Bücherbrief

Zwischen Paradies und Katastrophe

07.03.2022. Ein Bücherbrief unter besonderen Vorzeichen: Wie immer haben wir die am besten oder besonders kontrovers besprochenen Bücher ausgewählt, aber auch auf die traurige Aktualität in der Ukraine reagiert: Karl Schlögels sieben Jahre alter Essayband "Entscheidung in Kiew" ist das Buch der Stunde.  Catherine Belton blickt in "Putins Netz" in das mafiöse System früherer KGB-Agenten, Katerina Poladjan schildert den Alltag in der späten Sowjetunion zwischen bleierner Schwere und Aufbruch, und Vladimir Vertlib liefert in "Zebra im Krieg" auch eine Erklärung dafür, warum so viele russischsprachige Menschen der Propaganda Putins glauben. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Hendrik Bolz
Nullerjahre
Jugend in blühenden Landschaften
KiWi 2022, 336 Seiten, 20 Euro

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Drei Romane gilt es zu annoncieren, die das Aufwachsen junger Männer in der ostdeutschen Provinz der Nachwende beschreiben, alle drei Bücher wurden von der Kritik empfohlen. Es geht in ihnen ums Austeilen und Auf-die-Fresse-Kriegen, um Kraftsport und Rap, Alkohol, Drogen, stumpfen Vandalismus, erste Liebe und Rechtsradikalismus. Und natürlich immer auch um die Frage: Wann ist ein Mann ein Mann? Fangen wir mit dem "Nullerjahren" an, mit dem der Musiker Hendrik Bolz' vom HipHop-Duo Zugezogen Maskulin eher eine Autofiktion als ein Roman vorlege. Die sinnlose, von Langeweile angefachte Lust an der Gewalt unter ostdeutschen Jugendlichen kann der Autor ebenso überzeugend vermitteln wie die Hilflosigkeit der Eltern, findet SZ-Kritiker Cornelius Pollmer und lobt begeistert den rhythmisch strukturierten, pointierten Flow der Sprache und der Handlung. Auch Dlf-Kritikerin Katharina Thoms wird bei der Lektüre "wie im Technobeat"-Rausch förmlich weggeblasen. Was das Sprachgefühl angeht, kann der taz-Redakteur Daniel Schulz mit seinem Debütroman "Wir waren wie Brüder" (bestellen) nicht ganz mithalten, findet Pollmer, doch seinen Hauptprotagonisten vermag der Autor in all seiner jugendlichen Orientierungslosigkeit und Unsicherheit überzeugend zu zeichnen, lobt der Kritiker. Der Leser spürt förmlich die Kälte, wenn Schulz von der zunehmenden Verunsicherung der Ostdeutschen erzählt und von ihren Abschottungsstrategien, fröstelt im Dlf Jan Drees. Als Dritter im Bunde wäre noch Domenico Müllensiefen zu nennen, dessen Roman "Aus unseren Feuern" (bestellen) ebenfalls ein geglückter Fall von Nullerjahre-Literatur ist, wie taz-Kritikerin Julia Lorenz, selbst im Osten aufgewachsen, versichert. Sie rechnet es Müllensiefen vor allem hoch an, dass er nicht in einen "Gewaltporno" abgleitet, vielmehr die wachsende Härte schon auf der Ebene der verbitterten Väter thematisiert. Insgesamt eine "Art Working-Class-Leipzig Noir", staunt sie.

