansicht der Radar-Redaktion, sehenswertesten Beiträge des am 10. März beginnenden Filmfestivals von Mar del Plata.
Archiv: Radar

Nouvel Observateur (Frankreich), 03.03.2005

Nach der Ermordung des libanesischen Oppositionsführers und ehemaligen Premierministers Rafic Hariri denkt der libanesische Lyriker Salah Stetie (mehr) in einem Essay über die gewaltträchtige Geschichte seines Landes nach. Er schreibt: "Nach jedem Attentat legt sich über alles eine schreckliche Stille, die man als 'primitiv' bezeichnen könnte. Nicht nur im Freudschen Sinn des Begriffs, der verlangt, dass er mit einem rätselhaften, heimlich erwünschten Verbrechen verknüpft ist, sondern auch in seiner ursprünglichen Bedeutung von Archaik und Grausamkeit. Die Zurückweisung des Anderen und seiner Ansichten. Die Verweigerung des Dialogs. Die Verweigerung von allem, das in einer Gesellschaft den Zündfunken der Demokratie darstellt."

In einem Interview spricht der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama über sein neues Buch "Staaten bauen". Auf die Frage, ob es einfacher sei, einen Staat oder eine Nation aufzubauen, antwortet er: "Der Unterschied zwischen Staat und Nation besteht in der Unterscheidung zwischen Regierung und Gesellschaft. Eine Nation stützt sich auf ein gemeinsames Gedächtnis, eine gemeinsame Kultur. Einen Staat zu bauen, heißt dagegen einfach ihn mit einer Regierung und mit Institutionen auszustatten."

In diesem Jahr würde Jean-Paul Sartre seinen 100. Geburtstag feiern, ein Ereignis also, das in den französischen Medien breiten Raum einnimmt und weiter einnehmen wird. Der Obs bringt einen Essay von Aude Lancelin verbunden mit dem Hinweis auf die bisher größte Ausstellung zu Sartre in der Bibliotheque Nationale. In weiteren Artikeln schreiben unter anderem der Historiker Michel Winock über militanten Sartre, Peter Sloterdijk über den "großen Verneiner", Didier Eribon über den Intellektuellen und der Theaterregisseur Michel Raskine über den Dramaturgen.

Zu lesen ist schließlich ein Bericht über die Explosion auf dem Markt für außereuropäische Kunst und ein Interview zu diesem Thema mit dem Direktor des Musee Branly.

New Yorker (USA), 14.03.2005

Anthony Lane sah im Kino "Gegen die Wand" von Fatih Akin, der in Amerika "Head On" heißt, und prophezeit, dass man "aus dem Film nicht als dieselbe Person herauskommt, als die man hineingegangen ist".

Unter der Überschrift "Der Duft des Nils" porträtiert Chandler Burr den französischen Parfumeur Jean-Claude Ellena, der für Hermes einen neuen Duft entwickeln sollte. Burr beschreibt die Stationen bis eine der Kreationen Gnade vor den Nasen der Manager findet, außerdem erfährt man eine Menge über das schwierige Geschäft, den Anforderungen der Firmen gerecht zu werden.Ein französischer Manager beschreibt das so: "Zuerst heißt es 'Wir möchten etwas für Frauen.' O.K., welchen Frauen? 'Frauen! Alle Frauen! Sie sollten sich weiblicher fühlen, aber stark, und kompetent, aber nicht zu sehr. Und es sollte sich gut verkaufen in Europa und den USA und vor allem auf dem asiatischen Markt, und es sollte neu sein, aber klassisch, und junge Frauen sollten es lieben, aber ältere Frauen sollten es auch lieben.' Wenn es eine französische Firma ist, wird die Anforderung außerdem den Satz enthalten: 'Und es sollte ein großes kompromissloses Kunstwerk sein.' Eine amerikanische Firma wird dagegen sagen: 'Und es sollte riechen wie dieses Armanidings vor zwei Jahren, dass in den ersten zwei Monaten vier Millionen Dollar in Europa einbrachte, aber auch wie das Givenchy Parfum, dass sich so gut in China verkaufte."

Weiteres: Mark Singer berichtet über die Probleme der Bennennung einer erst vor fünf Jahren entdeckten Art von Menschenaffen. Paul Rudnik kennt den Zeitplan der Queen für den Tag der Wiederverheiratung ihres Sohns Charles ("7 Uhr: Aufstehen und Corgies begrüßen"). Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Della" von Anne Enright.

