Vorgeblättert

Anita Kugler: Scherwitz, Teil 3

13.08.2004.
(....) Seite 40 bis 51

Unter der Überschrift "Bock zum Gärtner" erscheint am 4. Mai 1948 im Berliner "Nachtexpress" folgende Meldung: "Der bisherige Beauftragte für jüdische Flüchtlinge in Schwaben, Scherwitz, ist gestern [sic!] auf Veranlassung des bayerischen Ministers für politisch, religiös und rassisch Verfolgte, Dr. Philipp Auerbach, von amerikanischen Behörden in Haft genommen worden. Dr. Auerbach gab bekannt, daß Scherwitz, obwohl er Jude ist, von 1941 bis 1945 [sic!] als SS-Untersturmführer Kommandant eines deutschen Konzentrationslagers in Riga gewesen ist. Verschiedene Überlebende des Lagers hätten Scherwitz erkannt und angezeigt. Scherwitz habe erklärt, er hätte die Leitung des Konzentrationslagers übernommen, um seine Eltern vor Verfolgungen schützen und vor dem Tode retten zu können."(20)
Es wird fast ein Jahr vergehen, bis die nächsten Berichte über den "jüdischen KZ-Kommandanten" erscheinen. Auerbach scheint sich in der Folge nicht nur selbst den Maulkorb umgehängt zu haben, sondern, dank seines Einflusses bei der Militärregierung, der Lizenzpresse auch gleich mit. Es ist nicht das erste und wird auch nicht das letzte Mal bleiben, daß er unliebsame, weil seine Behörde tangierende Berichte unterdrückt.
Die knappe, aber von den Zeitungen durch eine große Überschrift skandalisierte Meldung leitet eine überraschende Wende in den Ermittlungen ein. Denn in einem kleinen Dorf im Westfälischen liest eine Frau, die ihren Augen nicht trauen mag, die wenigen Zeilen. Tage später wird sie Scherwitz? jüdische Identität als "Lügengespinst" zerreißen. Bertha Scherwitz, die heute einen ganz anderen Namen trägt, aber aus Datenschutzgründen hier so genannt werden soll, schickt ohne genaue Adresse an "Herrn Dr. Auerbach in München" einen äußerst sorgfältig mit der Hand geschriebenen Brief. Jeder einzelne Buchstabe füllt ein Karo des Briefpapiers aus, die mit Schwüngen verzierten Großbuchstaben zwei.
"Durch eine Pressemitteilung habe ich Kenntnis von dem Fall Scherwitz erhalten", schreibt sie. "Da ich von meinem Mann seit Anfang März 1945 noch nichts gehört habe und er SS-Untersturmführer in Riga war, möchte ich Sie höflichst bitten, [mir mitzuteilen], ob es sich um meinen Mann Fritz Scherwitz handeln könnte, der am 21. 8. 1903 geboren ist. Sollte es sich wirklich um meinen Mann handeln, was ich nicht glauben kann, so würde ich bereit sein, nach München zu kommen."(21)
Dem Brief ist ein datiertes Hochzeitsfoto beigelegt - kein Zweifel, es zeigt Dr. Eleke Scherwitz. So sah er 1938 aus, und so sah er immer noch aus, als Auerbach ihn vor drei Wochen das letzte Mal gesehen hat. Volle dunkle Haare, dichte und geschwungene Augenbrauen, große ausdrucksvolle und dunkle Augen mit langen Wimpern, mandelförmig, dabei leicht unterschiedlich, gerade Nase, die Spitze leicht abgeflacht, und auffallend üppige Lippen. Ein freundliches, Vertrauen weckendes Gesicht. Die Augen verraten einen Hauch von Humor, die Wangen sind weich, und der Ansatz eines Doppelkinns ist deutlich zu erkennen. Nicht anmaßend, sondern stolz sieht er aus. Wie jemand, der Autorität besitzt, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Nicht wie ein deutscher Untertan oder aufgeblasener Burschenschaftler, sondern wie ein bodenständiger Handwerksmeister, der den Wert seiner Arbeit kennt, der einen Eigensinn entwickelt hat und seine eigenen Regeln aufgestellt. Mit dem man lieber nicht um den Preis feilschen sollte. Scherwitz wirkt, als sei er sich seiner selbst sicher. Unangefochten. Männlich. Selbstbewußt steht er da, auf diesem Hochzeitsfoto aus dem Jahre 1938. Kerzengerade, die Schultern leicht nach hinten gezogen, die Brust wie Schild und Panzer dem Leben entgegengedrückt.
