Vorgeblättert

Leseprobe zu Terry Eagleton: Das Böse. Teil 3

28.03.2011.
Jahrzehnte bevor die beiden Jungen das Kind umbrachten, versetzte der Tod eines anderen Babys das gesamte Vereinigte Königreich in höchste Empörung. Es war die moralische Hysterie, die sich an Edward Bonds Stück Gerettet entzündete, in dem eine Gruppe von Jugendlichen ein Baby in seinem Kinderwagen steinigt. Das Stück veranschaulicht sehr schön das alte Klischee, nach dem nutzloses Herumgammeln leicht aus dem Ruder laufe. Dem Zuschauer soll vor Augen geführt werden, dass mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ein Haufen chronisch gelangweilter Jugendlicher eine solche Gräueltat begehen kann, ohne im Mindesten schlecht zu sein. Müßiggang sei, so sagt der Volksmund, aller Laster Anfang, was wohl auf etwas altmodische Art heißen soll, dass regelmäßige Beschäftigung uns am ehesten davor bewahre, vor einem Kriegsverbrechertribunal zu landen. Der Haken bei den Bösen ist jedoch, das sie eher viel zu fleißig sind statt nicht fleißig genug. Wie wir später sehen werden, hat das Böse viel mit einem Gefühl der Nutz- und Sinnlosigkeit zu tun; so liegt ein wichtiger Aspekt des Bond-Stücks darin - so herzlos es auch klingen mag -, dass sich die Jugendlichen selbst eine Art Sinn zurecht- schustern. Es war nicht nur die Entsetzlichkeit der Tat selbst, sondern genauso ihre Alltäglichkeit, welche die stets empörungsbereite britische Öffentlichkeit so erregte. Uns wurde vor Augen geführt, wie Unaussprechliches aus zutiefst Vertrautem erwachsen kann, was die Schwere der Tat zu verharmlosen schien. Das Böse soll nicht banal, sondern besonders sein. Es ist anders als das Anzünden einer Zigarette. Das Laster kann nicht langweilig sein. Paradoxerweise wird diese Auffassung, wie wir noch sehen werden, von den Bösen selbst geteilt.

     Denn es gibt durchaus böse Taten und Menschen - ein Punkt, in dem weichherzige Liberale und hartleibige Marxisten gleichermaßen irren. Was Letztere angeht, so schreibt der amerikanische Marxist Fredric Jameson von "den archaischen Kategorien Gut und Böse".1 Das legt den Schluss nahe, Jameson halte den Sieg des Sozialismus für keine gute Sache. Während der englische Marxist Perry Anderson meint, dass sich Begriffe wie "gut" und "böse" nur auf individuelles Verhalten anwenden ließen - in welchem Fall kaum einzusehen ist, warum man dann den Kampf gegen Hunger, Rassismus oder Kernwaffen als gut bezeichnen sollte.2 Marxisten müssen den Begriff des Bösen nicht ablehnen, wie mein eigenes Beispiel zeigt; doch Jameson und einige seiner linken Kollegen tun es, weil sie dazu neigen, Moral mit Moralismus zu ver- wechseln. Darin sind sie sich paradoxerweise mit den Anhängern der politischen Gruppe der Moral Majority einig. Für den Moralismus gehören moralische Urteile in einen eigenen, abgegrenzten Bereich, klar geschieden von konkreteren Angelegenheiten. Deshalb haben einige Marxisten ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff der Ethik. Sie befürchten, er könnte von der Geschichte und Politik ablenken. Doch das ist ein Missverständnis. Richtig verstanden berücksichtigt die moralische Untersuchung all diese Faktoren. Das gilt für die Ethik des Aristoteles ebenso wie für die von Hegel oder Marx. Moralisches Denken ist keine Alternative zum politischen Denken. Für Aristoteles ist jenes ein Teil von diesem. Die Ethik behandelt Fragen nach Werten, Tugend, Eigenschaften und dem Wesen menschlichen Verhaltens, während die Politik sich mit den Institutionen beschäftigt, die dieses Verhalten fördern oder unterdrücken. Hier gibt es keine unüberbrückbare Kluft zwischen Privatem und Öf- fentlichem. Wie die Moral nicht nur das persönliche Leben betrifft, geht es in der Politik nicht allein um das öffentliche Leben.