Adam Kirsch erklärt, warum es so einfach ist, Charles Bukowski zu mögen, John Updike rezensiert den neuen Roman "Extremely Loud and Incredibly Close" (Houghton Mifflin) von Jonathan Safran Foer (mehr), und die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Geschichte der amerikanischen Spionageprogramme. John Lahr bespricht die Theaterstücke "Romance" von David Mamet und "The Last Days of Judas Iscariot" von Stephen Adly Guirgis. Nancy Franklin stellt die TV-Produktion "America?s Next Top Model" vor, in der es um einen 100.000-Dollar-Vertrag mit einer Kosmetikfirma und einer Modelagentur sowie den Auftritt auf einer Doppelseite in Elle geht.

Nur in der Printausgabe: eine Reportage über einen im Irak gefallenen US-Soldaten, ein Hintergrundbericht über das Modelabel Dolce&Gabbana, ein Porträt des Architekten Rem Koolhaas, Näheres zur antiken Athener Kleiderordnung und Lyrik von Eliza Griswold, Stanley Moss und A.R. Ammons.
Archiv: New Yorker

Folio (Schweiz), 07.03.2005

Hauptthema sind diesmal die Schweizer "Jugos". Milica Miletic fährt in deren Heimat und besucht die Jugend auf dem "Toten Stern Belgrad". "Aufgewachsen sind diese jungen Leute mit Turbo-Folk, einer Musik, die die Kenner der guten alten Belgrader Rockszene schlicht als 'Denkmal einer gesellschaftlichen und kulturellen Katastrophe' bezeichnen. Es ist die Musik der Milosevic-Ära, der Soundtrack von Krieg, Nationalismus und Gangster-Lifestyle. Der billige Glamour aus Pelz, Diamanten und dicken Autos sollte von Armut und Elend dieser Zeit ablenken und krude Träume nähren. Das Rezept ist einfach: Man nehme eine alte Volksmelodie, bearbeite sie hemmungslos am Computer, versehe sie mit einem albernen, möglichst schlüpfrigen Text und lasse das Ergebnis von einer 'Silikonsängerin' vortragen. Noch heute ertönt der Turbo-Folk von den schwimmenden Lokalen auf der Save, und einer der Stars der Szene, Ceca genannt, ist drauf und dran, auf Europatournee zu gehen. Ceca ist die Witwe des Mafioso und Kriegsherrn Arkan, der vor fünf Jahren ermordet wurde."

Weitere Artikel: Dario Venutti hofft, dass die Immigranten aus dem ehemaligen Jugoslawien es den Italienern nachmachen und sich von Flüchtlingen zu Kulturbringern entwickeln. Eva Burkhard fragt sich, warum man sich die Sprachenvielfalt an Schweizer Schulen nicht zunutze macht. Marcel Zwingli stürzt sich ins Zürcher Jugo-Nachtleben. Luca Turin schwärmt in seiner Parfum-Kolumne so schön exzentrisch vom "leichten, frischen, an erdiges Süssholz erinnernden, warmen und doch kargen, in einem Wort: intelligenten Geruch" der Vetiver-Wurzel.
Archiv: Folio

Tygodnik Powszechny (Polen), 06.03.2005

"Zwischen Amerika und Europa wird nichts mehr so sein, wie es mal war" - schreibt der Publizist Marek Orzechowski nach George W. Bushs Europa-Tour in der polnischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny. Die USA würden weiterhin global dominieren, nur brauche Europa Amerikas Schutz nicht mehr, es wird langsam erwachsen: "Der Gegensatz zwischen 'altem' und 'neuem' Europa macht Sinn, nur ist ganz Europa jetzt neu", meint Orzechowski, nämlich frei, vereint und friedlich. "Europa muss nichts tun, um Länder wie die Ukraine anzuziehen und Einfluss auszuüben. Es muss einfach nur da sein. Das ist nicht der amerikanische Stil. Die USA und Europa werden immer mehr auseinander gehen ... und sich dabei ergänzen."
Stichwörter: Bush, George W.

Gazeta Wyborcza (Polen), 05.03.2005

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten über die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit des Landes, insbesondere der Listen der Stasi-Mitarbeiter, konstatiert in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza Piotr Oseka: Historiker würden in der populären Wahrnehmung zur moralischen Instanz. Die Frage: Wie ist es gewesen? pervertiere immer mehr zu: Wer ist es gewesen? Das Publikum erwarte von den Historikern klare Urteile, ohne auf die Komplexität der historischen Ereignisse zu achten. "Doch sollten Historiker in keinem Fall die Rolle von Richtern des nationalen Gewissens annehmen; einer Instanz, die festlegt, wer Held und wer Verbrecher war. Sie sollten gegen das kollektive Gedächtnis argumentieren, statt es zu bejahen", findet Oseka.