Neben ihm Bertha, ungleich bescheidener, aber härter und älter aussehend als der Ehemann mit seiner geballten Präsenz. Das Studio-Arrangement unterstreicht die männliche Dominanz. Sie sitzt auf einem Stuhl, ihr Kopf befindet sich in Taillenhöhe des auf diese Weise überragend wirkenden Gatten. Während sie die Knie fest zusammen und die Arme dicht am Körper hält, hat er sich seinen Platz erobert. Ein Bein vor, das andere leicht zurück, locker die Arme, die linke Hand souverän auf der Stuhllehne.
      Dennoch kann das Arrangement nicht verbergen, daß ihm das Gardemaß fehlt. Der Oberkörper ist länger als seine Beine, und gut gefüttert ist er auch. Seine Finger sind kurz und rund. Es ist nicht zu übersehen, trotz des gutsitzenden schwarzen Anzugs: Der Mann ist etwas pummelig. Oder besser: stämmig. Robust. Am Revers trägt er ein Sport- oder Vereinsabzeichen, auch unter der Lupe wird kein Hakenkreuz daraus. Die Schuhe sind glänzend gewienert, sie strahlen wie nichts sonst auf diesem Bild.
Fünfzig Jahre später zeige ich dieses Hochzeitsfoto dem Leiter des "Jüdischen Archivs und Museums" in Riga. Margers Vestermanis hat das Rigaer Ghetto überlebt, auch das KZ Kaiserwald und die Zwangsarbeit im SS-Seelager Dondangen. Nach seiner Flucht sogar die Partisanenzeit in den kurländischen Wäldern. "Wie kann man im entferntesten an seiner Herkunft zweifeln?" fragt er. "Das sieht doch jeder Blinde, daß er ein Jude ist."
Der Brief und das Foto alarmieren den Staatskommissar. Ohne Verzug schreibt Auerbach an den Kriminalwachtmeister Hüffel, Bertha Scherwitz sei "eine für uns außerordentlich wichtige Zeugin (. . .), aus der wir allerhand herausholen können". Vorher müsse allerdings noch eine Peinlichkeit bewältigt werden: Scherwitz? jüdischer Braut, Salomea L., müsse "schonend" beigebracht werden, daß ihr Verlobter schon verehelicht sei und einen "schlechten Charakter" habe.(22)
Am 26. Mai 1948 erscheint Bertha Scherwitz im Münchner Polizeipräsidium. Am Vormittag befragt Philipp Auerbach sie höchstpersönlich, aber das Gespräch scheint kurz gewesen zu sein, denn seine Protokollnotiz beträgt gerade fünf Zeilen, darin die Bitte an Hüffel: bitte ausführlich protokollieren.
Die Befragung des Polizeibeamten Hüffel am Nachmittag ist ergiebiger. Bertha Scherwitz, notiert er, ist 38 Jahre alt. Als Beruf gibt sie "verheiratete Hausfrau" an, als Religion Evangelisch. Sie ist offenbar eine bodenständige, resolute Frau, eine, die ihr ganzes Leben lang hat hart arbeiten müssen, die streng geworden ist, die sich um Ordnung bemüht und auch weiß, wie sie durchzusetzen ist. Nur vor ihrem Ehemann mußte sie kapitulieren. Da ihr Gatte sich seit drei Jahren nicht mehr bei ihr gemeldet hat, besitzt sie allen Grund der Welt, sich dafür zu rächen.
Aber sie tut es nicht. Ihre von Hüffel protokollierte Aussage klingt erstaunlich ausgewogen, trotz der nicht zu verbergenden Bitterkeit über die Einsicht, betrogen worden zu sein. Auf Hüffel macht sie einen hervorragenden Eindruck. Noch am selben Abend schreibt er an Auerbach: "eine absolut glaubwürdige Zeugin, (. . .) trotz ihrer Schicksalsschläge (. . .) aufrichtig um die Erforschung der Wahrheit bemüht".
Ein paar Wochen nach der Befragung reicht sie die Scheidung ein, zwei Jahre später wird diese rechtskräftig. Sie hat Scherwitz in München nicht gesehen, und, weil das Landgericht darauf verzichten wird, sie während des Prozesses als Zeugin der Anklage zu vernehmen, auch nie mehr in ihrem Leben. Sie will auch nie wieder an ihn erinnert werden. Als ich 1998 Bertha Scherwitz? Tochter finde, höre ich von ihr: "Ich will meine Mutter mit dieser Vergangenheit nicht konfrontieren. Sie hat genug gelitten." Dem Kriminalkommissar Hüffel berichtet Bertha Scherwitz:

"Ich bin in Berlin aufgewachsen. Ca. im Jahre 1928 lernte ich Scherwitz kennen. Er war damals Werkzeugmacher und Feinmechaniker bei der Firma Siemens. Er hieß Fritz mit Vornamen und war am 21. August 1903 in Buscheruni/Ostpreußen geboren. Er gab sich nie als Jude aus und war freireligiös. Er wohnte eine Zeitlang in der Bornemannstraße 7. In weiterer Folge war ich mit ihm in Berlin laufend zusammen. Er war immer bis 1937 in Berlin beschäftigt. Er hat dann auch in der Krisenzeit auf dem Bau gearbeitet. Er kam dann im Jahre 1937 zu der Berliner Firma Westphal, Hartbetongesellschaft in Hennersdorf, Niederlausitz. Dort war er ab Mai 1937 Betriebsleiter. Das blieb er bis zu Beginn des Krieges. Scherwitz war deutscher Staatsangehöriger. Er erzählte mir schon immer, daß er von seinen Eltern während des Ersten Weltkrieges getrennt worden wäre. Er hätte dann seine Eltern gefunden und war auch verschiedene Jahre vor unserer Ehe in Litauen. Es war nur kurze Zeit. Er war weder Doktor noch Ingenieur. Er hat nach seinen Erzählungen nur die Volksschule besucht. Und die nicht einmal durchgehend. In Berlin hat er meines Wissens keine Schulen besucht.
Ich habe mich im Jahre 1932 zu Weihnachten mit ihm verlobt und habe ihn am 2. April 1938 in Berlin-Lichtenrade geheiratet. Als Beleg zeige ich das Stammbuch vor. Die Heirat zog sich deswegen in die Länge, da er vorgab, keine Papiere zu haben. Er hatte ungefähr siebzig Reichsmark in der Woche. Er war bei seiner Firma (. . .) sehr angesehen und sehr beliebt. Ich bin sogenannte Arierin, und Scherwitz war nie als Jude bekannt. Das hätte ich doch merken müssen. Über Vorstrafen ist mir nichts bekannt. Er war ca. ab 1934 oder 35 bei der SS, Sturm 75. Er hat in Berlin Uniform getragen. Einen Rang hat er nicht bekleidet. Er sprach sich aber immer gegen die Judenaktionen aus. Wir wohnten nach unserer Heirat bis November 1938 in Berlin, Lichtenrade (. . .). Mein Mann kam immer nur am Wochenende nach Haus. Dann zog ich nach Hennersdorf, wo wir ein Haus bezogen.
Bei Kriegsbeginn wurde Scherwitz zur Luftschutzpolizei eingezogen. Er trug die Polizeiuniform. Am 22. Februar 1940 kam meine Tochter R (. . .) zur Welt. Scherwitz wurde in Berlin eingesetzt. Ich arbeitete an seinem Arbeitsplatz in seiner Firma. Später kam er nach Polen als Luftschutzpolizist der Reservepolizei (. . .) und dann nach Riga. Soviel mir erinnerlich ist, wurden alle gesamt zur SS übernommen. Erst im Jahre 1943 oder 1944 lautete die Anschrift SS-Untersturmführer Scherwitz.
Er war ab 1942 nicht mehr im Urlaub. Er war dazwischen nur kurz über einen Tag bei uns gewesen. Er trug die Uniform der SS als Oberscharführer oder Scharführer. Es soll der entsprechende Dienstgrad bei der Wehrmacht eines Feldwebels gewesen sein. Er schrieb nur sehr selten. Auf meine Vorwürfe ging er nicht ein. Ich schrieb dann an die Dienststelle 15119 und fragte an, warum mein Mann nicht auf Urlaub käme. Ich bekam als Antwort, dass es stimme, daß mein Mann seit 1942 keinen Urlaub gehabt hätte. Ich wußte nur von meinem Mann, daß er so eine hohe Stellung bekleidete. Ich habe sein Gehalt bekommen und ab und zu mal einen Kleiderstoff. Ich habe ihn 1942 in Riga besucht und war kurz dort. Ich hatte das Gefühl, daß mit den Frauen etwas nicht stimmen würde. Gold und Schmuck habe ich nie erhalten. Pelze auch nicht. Im Jahre 1942, als ich ihn besuchte, wohnte er in einer Soldatenunterkunft. Nach 1944 kam er immer nur auf einen Tag und ging jeder Aussprache aus dem Weg. Im Februar 45 kam er mit einem Transport der SS nach Hennersdorf. Ich hatte vorher schon Funde von Mädchenbildern gemacht, und es war daher eine sehr gespannte Situation. Ich machte ihm dann den Vorschlag zur Scheidung, den er ablehnte. Ein Herr hat mir später alles bestätigt. Er ging dann im März 1945 wieder fort und erklärte, er werde sich nach Thüringen wenden. Er nahm auch von mir Sachen mit. (. . .) Von da an hörte ich nichts mehr von ihm und nahm an, daß er tot sei. Meine Tochter hat sehr an ihm gehangen."(23)
Die Aussage von Bertha Scherwitz ist substantiell. Das sind endlich Fakten, mit denen Hüffel etwas anfangen kann. Die Promotion: Hochstapelei. Die Heirat mit der in Auschwitz umgebrachten jüdischen Schauspielerin: ein Märchen. Das gemeinsame, von der Gestapo fortgebrachte Kind: eine zynische Erfindung. Die politischen Verfolgungen ab 1933 und die Gestapohaft: eine Schutzbehauptung. Statt Mitgliedschaft in der Sozialistischen Jugend: SS-Mitglied seit 1934 oder 1935. Statt Ghetto in Lodz: Polizeieinsatz in Polen und Lettland. Und statt, wie behauptet, am 21. August 1909 in Litauen geboren, Geburt am 21. August 1903 in Ostpreußen. Beweis: Bertha Scherwitz? Stammbuch.
Ermittler Hüffel dürfte nach der Vernehmung von Bertha Scherwitz wohl kaum mehr einen Zweifel daran gehabt haben, dass Scherwitz ein ausgekochter Betrüger ist. Jemand, der sich nach dem Kriege ein paar Jahre jünger gelogen hat, um eventuelle Nachforschungen ins Leere laufen zu lassen. Der sich zum Juden ohne Papiere erklärt hat, weil Juden aus Osteuropa fast nie Papiere haben. Der sich ausgerechnet bei Auerbach versteckt hat, damit niemand dem früheren SS-Offizier auf die Spur kommt.
Er wäre nicht der erste Verfolger, der sich bei den Verfolgten am sichersten fühlte. Vielleicht hat er ja auch die Meldung gelesen, die im November 1947 durch die Presse ging: In Palästina war eine Frau verhaftet worden, die zwei Jahre zuvor mit einem illegalen Einwandererschiff nach Haifa gekommen war. Ex-Häftlinge eines Konzentrationslagers in Polen erkannten auf der Straße die 26jährige als ihre frühere KZ-Kommandantin wieder. Die Ermittlungen der Polizei ergaben, daß die junge Frau den Namen einer in ihrem Konzentrationslager ermordeten Jüdin angenommen hatte, um so aus Deutschland fliehen zu können.(24) Diese Geschichte wird dreißig Jahre später den Schriftsteller Edgar Hilsenrath zu seinem Roman "Der Nazi und der Friseur" inspirieren, zu einer bitterbösen Groteske über Vergangenheitsbewältigung durch Identitätswechsel.(25)
Scherwitz muß ein Kriegsverbrecher sein, warum sollte er sich sonst eine neue Biographie erfinden? So wird Hüffel gedacht haben. Die Post vom Polizeipräsidium Berlin, die er irgendwann im Zuge der Amtshilfe in den Händen hält, ist eine neue Bestätigung für diesen Verdacht. Das Standesamt Tempelhof, vor dem Kriege auch zuständig für den Bezirk Berlin-Lichtenrade, schickt ihm die Abschrift eines Lebenslaufes, den Scherwitz am 3. Dezember 1936 bei der Behörde eingereicht hatte, um den Verlust seiner Geburtsurkunde zu erklären und dennoch heiraten zu dürfen: 

