Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Francisco Ayala: Wie Hunde sterben. Teil 2

06.03.2006.
Ich verheimliche nicht, daß mir die Aussicht schmeichelt, ich selbst könnte, sofern wir in sicherem Hafen landen, der Architekt dieses großartigen Werks werden. Es ist eine würdige Aufgabe; und ich spüre, sie ist mir vorbehalten. Vorläufig will ich Zeit gewinnen und mich den Vorbereitungen widmen, will Material sichten und ordnen, die verstreuten Quellen zusammentragen, die eine oder andere Erläuterung, Klarstellung oder Randbemerkung anbringen, die die Ereignisse zueinander in Beziehung setzen, will Tatsachen und Gerüchte auseinanderhalten und so den wahren Stellenwert und den eigentlichen Sinn des Geschehens bestimmen. Auf diese Weise zügle ich meine Angst, vertreibe mir die Zeit, und falls das Glück mir nicht bis zum Schluß treu sein sollte oder meine Kräfte mich vor der Zeit verlassen, bleibt wenigstens ein Packen Rohmaterial - ein ziemlich wirres Durcheinander zwar, aber auf jeden Fall nützlich, mehr noch: unverzichtbar; denn in diesem unserem gelobten Land verblaßt die Erinnerung im Nu, an das Gute wie an das Schlechte; und das ist, um die Wahrheit zu sagen, nicht einmal unser kleinster Fehler: Wir leben in den Tag hinein, kümmern uns weder um Vergangenes noch um Künftiges, überlassen uns gleichgültig dem Schicksal, stürzen uns hin und wieder - als einzelne wie als Gesamtheit - in besinnungslose Geschäftigkeit, um nach jeder Aufwallung sogleich wieder in Trägheit zu verfallen. Dies vielleicht in der Vermutung, daß nichts von dem, was hier geschieht oder geschehen könnte, erwiesene Tatsache ist.

Es ist - man sehe mir die Abschweifung nach -nicht zu leugnen: Unser Land zählt nicht viel in der Welt; wir selbst halten wenig von uns; unter oberflächlichen Bekenntnissen der Vaterlandsliebe verachten wir es; wir schämen uns unserer Heimat. Jedenfalls, ob wir es wollen oder nicht: Es ist ein kleines Land, ein allzu kleines, irgendwo abseits in einem Winkel in den Tropen, leicht zu übersehen zwischen den "großen Nachbarmächten", wie wir sie in maßloser Überschätzung bezeichnen; und als ob das alles nicht genug wäre, noch dazu abgekapselt hinter dem Streifen Land, der uns erdrückt, würgt und den Atem raubt: dem sogenannten Freihafen, dem alten Piratennest und heutigen Handelsstützpunkt, den die Holländer durch irgendeine wundersame List oder dank der Vorsehung oder einfach aus Zufall behalten konnten. Uns hingegen hat keine dieser drei Instanzen je begünstigt; und so - meinen oder empfinden wir oder wagen gar nicht erst zu meinen - läßt sich auf diesem benachteiligten Flecken Land nichts Ernsthaftes anpacken, es lohnt sich einfach nicht ... Andererseits frage ich mich manchmal doch: Hat denn die Größe eines Landes etwas damit zu tun, ob dort etwas Denkwürdiges geschieht? Wir trösten uns jeweils über die Kleinheit unseres Staatsgebiets mit der Athens zur Zeit des Perikles(2) hinweg oder mit den italienischen Städten der Renaissance (das ist ein besonders beliebtes Argument, das noch nie jemand in Frage gestellt hat, und trotzdem wird es mit hartnäckiger Inbrunst in unserer Presse, im Radio und in öffentlichen Ansprachen unermüdlich angeführt); wie auch immer dem sei, es läßt sich nicht wegdiskutieren, daß die Menschen überall in gleicher Erbärmlichkeit oder Großartigkeit leben und kämpfen und leiden, ihr Leben aufs Spiel setzen, das Spiel verlieren und sterben, unabhängig davon, ob das Land winzig klein oder ein Weltreich ist. Jeder Mensch erlangt seinen Wert durch das, was er ist, was er tut, welche Verdienste er sich erworben hat, auch wenn der Ort des Geschehens eine kleine, verschlafene Republik im amerikanischen Urwald ist.