Der Literaturwissenschaftler Jozef Smaga stellt Anne Applebaums Buch "Der Gulag" in eine Reihe mit den Werken Solschenizyns und Schalamows über das sowjetische Lagersystem. Trotz einiger Kritikpunkte - zum Beispiel wird die These einer strukturellen Kontinuität von der zaristischen zur bolschewistischen Gefängnisidee stark angezweifelt - würdigt der Kritiker die Pionierleistung und den Mut Applebaums, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Lagern der Nazis und der Sowjets festzustellen. "Im Gegensatz zur kalten Präzision der deutschen KZ's war das stalinistische Repressionssystem gnadenlos und kompromisslos, gleichzeitig aber veränderbar", stellt Smaga fest. Allerdings "hat es in Russland nie etwas mit der deutschen Aufarbeitung der Nazizeit Vergleichbares gegeben. Und nichts deutet darauf hin, dass sich das ändern wird."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Elet es Irodalom (Ungarn), 05.03.2005

Trotz Bedenken des ungarischen Ombudsmanns für Datenschutz wurden in den letzten Wochen drei neue Namenslisten vermeintlicher IM-s und leitender Mitarbeiter der Stasi ins Internet gestellt. Nach der Liste eines unabhängigen Forschungsinstituts und des mysteriösen "Experten 90" erschien am 4. März die Liste der renommierten Wochenzeitung HVG. Zu spät - findet Zoltan Kovacs, Chefredakteur des ES-Magazins: "Diese Zeitung kämpft seit über einem Jahrzehnt für die freie Zugänglichkeit der Stasi-Unterlagen, für die Öffentlichkeit und Verfügbarkeit von Informationen über die Vergangenheit. Wir hatten dabei jedoch eine ernsthafte intellektuelle und von unabhängigen Experten begleitete Beschäftigung in Sinn, nicht das Hobby feiger Internet-Champions. Denn die Sache befindet sich immer noch auf diesem Niveau, auch wenn sogar zwei Gesetzesentwürfe dem Parlament vorliegen. .. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass vermutlich Tragödien bevorstehen ..."

"Under the Frog" - lautet der Titel des Romans des englischen Autors Tibor Fischer über die ungarische Revolution von 1956, der von 56 britischen Verlagen abgelehnt, dann aber doch zum preisgekrönten Bestseller wurde. Im Gespräch erklärt der Autor, was er an der 56er Revolution faszinierend findet: "Da sie so kurzlebig war, konnte sie rein und romantisch bleiben." Außerdem habe sich diese Revolution in einem historischen Kontext abgespielt, den man in Westeuropa schwer nachempfinden könne: "Ungarn hat meiner Meinung nach eine enorme Menge von Geschichte im 20. Jahrhundert ertragen müssen. London wurde bombardiert, viele Menschen sind gestorben, aber im Vergleich zu dem, was sich in Osteuropa abspielte, war der Krieg in Großbritannien und sogar in Frankreich ein Nachmittagstee im Pastorat."

"Im eisigen Geistesklima gedeiht die Satire am besten", findet der Literaturkritiker Jozsef Keresztesi in seiner Rezension über "Pinguine frieren nicht" des ukrainischen Autors Andrej Kurkow: "Das Wesentliche dieser surrealistischen Weltsicht besteht darin, dass man sich verhält, als ob man in einer sowohl informell als auch formell geregelten, mit gut funktionierenden Institutionen ausgestatteten Gesellschaft leben würde, aber zugleich richtet man sich bequem ein in der Bulgakowschen Welt der 'Lachse mit einer Frische zweiter Ordnung'. Das Unerträgliche gilt in dieser Welt als von Anfang an gegeben und wird mit einer Reihe von Lügen zum Erträglichen verzaubert. ... Die Menschen werden manchmal erschossen, aus verschiedenen, ungeklärten Gründen, aber sie haben ja manchmal auch Krankheiten oder Unfälle. Jedenfalls ist es sinnlos, nach den Gründen zu fragen, die Welt funktioniert einfach so, und damit basta!"