"Ich, Fritz Scherwitz, geboren am 21. August 1903 in Buscheruni in Ostpreußen, als Sohn des katholischen Tischlermeisters Johann Scherwitz, besuchte von meinem 6. bis 11. Lebensjahr die Volksschule. Dann brach der Krieg aus, und dadurch wurde meine Schulzeit beendet. Durch Einbruch der Russen in meine Heimat verlor ich meine Eltern und wurde von den ersten deutschen Truppen mitgenommen und machte dadurch den ganzen russischen Feldzug mit, und blieb, da ich ja keine Eltern hatte, bis zu meinem 15. Lebensjahr bei den 16?er 1Landstürmern Küstrini, die mich bei sich behielten, und von da ab, bis zu meinem 17. Lebensjahr, trat ich dem Grenzschutz 1Freikorps Diebitschi bei. Nach meiner Entlassung 1920 vom Militär ging ich nach Gerlachsheim (Schlesien) zu Herrn Friedrich Erler in Stellung. Von dort wanderte ich nach Berlin. Zwischendurch nahm ich verschiedene Beschäftigungen an. Seit 1925 bin ich in Berlin und habe hier ununterbrochen in Berlin gearbeitet. Im Mai 1933 trat ich in die SS der NSDAP ein. Jetzt bin ich als Unterscharführer dem Sturm 5/75 Berlin-Lankwitz zugeteilt. Ich war stets bemüht, meine Geburtsurkunde zu bekommen. Das Rasseund Siedlungshauptamt und das Sippenamt haben mich sogar unterstützt, doch nur mit dem Erfolg, daß ich statt der Geburtsurkunde einen Abstammungsbescheid bekam. Von dem Reichsführer der SS wurde mir im Juli 1936 die Genehmigung zur Heirat erteilt. Ich arbeite jetzt als Betriebsleiter der Firma Westphal-Hartbeton."(26) 