Ich hege darum die Hoffnung, daß mir als Abkömmling einer berühmten Familie von Literaten, in weniger unglücklichen Zeiten Aushängeschild und Stolz dieses Landes, die hohe Aufgabe zukomme, diesen historischen Akt der Gerechtigkeit in einem Buch festzuhalten, das künftigen Generationen als Mahnung und als immerwährender Leitfaden dient, denn eines Tages wird dieses heruntergekommene Volk seine alte Würde wiedergewinnen, die heutzutage durch unser eigenes Verschulden im Staub liegt, aber nicht endgültig verloren ist. Ich will mich ans Werk machen, sobald die Welle von Gewalttaten, Ausschreitungen, Mord, Raub, Brandschatzung und sonstigen Missetaten abflaut, die unser Land seit dem Tod von Presidente Bocanegra(3) überzieht - und angesichts all dessen, was wir erdulden, weiß ich, nebenbei gesagt, noch nicht, ob man seinen Namen, wie viele von uns meinen, verdammen oder doch nicht eher als unerfüllte Hoffnung preisen und als mißlungenen Rettungsversuch für unser Vaterland beklagen soll. Vorläufig bringe ich einmal meine Papiere und meine Gedanken in Ordnung, treibe meine Arbeit voran und mache diesen Entwurf, um dann im Anschluß daran das versprochene Buch fertigzustellen. Während sich alle um mich herum im Gebrauch des Fleischermessers oder der Machete üben, wenn nicht gar der Pistole, bediene ich mich der Feder: mit nicht minder messerscharfem Vergnügen.


II

Jetzt erst kann ich mir erklären, war um im Kino, war um in der Literatur und in den historischen Berichten, ja sogar in den frei erfundenen Geschichten die Zeitzeugen für die Generation der Enkel zu lebendigen Bürgen werden und war um immer der falsche Eindruck von schwindelerregender Überstürzung entsteht, obwohl doch der Schrecken solcher Zeitläufte merkwürdigerweise
oft gerade in der Langsamkeit besteht, mit der sich die Geschehnisse unter der gespannten, gierigen Erwartung hinauszögern und die Minuten, die Stunden, Tage, Wochen, Monate sich bis ins Unerträgliche dehnen. Es kommt vor, daß der Erzähler, ohne es zu wollen, in seinem Bericht Morde auf Feuersbrünste häuft, Feuersbrünste auf Vergewaltigungen, Vergewaltigungen auf Raubzüge, und so türmt sich alles auf, wird ineinandergerührt, zusammengestaucht und verdichtet; dabei war es in Wirklichkeit ganz anders: Die Dinge entwickelten sich ganz ohne Lärm und Getöse, ohne Händel und Hader, vielmehr ganz schlicht und einfach, so daß vielleicht eines schönen Morgens gerade jemand mit dem Rasieren fertig ist und ein anderer Gast derselben Pension des Weges kommt und mit begreiflicher Erregtheit erzählt, Presidente Bocanegra sei heute früh tot in seinem Bett aufgefunden worden, nachdem er bis spät in die Nacht hinein an einem Staatsbankett im Palast teilgenommen habe. Es versteht sich von selbst, daß man sogleich folgert und als sicher annimmt, es habe sich um einen Herzinfarkt gehandelt, denn schon längst ist mit böswilligem Eifer die traurige Befürchtung geäußert worden, der Alkohol und andere Ausschweifungen könnten ein derart jähes Ende herbeiführen. Erst viel später, nach dem Mittagessen, erfahren wir beim Kaffee die sensationelle Geschichte (indes immer noch als einigermaßen konfuses Gerücht, das dann gegen Abend offiziell bestätigt wird): Ihre Exzellenz ist ermordet worden, und zwar von keinem Geringeren als von seinem Privatsekretär Tadeo Requena, seinem ganz speziellen Schützling; und zwar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit - so die Vermutung - wegen irgendwelcher Bettgeschichten; und der Täter seinerseits sei noch am selben Morgen ... und so weiter. Langsam, ganz langsam sickern die Neuigkeiten durch. Aber der herabfallende Wassertropfen genügt nicht, unseren brennenden Nachrichtendurst zu stillen - er reizt ihn nur noch mehr. Von da an ist alles, was man erfährt, ein Zuwenig. Man erfindet, fabuliert, lügt, man überträgt der Phantasie die Aufgabe, die unersättliche Neugier mit trügerischer Kost zu versorgen, denn die Gewißheit, daß laufend wieder etwas geschieht, hält sie wach und stets auf der Lauer. Am liebsten wäre es einem, man müßte gar nicht zu Bett gehen; es gibt sogar Leute, die nachts auf die Straße hinauslaufen und nach Opfern schnüffeln, über die dann pünktlich der nächste Morgen berichtet, sofern sie nicht gleich selbst Hand anlegen, um die Zahl der Opfer zu vermehren. Andern wiederum zittert zwar die Hand, sie töten aber mit ihrer Lästerzunge, mit ihrem Atem, mit dem Schatten ihres Verdachts, mit ihrem Blick.

Teil 3