Economist (UK), 04.03.2005

Briefe eignen sich nicht als Druckmittel, könnte man annehmen. Dass dem nicht so ist, hat Peter Benenson zur Genüge bewiesen, erklärt der Economist in seinem Nachruf auf den Gründer von amnesty international. "Seiner Briefkampagne war ein beispielloser Erfolg beschert, im Kleinen wie im Großen. Der in der Dominikanischen Republik inhaftierte Gewerkschafter Julio de Pena Valdez erinnert sich: Als im Sommer 1975 die ersten 200 Briefe eintrafen, gab man ihm seine Kleider zurück. Als 200 weitere ankamen, besuchte ihn Gefängnisdirektor. Und als schließlich 3000 eingetroffen waren, ordnete der entnervte Präsident seine Freilassung an."

Mit ungewohnter Deutlichkeit ("Lesen Sie es.") wird dem Leser "Against the Flow", eine Sammlung von Samuel Brittans politischen und ökonomischen Kommentaren ans Herz gelegt. Dieses Buch sei so ausgezeichnet, dass andere Kommentatoren - und da bezieht der Rezensent sich mit ein - zögern müssen, ob sie sich angesichts solcher intellektueller Überlegenheit "inspiriert oder verzweifelt" fühlen sollen.

Weitere Artikel: Der Economist liefert einen Überblick über Wirklichkeit und Entwicklungschancen gescheiterter Staaten. Wie gescheitert Staaten sein können, beweist übrigens der Wahlslogan des ehemaligen liberianischen Diktators Charles Taylor: "Er hat meine Mutter umgebracht. Er hat meinen Vater umgebracht. Ich stimme für ihn." Prophezeit wird ein erbitterter Kampf um das EU-Budget für die Jahre 2007 bis 2013 und die damit einhergehende Neuverteilung der Gelder unter den mittlerweile 25 Mitgliedsstaaten.

Außerdem zu lesen: Warum trotz steigender Abfindungssummen die Vergütung der Top-Manager tatsächlich rückläufig ist, dass die BBC zwar eine leichte Umstrukturierung über sich ergehen lassen muss, sich aber über weitere zehn Jahre Rundfunkgebühren freuen kann, und dass George W. Bushs Reformvorhaben bezüglich der Gesundheitsversicherung für sozial Schwache (Medicaid) lediglich Oberflächenkosmetik ist.

Und schließlich liefert der Economist ein Dossier über die zwei neuen asiatischen Tiger Indien und China, in dem er der allzu simplen und irreführenden Auffassung begegnet, China habe sein rasantes Wachstum seinem autoritären System zu verdanken. Nur im Print widmet sich der Economist der Demokratiebewegung im Mittleren Osten.
Archiv: Economist

Al Ahram Weekly (Ägypten), 03.03.2005

Amina Elbendary wandert recht skeptisch durch die Türkei-Ausstellung in der Londoner Royal Academy of Arts. Überall entdeckt sie aktuelle Referenzen. "Ein ironischer Ton sorgt dafür, dass die türkische Verbindung mit dem Islam nicht überbetont wird, keine einfache Aufgabe angesichts dessen, was da erhalten ist. Dass Türken nicht immer Muslime waren, bildet den Unterton dieser Ausstellung. Es reflektiert die Obsession des modernen innertürkischen Diskurses, die Türkei vom Islam zu distanzieren."

Außerdem: Nehad Selaiha lässt sich von Osama Anwar Okashas neuem Stück "Qamar Arba'tashar" (Vollmond) auf eine Mondreise mitnehmen. Froh ist sie über die Wahl der Spielstätte Al Hanager, bekannt für ihre "experimentierfreudige, aufgeklärte und aufgeschlossene Klientel". Nevine El-Aref fährt zu den Ausgrabungen bei Saqqara und lernt, dass der König vier heilige Boote hatte. Zwei Sonnenschiffe, ein Beerdigungsschiff und eines für den Gott Hathor.
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Royal Academy of Arts

New York Times (USA), 06.03.2005

Al Jazeera ist mit seinen 40 Millionen Zuschauern zur wichtigsten Stimme der arabischen Welt geworden, und wird seinem geplanten englischsprachigen Programm noch bedeutender werden, prophezeit die Reporterin Isabel Hilton, nachdem sie Hugh Miles' Porträt des TV-Senders aus Qatar gelesen hat (erstes Kapitel). Miles sympathisiert bisweilen zu deutlich mit Al Jazeera, findet Hilton. Doch habe der Autor in seiner "faszinierenden" Beschreibung auch einige interessante Geschichten auf Lager: Im Zusammenhang mit Al Qaida bat Colin Powell etwa den Emir von Qatar, Al Jazeera dazu zu bringen, ihre Berichterstattung einzuschränken. Er handelte sich eine Abfuhr ein. 'Ein parlamentarisches System braucht freie und glaubwürdige Medien', sagte er, 'und das versuchen wir zu erreichen.' In einer Region, die oft für ihre demokratische Rückständigkeit kritisiert wird, war das für die USA ein Schlag in den Nacken."