Fritz Scherwitz? Lebenslauf aus dem Jahre 1936 bestätigt - wenn auch mit kleinen zeitlichen Unstimmigkeiten - seinen Eintritt in die SS in den frühen dreißiger Jahren. Dieses Selbstbekenntnis ist ein gerichtsverwertbares Beweisstück. Hüffel ist ein gutes Stück weitergekommen, endlich hat er etwas Licht in Scherwitz? Vergangenheit gebracht. Vor diesem Hintergrund hören sich Scherwitz? Ausflüchte, er sei in Riga "nur eingekleideter Sonderführer im Range eines SS-Untersturmführers" gewesen, aber niemals Mitglied der SS und auch nicht des Sicherheitsdienstes (SD) oder der Gestapo, geradezu absurd an.
Ermittler Hüffel erinnert sich wahrscheinlich nur mit Groll an all die Luftnummern, die ihm Scherwitz vorgeführt hat: Er sei Jude, habe in Gestapohaft gesessen, sei zur SS nur gegangen, um die Behörden zu beeindrucken, sei verheiratet mit Jenny Goldberg, das Kind sei 1938 geboren, den Vornamen Fritz habe er sich zu seinem Schutz erst in Lettland zugelegt. Ab jetzt werden andere Saiten aufgezogen, wird er womöglich beschlossen haben. Solche wie in Dachau. Die gehen mit ihren Untersuchungshäftlingen nicht so zimperlich um wie die neuerdings überkorrekt gewordenen Deutschen auf dem Münchner Polizeipräsidium.
Am 2. Juni 1948 bestellt Hüffel den verstockten Untersuchungshäftling aus Dachau zum dritten Mal zum Verhör nach München. Ohne Umschweife konfrontiert er den angeblichen Herrn Doktor Eleke Scherwitz mit den Aussagen seiner Ehefrau und den Angaben aus seinem Lebenslauf von 1936. Die dann folgende Szene hält Hüffel in einer dürren Aktennotiz fest: "Die Vernehmung wurde für zwei Stunden unterbrochen, weil Eleke Scherwitz nicht vernehmungsfähig war. Erst nachdem ein herbeigerufener Arzt seine Vernehmungsfähigkeit feststellte, konnte die Vernehmung fortgesetzt werden."(27)
Es ist die längste und letzte Befragung, die Hüffel in eigener Regie mit Scherwitz durchführt, das letzte Gespräch, das er überhaupt mit ihm führt. Mitte August faßt er die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse in einem "Ermittlungsschlußbericht" zusammen und schickt ihn an die Münchner Generalstaatsanwaltschaft. "Eine Schlußeinvernahme von Scherwitz konnte nicht stattfinden", schreibt er darin. "Denn im Juni wurde er als Zeuge in das Gerichtsgefängnis Nürnberg überführt, wo er sich bis zum heutigen Tage befindet."(28)
Erst am 18. November 1948 wird Scherwitz das nächste Mal von einer deutschen Instanz verhört. Es ist die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Dachau. Und er heißt dann nicht mehr Fritz Scherwitz, sondern Eleke, manchmal auch Elke Sirewitz. Die Verwandlung von Scherwitz zu Sirewitz hat Hüffel selbst noch miterlebt, an jenem Juni-Sommertag im Münchner Polizeipräsidium. Hüffels Protokoll ist hier um Details zu Riga, um Scherwitz? Ausführungen zu den Beschuldigungen und um die Nachkriegsgeschichte gekürzt. Hüffels kurze Ergänzungen, die im Protokoll als Nachtrag enthalten sind, sind in den folgenden Text eingearbeitet:

"Ich heiße in Wirklichkeit Sirewitz, Elias, Eleken, geboren am 8. August 1910 in Wilna, israelitischer Religionszugehörigkeit, staatenlos, früher litauisch. Meine Eltern sind Jankel und Sore Sirewitz. Mein Vater ist wahrscheinlich im Ghetto gestorben, meine Mutter in Stutthof ermordet.
Mein Vater war in Wilna Inhaber einer Möbelfabrik. Ich hatte vier Schwestern. Chana, (. . .)ler [Auslassung im Original], Riva und eine, deren Namen ich nicht mehr weiß. Ich war bei meinen Eltern bis zum zehnten Lebensjahr. Meine Eltern hielten sich zu der Zeit in Schaulen auf. Wann diese dort hingezogen sind, weiß ich nicht mehr. Zu dieser Zeit hatten die Eltern keine Beschäftigung mehr. Sie wohnten zuletzt in Schaulen, Tilsiterstraße, neben der Lederfabrik. Meine Schwestern sind umgekommen. Zeugin hierfür ist Bella R. Meine Eltern waren Juden. Ich habe Bella R. bei meinen Eltern nie gesehen. Aber als ich mich [nach dem Krieg] beim jüdischen Komitee nach meinen Eltern erkundigte, sagte mir ein Herr, daß ein angenommenes Kind der Familie Sirewitz in Feldafing [im DP-Lager] wohnen würde. So fand ich sie dann dort. Ich betrachtete sie von da ab als Stiefschwester. Meine Mutter war zuletzt auf dem Markt tätig, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Mein Vater war klein und trug einen langen weißen Bart.
Herr Friedrich Erler, ehemaliger Fliegeroffizier, ein Bekannter meiner Eltern, nahm mich dann im Jahre 1920 mit nach Gerlachsheim bei Lauban, Schlesien. Erler hatte dort ein Gut. Dort blieb ich bis ca. 1924. Dann kam ich alleine nach Berlin. Ich meldete mich mit meinem richtigen Namen an und wohnte zuerst im Osten Berlins. Ich suchte mir Arbeit bei der Firma Siemens, Jungfernheide, im Werner-Werk F. Ich lernte Werkzeugmacher und Feinmechaniker. Dann nach einem Jahr kamen die großen Entlassungen wegen der Wirtschaftskrise. Ich arbeitete dann bei Baufirmen in Berlin. (. . .) Ich war lange Zeit arbeitslos. Ich lebte von Gelegenheitsarbeiten, da ich leben mußte. Ich war dann ca. 1930 oder 1931 auf einem kurzen Besuch bei meinen Eltern in Schaulen. Ich habe damals meine Frau schon gekannt. Ich war vorher schon Mitglied der KJ [Kommunistische Jugend] und der SAJ [Sozialistische Arbeiterjugend]. Ungefähr 1931 oder 1932 sollte ich von der Polizei wegen unbefugter Propaganda für die Parteien festgenommen werden. Jedenfalls war es ein politischer Grund. Ich habe mich durch die SAJ als Sirewitz, litauischer Staatsangehöriger polizeilich abmelden lassen, und als Fritz Scherwitz, geb. 21. August 1903, deutscher Staatsangehöriger wieder anmelden lassen. (. . .) Für die Religion gab ich keine Angabe. Ich hatte keine Veranlassung, mich in Berlin als Jude anzumelden. Ich habe dann aufgrund der polizeilichen Anmeldung in Berlin einen Reisepaß erhalten, mit dem ich auch nach Schaulen fuhr. Ich habe später nie einen arischen Nachweis erbringen müssen. Auch später nie bei der Polizei.
Ich habe dann in Berlin Hilfsschulen besucht, da ich vorher nicht lesen und schreiben konnte. Ich habe dann mit meiner Frau eine Waschund Plättanstalt eröffnet. Das war ungefähr 1932/33. Das Geschäft ging nicht, und wir eröffneten ein anderes in Berlin-Lichtenrade.
In Lichtenrade war ein Bäckermeister P. Der kannte mich sehr gut und wußte, wer ich bin. Dieser warnte mich, daß die Gestapo auf mich aufmerksam sei. Er sagte mir, daß ich mich nur retten könnte, wenn er mich als SS-Mann einkleiden würde. Er selber war SS-Mann von früher. Er gab mir ein Hemd und eine Mütze. Mit dem ging ich immer mit. Er gehörte dem Sportlehrersturm 75 an. Es war ein Sportklub der SS. Ich wurde einmal von der Gestapo zu einer Vernehmung geholt. Ich sollte über Franz F. von der SAJ Auskunft geben. Ich arbeitete dann bei der Fritz Werner AG in Marienfelde als Werkzeugmacher und später im Maschinenbau. Das war ungefähr 1937/38. Von da aus ging ich als Betriebsleiter der Firma Westphal, Hartbeton, nach Hennersdorf. Im Jahre 1938 habe ich geheiratet. Ich ging ab dieser Zeit nur sehr selten oder gar nicht mehr in den Sportlehrgang, da ich durch den Bäckermeister P. erfuhr, daß eine ärztliche Untersuchung bevorstehe. In Hennersdorf war ich bis Kriegsbeginn.
Ich habe nie einen Aufnahmeantrag zur SS unterschrieben und war nie Mitglied der SS.
Bei Kriegsbeginn wurde ich zur Luftschutzpolizei nach Berlin dienstverpflichtet. Dort blieb ich ca. bis Ende 1940. Dann wurde ich als Polizeihilfswachtmeister eingekleidet. Wir kamen dann als Kraftfahrer nach Riga. Wir waren allerdings kurzfristig in Warschau und Litzmannstadt [Lodz]. Waren dann wieder zurückgekommen nach Berlin und von dort aus nach Riga als Kraftfahrer gekommen. Das war Ende 1941 im September/Oktober. Dann kam ich nach Reval, Estland. Dort mußte ich Alkohol holen. Dabei erfror ich mir die Füße. Hierauf kam ich nach Riga zurück und mir wurde eine andere Aufgabe aufgetragen. Ich mußte die Juden zur Arbeit aus dem Ghetto holen und wieder zurückbringen. Ich habe mit der Liquidierung des Ghettos nichts zu tun gehabt. Ich habe die Juden im Lager vor den Letten geschützt, indem ich ihnen mit einer Wehrmachtslampe Zeichen gab. Rot war für Gefahr, grün war das Zeichen für ungefährlich.
In der Washingtonstraße befand sich eine kleine Werkstatt. Dorthin führte ich die Juden zur Arbeit. Anfang 1942 übernahm [der Höhere SSund Polizeiführer Friedrich] Jeckeln die Werkstätten. Ich wurde umuniformiert und bekam eine graue Uniform mit Unteroffizierstressen. Ich wurde von da ab mit der technischen Leitung der Werkstätten betraut, da bekannt war, daß ich Betriebsleiter einer großen Firma gewesen war. (. . .) Plötzlich erklärte Jeckeln, daß die Juden wegmüßten aus der Stadt. Ich machte den Vorschlag, ein Gelände oder eine Fabrik zu beschlagnahmen, wo wir die Leute dann unterbringen können. Das wurde genehmigt. Die Sache wurde Lenta. Die Juden waren alle Feuer und Flamme dafür, da sie jetzt nicht nach Kaiserwald [in das KZ] mußten. Die Fabrik wurde ausgebaut. Dort wurden die Werkstätten und Schlafräume eingerichtet. Es wurde dann gearbeitet. Es wurde nicht nur für die Wehrmacht, sondern auch für andere Formationen, darunter natürlich auch für die SS, gearbeitet.
Erst in Lenta bekam ich SS-Distinktionen. Ich hatte einen kleinen Stern auf der Achselklappe (Oberwachtmeister). Ich wurde nie als Scharführer bezeichnet. (. . .) Später wurde ich als SS-Untersturmführer (. . .) eingekleidet. Dies kann ca. 1943 gewesen sein. Dieser Zustand blieb bis Ende 1944, Anfang 1945. (. . .)
Ich habe angenommen, daß meine Frau nicht mehr lebt, da ich persönlich in Berlin Bescheid bekommen habe, daß die Familie Scherwitz tot sei.
Meine Angaben hier bei der Polizei über meine Person mußte ich aufrechterhalten, da ich hier ja immer unter dem Namen Scherwitz gelebt habe. Weil meine Frau auftauchte, entschloß ich mich, die ganze Wahrheit zu sagen, da ich nun einen Menschen hatte, der meine Angaben bestätigen konnte. Vorher wäre alles als ein Märchen angesehen worden."
(29)