     Es gibt unterschiedliche Auffassungen zur Frage nach dem Bösen. Kürzlich zeigte sich in einer Umfrage, dass der Glaube an die Sünde in Nordirland am höchsten (91 Prozent) und in Dänemark am niedrigsten ist (29 Prozent). Niemand, der aus eigener Anschauung das pathologisch religiöse Gebilde namens Nordirland (den größeren Teil von Ulster) kennt, wird von dem Ergebnis im Mindesten überrascht sein. Zweifellos haben die protestantischen Ulsteraner eine düsterere Auffassung von der menschlichen Existenz als die hedonistischen Dänen. Wir sind gerne bereit zu glauben, dass die Dänen, wie auch die meisten anderen Zeitungsleser, an die reale Existenz von Gier, Kinderpornographie, Polizeiübergriffen und dreisten Lügen der Pharmaindustrie glauben. Sie sind nur nicht geneigt, dergleichen als Sünde zu bezeichnen. Was vielleicht daran liegt, dass sie unter Sünde ein Vergehen gegen Gott und nicht gegen andere Menschen verstehen. Das ist keine Unterscheidung, für die das Neue Testament viel übrighat.

     Alles in allem haben postmoderne Kulturen trotz ihrer Faszination für Ghule und Vampire wenig über das Böse zu sagen. Vielleicht liegt es daran, dass postmoderne Männer oder Frauen - cool, für alles offen, gelassen und dezentriert - nicht die Tiefe besitzen, die für echte Destruktivität erforderlich ist. Für die Postmoderne ist nichts wirklich der Erlösung bedürftig. Bei Autoren der Hochmoderne wie Franz Kafka, Samuel Beckett oder dem frühen T. S. Eliot gibt es durchaus etwas, was auf Erlösung wartet, aber was es ist, lässt sich nicht mehr sagen. Die trostlosen, verwüsteten Landschaften Becketts sehen aus wie eine Welt, die nach Erlösung schreit. Doch Erlösung setzt Sündhaftigkeit voraus, und Becketts kaputte, ausgebrannte Figuren sind zu tief in Apathie und Trägheit versunken, um auch nur ein klein wenig unmoralisch zu sein. Sie bringen noch nicht einmal die Kraft auf, sich aufzuhängen, geschweige denn, ein ganzes Dorf mit unschuldigen Zivilisten in Brand zu setzen.

     Die Realität des Bösen anzuerkennen heißt nicht unbedingt zu behaupten, es entziehe sich jeder Erklärung. Man kann an das Böse glauben, ohne anzunehmen, es sei übernatürlichen Ursprungs. Der Begriff des Bösen setzt nicht einen Teufel mit Pferdefuß voraus. Zwar leugnen einige Liberale und Humanisten - wie die gelassenen Dänen - die Existenz des Bösen, aber das liegt vor allem daran, dass sie das Wort "böse" für ein Mittel zur Dämonisierung der Menschen halten, die eigentlich nur sozial benachteiligt sind. Das könnte man die Sozialarbeitertheorie der Moral nennen. Es ist, wie gesehen, sicherlich eine der selbstgerechtesten Verwendungen des Wortes, doch wenn Sie den Begriff des Bösen aus diesem Grund ablehnen wollen, sollten Sie lieber an arbeitslose Heroinsüchtige als an Serienmörder oder SS-Schergen denken. Es dürfte schwerfallen, sich SS-Leute als unglückliche Opfer der Verhältnisse vorzustellen. Wir sollten uns hüten, die Roten Khmer vom Haken des Urteils zu lassen, auf dem wir straffällige Halbwüchsige aufspießen.

