Essay

Tagtraum

Von Adam Krzeminski
18.06.2007. Momentan stehen die nationalen Interessen im politischen Diskurs der Europäer im Vordergrund, und wie sind mehr oder weniger im Wirkungskreis lokaler Medien gefangen. Eine europäische Öffentlichkeit muss erst noch entstehen. Und sie darf sich nicht auf Kleineuropa beschränken.
Eine europäische Öffentlichkeit ist Wirklichkeit und zugleich eine Chimäre, wenn nicht gar eine philosophische Unmöglichkeit. Die Kreisläufe der nationalen Diskurse schließen sich nur mühsam zu kommunizierenden Röhren eines gemeinsamen Diskurses zusammen, der von Polen bis Portugal und von Zypern bis Lappland als eigener verfolgt und verstanden würde. Es gibt zwar große europäischen Debatten, die parallel in allen Teilstaaten der EU hohe Wellen schlagen, doch - wie Ulrich K. Preuß schrieb - die EU kann keinen Anspruch darauf erheben, ein universell-republikanisches Modell der Öffentlichkeit darzustellen.

Die Europäer diskutieren über die gemeinsame Außen- und Energiepolitik, über die Lissabon-Agenda und über das Bologna-Programm, sie beobachten gespannt die Präsidentschaftswahlen in Frankreich oder die Parlamentswahlen in Deutschland, England oder Polen, weil sie inzwischen wissen, ihr Ausgang wird bald auch auf ihre eigene Innenpolitik abfärben. Doch zugleich leben sie nach wie vor vor allem mit ihren nationalen Medien, auch wenn sie von "fremden" Medienkonzernen herausgegeben werden, und die wiederum beschäftigen sich vor allem mit eigenen, nationalen Problemen, Korruptionsaffären, Rankinglisten und Wirtschaftsinteressen. Eine europäische Öffentlichkeit ist nach wie vor eher ein Tagtraum als Wirklichkeit.

Es gibt dafür wunderbare Beispiele. Da dreht ein deutscher Filmemacher - Volker Schlöndorff - einen Spielfilm über den polnischen Streik im Sommer 1980, weil es für ihn ein wichtiger Beitrag ist in der innerdeutschen Debatte über die revolutionären Verirrungen des 20. Jahrhunderts. Und in Polen schreiben plötzlich junge Schriftsteller ein Dutzend Baader-Meinhof-Dramen, da sie eben von der polnischen "Revolution der Runden Tische" 1980-89 enttäuscht sind. Und beide haben keinen Erfolg bei ihrer heimischen Öffentlichkeit, der Deutsche mit seinem Ausflug in polnische Themen und die jungen Polen mit dem in deutsche. Es gibt auch überraschende Erfolge einer sogar die EU-Grenzen überschreitenden Öffentlichkeit, wenn beispielsweise ein polnischer Filmemacher - Jerzy Hoffman - den Ukrainern eine mit bescheidenen Mitteln gedrehte Filmtrilogie schenkt: "Ukraine. Die Geburt einer Nation", die dann landesweit so heftig diskutiert wurde wie im 19. Jh. in fast jedem europäischen Land ein neuer Nationalroman.

Wer will, der findet mühelos Zugang zu den Nachbarn. Das Internet, die Satellitenschüssel und Billigflüge machen es möglich. Man muss allerdings die Sprachen kennen. Mit Englisch kommt man weit, aber nicht weit genug voran, wenn man als Pole im ukrainischen oder als Deutscher im polnischen Dickicht eigene Pfade finden will. Englisch ist und bleibt die lingua franca in diesem europäischen Turm von Babel. Dennoch reichen auch relativ gute Schul- und Touristenkenntnisse selten aus, um ein qualifiziertes, bisweilen auch psychotherapeutisches Gespräch unter Nachbarn zu führen. Und das ist ja in diesem Europa, das so stolz auf seine nationale, kulturelle, konfessionelle und sprachliche Vielfalt ist, wegen der oft blutigen Nationalgeschichten, der gehegten kollektiven Egoismen und der arroganten Ignoranz gegenüber den Nachbarn bitter nötig.

Und dennoch sind Splitter einer europäischen Öffentlichkeit trotz allem unser täglich gelebter Tagtraum.

Sie beginnt bei den TV-Nachrichten über die endlose Kette von Gipfelgesprächen - EU, G8, NATO. Selbst wenn einen Fernsehkonsumenten lediglich einige Bruchstücke dessen, worum es diesmal ging, erreichen: noch so eine EU-Erweiterung, irgendein Veto zu irgendeinem Vertrag mit Russland, Antiraketen-Schild der Amis in Polen. Er hat sich bereits daran gewöhnt, dass auch seine private Welt nicht mehr in nationalen Rahmen erfasst werden kann.

Selbst in Polen, wo derzeit eine national-konservative Regierung das tief verwurzelte Misstrauen und die Abneigung gegen Deutschland und die Deutschen zu revitalisieren versucht, sind die Meinungsumfragen europafreudiger denn eh und je? Die EU-Institutionen, einschließlich dem Europäischen Parlament, genießen höhere Wertschätzung als die nationalen. Auch der europäische Verfassungsvertrag würde heute in einem Referendum, trotz der massiven Kritik der Koalitionsparteien, eine klare Mehrheit erhalten.