Also Sirewitz, geboren in Wilna 1910. Von treuen Genossen eingedeutscht, und von einem braven Nazi in die SS eingeschleust. Kein "Märchen", sondern die "ganze Wahrheit". Es ist schlecht vorstellbar, daß sich Hüffel von Scherwitz? neuester Vergangenheitskorrektur besonders beeindrucken ließ. Nur den Doktortitel wird Hüffel in Zukunft gern weggelassen haben. In seiner Aktennotiz heißt es dazu, daß sich Scherwitz "der wiederholten, wissentlich falschen Angaben schuldig gemacht und die Behörden getäuscht" habe, er müsse deshalb nach "§ 156 des Strafgesetzbuches bestraft" werden.
Auch an die jüdischen Eltern und Geschwister will Hüffel nicht so recht glauben, obwohl sich in einem Punkt die Erinnerungen der soliden Zeugin Bertha Scherwitz mit denen des phantasievollen Ehemanns decken: bei dessen Besuch in Litauen Anfang der dreißiger Jahre und den dort wiedergefundenen Eltern. Aber vielleicht waren es christliche Eltern, die er gesucht und gefunden haben will? Bertha Scherwitz hat ausgesagt, daß sie, wenn ihr Mann Jude gewesen wäre, es doch hätte "merken müssen". In dem Mitte August geschriebenen Schlußbericht formuliert Hüffel sein Mißtrauen überdeutlich: "Die Person des Beschuldigten konnte nicht eindeutig geklärt werden. (. . .) Seine Herkunft bleibt im dunklen. (. . .) Er hat während der Untersuchung nicht davon abgelassen, ständig irrezuführen, und laufend falsche Angaben gemacht. Seine Angaben sind daher mit größtem Vorbehalt aufzunehmen."(30)
Hüffels Vorbehalte wird das Gericht später ignorieren. Es wird akzeptieren, was Scherwitz am 2. Juni 1948, konfrontiert mit dem unerwarteten Bericht der Ehefrau und seinem früheren Lebenslauf, nach der ärztlich verordneten zweistündigen Vernehmungspause, zum erstenmal zu den Akten gegeben hat. Atemlos und aufgewühlt, von Hüffel zur Wahrheit ermahnt und deshalb auch als "ganze Wahrheit" von Scherwitz gelesen und unterschrieben.