     Diesem Buch liegt die Auffassung zugrunde, dass das Böse nicht völlig rätselhaft ist, wohl aber die Grenzen alltäglicher sozialer Verhältnisse transzendiert. Das Böse, wie ich es verstehe, ist tatsächlich metaphysisch, insofern es sich gegen das Sein als solches wendet und nicht gegen diesen oder jenen seiner Teile. Grundsätzlich will es das Ganze vernichten. Womit aber nicht gesagt ist, dass es zwangsläufig übernatürlich ist oder jeglicher menschlichen Kausalität entbehrt. Viele Dinge - Kunst und Sprache beispielsweise - sind mehr als nur ein Spiegelbild ihrer sozialen Bedingungen, was jedoch nicht heißt, dass sie vom Himmel fallen. Gleiches gilt für Menschen im Allgemeinen. Wenn es keinen notwendigen Konflikt zwischen dem Historischen und dem Transzendenten gibt, so liegt es daran, dass die Geschichte selbst ein Prozess der Selbsttranszendenz ist. Das historische Tier zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, ständig sich selbst zu überschreiten. Es gibt gewissermaßen "horizontale" und "vertikale" Formen der Transzendenz. Warum sollen wir immer nur Letztere berücksichtigen?

     Die Moderne hat etwas erlebt, was wir den Übergang von der Seele zur Psyche nennen könnten. Oder, wenn man lieber möchte, von der Theologie zur Psychoanalyse. In vielerlei Hinsicht ist diese ein Ersatz für jene. Beide sind Narrative des menschlichen Begehrens - wenn es auch dem religiösen Glauben zufolge im Gottesreich letztlich Erfüllung finden kann, während es für die Psychoanalyse in tragischer Weise ungestillt bleibt. So gesehen ist die Psychoanalyse die Lehre von der menschlichen Unzufriedenheit. Das gilt aber auch für die Theologie. Bei Freud übernehmen Verdrängung und Neurose die Rolle, die bei den Christen traditionell der Erbsünde zufällt. Nach beiden Lehren wird der Mensch also krank geboren. Doch er kann gerettet werden. Das Glück liegt in unserer Reichweite; nur dass es einen traumatischen Zusammenbruch und Wiederaufbau erfordert, der bei den Christen Bekehrung heißt. Beide Glaubenssysteme sind mit Phänomenen befasst, die letztlich über die Grenzen menschlichen Wissens hinausreichen, egal, ob es sich um das rätselhafte Unbewusste oder einen unergründlichen, Gott handelt. Beide sind reichlich versehen mit Initiations-, Beicht- und Exkommunikationsriten, und beide sind von Glaubenskriegen zerrissen. Beide begegnen sie der spöttischen Ungläubigkeit ihrer weltlichen, nüchternen und ver- nünftigen Kritiker. Die Theorie des Bösen, die ich in diesem Buch darlege, lehnt sich stark an die Gedanken Freuds an, nicht zuletzt an seinen Begriff des Todestriebs; doch ich hoffe, dabei zeigen zu können, dass meine Argumentation sich gar nicht so weit von vielen traditionellen theologischen Erkenntnissen entfernt. Dieser Ansatz hat unter anderem den Vorteil, dass er breiter angelegt ist als die meisten Erörterungen des Bösen in jüngerer Zeit. Viele dieser Untersuchungen waren ängstlich bemüht, sich nicht zu weit von Kant, einem Philosophen, der höchst Interessantes über das Böse zu sagen weiß, und vom Holocaust zu entfernen. Letztlich geht es beim Bösen tatsächlich um den Tod - allerdings um den Tod der Übeltäter ebenso wie um den seiner Opfer. Doch um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst einige fiktionale Werke anschauen.

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Mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Verlages
(Copyright Ullstein Verlag)


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