Vladimir Vertlib
Zebra im Krieg
Roman nach einer wahren Begebenheit
Residenz Verlag 2022, 288 Seiten, 24 Euro

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FAZ-Kritikerin Sabine Berking liest diesen Roman um einen Mann, der in einem osteuropäischen Land in eine Art Krieg in den sozialen Medien gerät, als Persiflage auf den Ukrainekonflikt. Und wäre die Sache im Augenblick nicht so dramatisch, könnte sie "herzhaft" darüber lachen, versichert sie. Denn der in Russland geborene, heute in Österreich lebende Autor Vladimir Vertlib ist ein "Meister der Ironie" und des Slapsticks, fährt sie fort. Sein Hauptprotagonist Paul eigentlich ein freundlicher Familienvater, der in einem feindseligen Umfeld die Fassung verliert und - Täter und Opfer zugleich - für einen Ausfall in einem Video schwer gedemütigt wird. Sein Roman spiegele Erfahrungen im osteuropäischen Raum wieder, er könne aber ebenso gut in Mexiko oder Syrien spielen, erklärte Vertlib im Interview mit der taz. Auch beruht er auf einer wahren Geschichte, so der Autor, der auch eine Erklärung dafür hat, warum so viele russischsprachige Menschen der Propaganda Putins glauben: "Es hieß, dass in der Ukraine Neonazis an die Macht gekommen seien, die sie umbringen wollten. Solche Verschwörungserzählungen greifen, weil die Angst noch immer so präsent ist. Da sind die Erfahrungen von Eltern und Großeltern, die noch bis in die Stalinzeit zurückreichen." Wer sich ein Bild von Russland heute machen möchte, dem sei Vladimir Sorokins Erzählband "Die rote Pyramide" (bestellen) empfohlen. Mal subtil, mal radikal lassen die neun Geschichten, entstanden in den letzten zwanzig Jahren, die gefährlichen politischen Tendenzen im heutigen Russland hervortreten: Nationalismus, Religiosität und eine ordentliche Portion Sowjetnostalgie fasst Sorokin hier zusammen, schreibt taz-Kritikerin Norma Schneider. Interessant findet sie dabei vor allem, dass Sorokin nicht nur ein regierungskritisches, sondern auch ein regimetreues Publikum findet - für sie ist das Buch eindeutig eine "gnadenlose Zerstörung" der nationalistischen Idylle.

Bettina Flitner
Meine Schwester
KiWi 2022, 320 Seiten, 22 Euro

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Auch die Fotografin Bettina Flitner erzählt eine Familiengeschichte - ihre eigene, mit Kindheit in den Siebzigern, Waldorfschule und Aufwachsen im linksliberalen Bürgertum. Vordergründig perfekt, lauern im Hintergrund der Autoritarismus des Großvaters, die Depressionen von Mutter und Schwester, die beide Selbstmord begehen. FAZ-Rezensent Andreas Platthaus überzeugt nicht nur die Form, mit ihren Vor- und Rückblenden. Bemerkenswert findet er vor allem die Rückhaltlosigkeit dieses Erzählens, zumal die Autorin immer wieder auch Komisches im Schrecklichen entdeckt. Mitreißend, ohne kitschig zu sein, findet er. In der SZ ist Elke Heidenreich voller Hochachtung für die Nüchternheit und den klaren Blick der Autorin, die Kindheit und Jugend rekonstruiert, um die feinen Risse in der bürgerlichen Fassade zu erkennen. Und was Flitner über die Macht der Depression, Familienkonflikte und Schutzmechanismen schreibt, scheint Dlf-Kultur-Kritikerin Eva Hepper von allgemeiner Gültigkeit zu sein.

Esther Kinsky
Rombo
Roman
Suhrkamp Verlag 2022, 267 Seiten, 24 Euro

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Im Jahr 1976 erschütterten zwei schwere Erdbeben im italienischen Friaul die Gegend rund um den Monte San Simeone, knapp tausend Menschen verloren dabei ihr Leben. Esther Kinsky nimmt in ihrem Roman das Beben im Dreiländerdreieck zwischen Italien, Österreich und Slowenien zum Anlass, sieben Bewohner eines abgelegenen Bergdorfs, von ihrem Leben erzählen zu lassen, in dem das Erdbeben tiefe Spuren hinterlassen hat. In der NZZ spürt Paul Jandl die Erde beben beim Lesen des Romans, der für ihn geologische Zustandsbeschreibung, Geschichtensammlung und Dokumentation der Flora und Fauna um den Monte San Simeone in einem ist: So faszinierend erscheint ihr die Mischung aus Landschaftsbeschreibung, fiktiven Erinnerungen und geologischer Literatur, in der Kinsky Begiffe und Landschaft ins Rutschen kommen lässt und Dante und Heinrich von Kleist aufruft, um das Irrationale der Welt zu erkennen. Und dem Dlf-Kultur-Kritiker Helmut Böttiger eröffnet sich mit
Kinskys höchst "verdichteter, "poetischer" Prosa  der Zusammenhang zwischen Paradies und Katastrophe.