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Anmerkungen:

(20) Ein fast identischer Artikel erschien am nächsten Tag in der Schwäbischen Landeszeitung - Augsburger Zeitung unter dem Titel "Verfolgtenbeauftragter enttarnt". Am 7. Mai 1948 titelte die Stuttgarter Zeitung Schwäbische Nachrichten "Jüdischer KZ-Kommandant in Haft" und am 10. Mai der Kölner Express "Wolf im Schafspelz".

(21) Berta (Name geändert) Scherwitz an Philipp Auerbach vom 17. Mai 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 43.

(22) Schreiben von Philipp Auerbach an Clemens Hüffel vom 21. Mai 1948, ebenda, Bl. 44.

(23) Vernehmungsniederschrift B. Scherwitz vom 26. Mai 1948, ebenda, Bl. 49a, b

(24) Der Weg, 28. November 1947. Den Hinweis auf diese in der Emigrantenpresse erschienene Meldung verdanke ich Herman Simon.

(25) Edgar Hilsenrath, Der Nazi und der Friseur, Köln 1977.

(26) Lebenslauf vom 3. Dezember 1936 für das Standesamt Berlin-Lichtenfelde. Auf der Abschrift des Standesamts Tempelhof für die Kriminalpolizei München vom 24. Mai 1948 wird der Lebenslauf auf den 3. Dezember 1939 datiert. Das ist ein Tippfehler. In: Zentralarchiv des Ministeriums für
Staatssicherheit, heute Bundesarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZA 1/7370, Akte 6, Bl. 2.

(27) Aktennotiz Hüffel o.D., in: Scherwitz-Akte, Bl. 65d

(28) Emittlungsschlußbericht Hüffel vom 18. August 1948, ebenda, Bl. 92-95, hier Bl. 95.

(29) Vernehmungsniederschrift vom 2. Juni 1948, Tgb. 1716/48, ebenda, Bl. 64-65b.

(30) Schlußbericht Hüffel vom 18. August 1948, Bl. 92.


Mit freundlicher Genehmigung von Kiepenheuer & Witsch

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