"Irgendwie hat sich das verständliche Gefühl der politischen Bedeutungslosigkeit unter Briten in den Bereich der hohen Künste fortgepflanzt", vermutet Benjamin Markovits. Seine Überlegungen fußen auf der monatelangen Diskussion in England, ob man den Man Booker Prize (die Finalisten sind ausgewählt) denn internationalisieren dürfe. "Tony Blair spielt die zweite Geige an der Seite von Bush, und daraus scheint zu folgen, dass Schriftsteller wie Ian McEwan und Martin Amis nicht nur gegen Bellow und Roth und Updike den Kürzeren zögen, sondern auch gegen Jonathan Franzen und David Foster Wallace. Folgt man diesem Gedankengang, bedeutete die Begrenzung des Booker-Preises auf den Commonwealth, auch dem kleineren Hund die Chance zum Bellen zu geben."

Weiteres: Franklin Foer weist in einem hintergrundreichen Text auf die wachsende Bedeutung des Föderalismus in den USA hin. Einzelne Staaten unterlaufen nationale Politik mit eigenen Gesetzen, etwa im Bereich der von Bush ungeliebten Stammzellenforschung. Weshalb die Demokraten ihr Heil verstärkt auf regionaler und lokaler Ebene versuchen, um damit die republikanische Gesetzgebung sozusagen in letzter Instanz zu verhindern. Und noch ein Buch: Keine Angst, Sarah Churchwells "The Many Lives of Marilyn Monroe" ist nicht einfach nur eine weitere Biografie, beruhigt A. O. Scott. Churchwell gehe es vielmehr um die Mechanismen, durch die MM (ihre Filme) vom unbekannten Model zum Mythos wurde. Und diese Beschreibung gelinge der Autorin trotz der "exzessiven Länge und des lausigen Aufbaus" ihres Buchs recht passabel.

Im New York Times Magazine stellt Daisann McLane den ehrenwerten Leung Kwok-hung vor, in Hongkong besser bekannt als Cheung Mo oder "Langes Haar". Leung Kwok-hung ist Abgeordneter im Stadtparlament und immer für einen spektakulären Auftritt bei Sitzungen gut, darin dem jungen Joschka Fischer offenbar nicht unähnlich. "In einem Meer von Anzügen und Krawatten war der 48-jährige 'Langes Haar' wie ein radikaler Student aus den Sechzigern gekleidet, mit einem ranzigen Tweedjackett über einer schwarzen Hose, die wieder und wieder mit einer Million winziger Stiche geflickt war. Unter dem Jackett trug er ein blaues Sweatshirt mit dem Gesicht seines Idols, ein ungewöhnlicher Held für einen chinesischen Politiker aus Hongkong: Che Guevara. Schließlich zeigte er mit einem Finger auf den Vorsitzenden und erklärte in einer lauten tiefen Stimme, die durch 30 Jahre Demonstrieren auf der Straße und Tausende von Zigaretten gezeichnet war: 'Sie! Mr. Tung! Sie sind nicht berufen und haben kein Recht, vor diesem Gremium zu sprechen. Wir sind von den Menschen Hongkongs gewählt. Sie sind es nicht.'"

Außerdem gibt es einen langen Auszug aus den Memoiren des Chefredakteurs Joseph Lelyveld, der recht farbig von seinen Anfängen bei der New York Times in den Sechzigern erzählt. Damals war er für das Wetter zuständig, dessen Prophezeiung ihm vor der Erfindung des Faxgeräts jeden Tag vom Wettermann im Battery Park in einem braunen Umschlag überreicht wurde. Richard A. Clarke fordert in der Debatte um die erweiterte Ausweispflicht für Menschen in sicherheitsrelevanten Branchen eine unabhängige Institution, die diese Daten, die bis zum Fingerabdruck reichen, verwalten. Ebenso irritiert wie bewundernd berichtet Rob Walker über die Ladenkette C28, die mit religiös verbrämter Mode Erfolg hat. Und Arthur Lubow besucht den gereiften Musiker Beck.
Archiv: New York Times