Katerina Poladjan
Zukunftsmusik
Roman
S. Fischer Verlag
2022. 192 Seiten. 22 Euro

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Die Zukunftsmusik, die in Katerina Poladjans neuem Roman den Ton vorgibt, erklingt am 11. März in einer Gemeinschaftswohnung in der sowjetischen Provinz. Es ist Chopins Trauermarsch, der im Radio zu Ehren des gerade gestorbenen Generalsekretär der KPdSU, Konstantin Tschernenko, gespielt wird und der den Epochenwechsel zu Gorbatschows Perestroika markiert. Im DlfKultur
lobt Olga Hochweis, wie liebevoll und unlarmoyant Poladjan den Alltag in der späten Sowjetunion schildert, zwischen bleierner Schwere und Aufbruch. Im Dlf mochte auch Sigrid Löffler sehr gern, wie die in Moskau geborene, seit Kindheit an in Berlin lebende Autorin Geschichte von sechs Familien in einer Kommunalka verbindet, nämlich elegant und leichthändig, ohne jedes Pathos. Auch dass die Autorin zwischen Ernst und Humor wechselt, und dabei auf die Größen der russischen Literatur, auf Tolstoi und Gogol gleichermaßen rekurriert, konnte Löffler gut haben.

Fatma Aydemir
Dschinns
Roman
Carl Hanser Verlag 2022, 368 Seiten, 24 Euro

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Eine deutsch-türkische Familiengeschichte erzählt Fatma Aydemir in ihrem Roman "Dschinns". 30 Jahre hat der Vater, 1979 ausgewandert, in Deutschland gearbeitet, jetzt will er sich mit der Familie in die Eigentumswohnung in Istanbul zurückziehen und - stirbt an einem Herzinfarkt. Die Mutter und die drei Kinder müssen sich allein einrichten. Indem Aydemir jedem Familienmitglied ein Kapitel widmet, veranschaulicht sie gekonnt die zahlreichen Aspekte des sogenannten "Migrationsspagats", erklärt FR-Rezensentin Susanne Lenz, die den verschiedenen Stimmen gespannt lauscht. In der SZ ist Meike Fessmann begeistert von der dichten, soziologischen Genauigkeit der Geschichte und den Diskursen über Identität und Herkunft. Auch FAS-Rezensent Tobias Rüther konnte den Roman, der ihn nicht nur wegen seiner verschiedenen Erzählperspektiven, sondern auch wegen seiner politischen Dimension in Atem hielt, kaum weglegen. Dlf-Kritiker Christoph Schröder fand den Roman zwar formal unausgegoren, doch auch ihn hat die Vielfalt aktueller Themen von weiblicher Selbstermächtigung, Rassismus bis Klassismus und Sexualität fasziniert. Nur Zeit-Kritikerin Iris Radisch ist fassungslos angesichts der positiven Kritiken zu einem Roman, in dem permanent alle auf alles scheißen, kacken oder drauf ficken. Die "gesinnungsästhetischen Manöver" der ProtagonistInnen zu Migration, Homophobie, Gendertheorie, Klassismus und Rassismus zeigen ihr vor allem eine Autorin, die ihre makellose Gesinnung zur Schau stellen will.


Sachbuch

Catherine Belton
Putins Netz
Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste
Harper Collins 2022. 704 Seiten. 26 Euro

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"Putin's People", das Buch der ehemaligen Moskau-Korrespondentin der Financial Times, Catherine Belton kam bereits im vergangenen Jahr ins Gespräch, weil es von russischen Oligarchen mit "Slapp-Klagen" überzogen wurde. (Unser Resümee) Auf thecritic.co.uk besprach Nick Cohen das Buch denn aus Angst, verklagt zu werden, lieber nicht. (Unser Resümee) Nun ist es bei Harper Collins auf Deutsch erschienen, aktueller könnte derzeit wohl kaum ein Buch sein. Die deutschen Medien haben es noch nicht besprochen. Auf der Grundlage von Gesprächen mit ehemaligen Kreml-Insidern und Geheimdienstoffizieren blickt Belton in das System Putin, in das mafiöse Netzwerk früherer KGB-Agenten und beleuchtet vor allem Putins Rolle als KGB-Agent in Dresden nach dem Mauerfall näher. Anne Applebaum nannte das Buch in ihrer lesenswerten Kritik in The Atlantic im September 2020 die vermutlich endgültige Darstellung des Aufstiegs Putins und des Putinismus: Das Buch zeige, wie Russlands Präsident in jeder Phase seiner Karriere die Methoden, Kontakte und Netzwerke des KGB in vollem Umfang nutzte. Beltons Buch ist eine akribisch recherchierte, furchtlose Analyse des Putin-Regimes und wirft ein Licht auf die Bedrohungen, die russisches Geld und russischer Einfluss heute für den Westen darstellen, schrieb Daniel Beer im Guardian. Weitere Besprechung in der NYTimes.

Karl Schlögel
Entscheidung in Kiew
Ukrainische Lektionen
Hanser Verlag 2015, 352 Seiten, 21,90 Euro

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"Karl Schlögels 'Entscheidung in Kiew' ist das Buch der Stunde", erklärte Arno Widmann vor wenigen Tagen in der FR. Und das, obwohl es bereits vor sieben Jahren erschienen ist. Der Osteuropa-Historiker Schlögel war viele Jahre in der Ukraine unterwegs, bereits 2015 stellte er fest, der Westen habe das Land viel zu lange ignoriert: "Schlögel schreibt die Chronik eines angekündigten Todes. In jedem seiner Sätze spürt man die Erschütterung über die Taten Putins", so Widmann. "Ebenso großartig ist der zweite Teil von Schlögels Buch. Es ist eine Analyse unseres 'Russland-Komplexes', ein Begriff, den Schlögel sich von Gerd Koenen ausleiht." FAZ-Kritikerin Kerstin Holm lernte von Schlögel am Beispiel der Bergbaumetropole Donezk, dass man auch Städte ermorden kann: Strom, Wasser und Geldautomaten fallen aus, Ärzte, Juristen, Dozenten und Geschäftsleute ziehen in westlichere Teile der Ukraine und die Stadt entwickelt sich mehr und mehr zum Militärlager, berichtet der Historiker, der in diesem Band aber auch die Schönheit ukrainischer Städte beschwört. Die Welt wünschte Schlögels Annäherung an die Ukraine, seine Städteporträts, Beobachtungen und Analysen, aber auch seine Überlegungen zum "Informationskrieg" und zu Putins Aggressionskurs westlichen Staatslenkern schon damals auf den Nachttisch. Im aktuellen Dlf-Interview zum Ukraine-Krieg wirft Schlögel dem russischen Präsidenten in Bezug auf die Ukraine Ahnungslosigkeit und Wirklichkeitsentfremdung vor.

Dan Diner, Norbert Frei, Saul Friedländer, Jürgen Habermas, Sybille Steinbacher
Ein Verbrechen ohne Namen
Anmerkung zum neuen Streit über den Holocaust
C.H. Beck Verlag 2022. 94 Seiten. 12 Euro

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Der Perlentaucher kann sich rühmen, den "Historikerstreit 2.0" recht frühzeitig wahrgenommen zu haben. Er wurde wochenlang auf einem Blog namens The New Fascism Syllabus geführt, nachdem A. Dirk Moses den "Deutschen Katechismus" von der Einzigartigkeit des Holocaust angeprangert hatte, der von jüdischen "Hohepriestern" kontrolliert werde. Es ist interessant, dass die Debatte von amerikanischen Universitäten ausging - es geht sicher auch eine Homogenisierung des Diskurses im Sinne modischer Geschichtstheorien, die maßgeblich in Amerika entwickelt wurden. Die deutschen Zeitungen sind relativ spät auf die Debatte eingestiegen, hier ein Resümee der ersten Phase des Streits, mehr auch hier. Der vorliegende Band gibt nur einen kleinen Ausschnitt aus der Debatte wieder: Die Frage war, ob die Infragestellung der Singularität des Holocaust von links ebenso problematisch ist wie seinerzeit von rechts. Nein, fand Jürgen Habermas, der schließlich den ersten Historikerstreit lanciert hatte, in einem kleinen Artikel, den er an entlegener Stelle und leider nicht online publizierte: Von links ist das halb so wild. Der Band versammelt auch wichtigere Reaktionen, besonders die von Dan Diner und Saul Friedländer, die von Moses direkt attackiert worden waren. Der Band kann nur eine erste Aufarbeitung sein, findet Patrick Bahners in der FAZ. Hinzuweisen ist auch auf Natan Sznaiders Essay "Fluchtpunkte der Erinnerung", (Bestellen) der ebenfalls über den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Holocaust reflektiert.

Annekathrin Kohout
Nerds
Eine Popkulturgeschichte
C.H. Beck Verlag 2022. 272 Seiten. 16,95 Euro

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Kürzlich erzählte die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout im Tagesspiegel, was sie an der Figur des Nerds interessiert: Erst war er ein technikbesessener Außenseiter, in den Siebzigern und Achtzigern wurde er mit Personen wie Bill Gates, Steve Jobs oder Steve Wozniak zum Helden. "Aber er verkörperte keine neuen Werte. Deshalb ist es schwer für Frauen oder PoC sich mit dieser Figur zu identifizieren. Das ist von Bedeutung, weil der Nerd mittlerweile wichtige Positionen in der Gesellschaft inne hat." Nun hat Kohout dem Nerd eine ganze Kulturgeschichte von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart gewidmet, die die Autorin Berit Glanz in der FAS mit großer Begeisterung besprochen hat: Akribisch und facettenreich erscheint ihr Kohouts Studie, in der sie mit zahlreichen Belegen aus Medien Aufstieg, soziale Konstruktion und Problematik der Figur beleuchte. Noch immer basiere der Nerd auf patriarchalen Stereotypen des "weißen Mannes", lernt die Kritikerin. Ein "faszinierender Rundumblick", meint Glanz.

Brigitte Benkemoun
Das Adressbuch der Dora Maar
btb 2022. 288 Seiten. 12 Euro

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Für die französische Journalistin Brigitte Benkemoun muss es sich wie eine Sensation angefühlt haben, als sie bei Ebay den Ledereinband für einen Taschenkalender ersteigerte und darin ein Adressheft aus dem Jahr 1951 samt Adressen von Chagall, Aragon, Breton, Lacan, Giacometti und vielen anderen entdeckte. Nach langen Recherchen fand sie heraus: Das Büchlein gehörte Dora Maar. Benkemoun recherchierte weiter und setzte in kurzen Kapiteln Maars Leben wie ein Puzzle zusammen, erzählt uns SZ-Kritiker Reinhard Brembeck: Er liest hier von Trennung, Zusammenbruch, Meditationen, Sitzungen bei Lacan, erfährt aber auch von Maars Homophobie oder davon, dass sie eine zerlesene Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" in ihrer Bibliothek stehen hatte. Dass Benkemoun ihm ein Bild der Picasso-Geliebten und Fotografin ganz ohne Urteile liefert und dem Leser die Möglichkeit gibt, sich selbst ein Bild zu machen, schätzt Brembeck. In der arte-Mediathek steht ein Beitrag zu Benkemouns Recherche online.