Europa ist für die Polen nicht nur die Norm, wie ein konservativer Publizist vor 1989 schrieb, sondern auch eine Rückversicherung gegen die abstrusen Kapriolen der eigenen politischen Klasse. Nach ihrem Beitritt 2004 war die Mehrheit der Polen sogar für eine Direktwahl eines europäischen Präsidenten, für eine gemeinsame Außenpolitik, für die Formierung einer Euro-Armee und für eine möglichst schnelle Übernahme des Euro. Und zugleich wünschten sie sich auch, dass in der EU der Nationalstaat stärker zur Geltung komme. Eine Quadratur des Kreises, die für Europa nicht untypisch ist.

Größere Splitter der europäischen Öffentlichkeit geraten in das nationale Selbstverständnis, wo die EU direkt präsent wird in den innenpolitischen Debatten. Hat die Regierung den Beitrittsvertrag optimal ausgehandelt oder "auf Knien" und nationale Interessen "verkauft"? Sind Europa-Abgeordnete, die eigene Behörden in Straßburg verklagen, Verräter oder gute Staatsbürger, die Europa gegen die Übergriffe der eigenen Hinterwäldler mobilisieren? Oder umgekehrt: Muss man jenen EU-Abgeordneten, die wegen seiner Reiterattacken gegen Darwin und Schwule in Straßburg zum Gespött wurde, zur Räson bringen, damit er den Ruf des Landes nicht noch mehr beschädigt (wobei es nicht vorrangig um den Ruf geht, sondern um den Unsinn, den er verbreitet)?

Europa ist massiv zu einem Korrektiv geworden, zur Kontrollinstanz und zu einer pädagogischen Anstalt. Es ist ein Lackmuspapier und Katalysator nationaler Debatten und innenpolitischer Auseinandersetzungen. Ist Verlass auf Brüssel, dass es die tollpatschigen Autobahnfreaks, die bereit sind, einmalige Ökosysteme zu vernichten, oder den Gesetzgeber, der in seiner Abrechnungswut mit Kommunisten und politischen Gegnern die Menschenrechte aushöhlt, im letzten Moment doch noch bremst? Schon nach wenigen Jahren ist die EU bei ihren Neuzugängen vielfach präsent in der Innenpolitik und im politischen Selbstverständnis, stärker als man je geglaubt hatte. Selbst die Euroskeptiker von der Partei der Brüder Kaczyński "Recht und Gerechtigkeit", die sich 2003 beim Beitritts-Referendum einer klaren Position entzogen und 2005 im Partei-Programm über die Europa-Vorstellungen de Gaulles aus den 60er Jahren nicht hinausgehen wollten - also gegen den Euro, gegen den Verfassungsvertrag und gegen eine gemeinsame Außenpolitik der EU wetterten -, pochen heute auf eine gemeinsame energiepolitische Strategie der EU gegenüber Russland.

Die rasante Europäisierung der EU-Mitgliedstaaten ruft allerdings auch eine offene Gegenbewegung hervor. Der Ruf nach einer "Renationalisierung" kam in den 90er Jahren von den "Alt"-, nicht von den "Neu"-Europäern. In Deutschland machte man sich zuerst Sorgen um den "Standort-Deutschland", dann um die "Leit-Kultur", den "Nationalstolz", den "neuen Patriotismus". Und schließlich erklärte ein Bundeskanzler urbi et orbi, dass deutsche Politik in Berlin und nicht anderswo gemacht werde. Die französische Egozentrik, die 2003 die deutsch-französische Position zum Irak-Krieg zu einer europäischen erklären und 2004 den (von Frankreich initiierten) Verfassungsvertrag im Referendum wegen einer angeblichen Bedrohung des französischen Arbeitsmarkts durch "polnische Klempner" ablehnen ließ, ist keine Überraschung. Schließlich lehnte Frankreich 1954 auch die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ab. Und es gibt in französischen Augen keine unangemessenere Grobheit, als etwa die Erwartung, dass Frankreich und England irgendwann einmal auf ihren ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zugunsten einer gemeinsamen EU-Stimme verzichten sollten? Auch Deutschland reklamiert nun einen solchen Platz für sich.

Nicht die politischen Dissonanzen stellen die Existenz der europäischen Öffentlichkeit in Frage, sondern der fehlende politische Wille, die anstehenden Probleme effizient zu lösen. Momentan stehen die nationalen Interessen im politischen Diskurs der Europäer im Vordergrund.

Und es gibt immer noch nicht genug Träger der europäischen Öffentlichkeit. Der britische Pressemogul Maxwell stellte nach neun Jahren "The European" ein, eine Zeitung, die als Forum für den europäischen geistigen Austausch gedacht war. Die europäische Demokratie spielt sich in hohem Maße innerhalb der Nationalstaaten ab und nicht in der kontinentalen Dimension. Auch der betuliche Fernsehsender "Euro-News" schafft keine europäische Öffentlichkeit. Eine europäische Föderation wird es aber ohne ein europäisches Bewusstsein nicht geben.

Immer noch sind wir mehr oder weniger im Wirkungskreis lokaler Medien gefangen, auch wenn diese sich in der Hand internationaler Konzerne befinden. Noch immer undenkbar ist ein europäisches Fernsehen, das - nicht nur anlässlich des Schlagerfestivals der Eurovision - von Lissabon bis Helsinki, Kiew und Ankara reicht. Aber muss es so weit reichen? Bisher gelingen nur lokale Versuche, an der Grenze zweier oder höchstens dreier Sprachen. Nach dem Muster des deutsch-französischen Kulturkanals "arte", der zwar nicht allzu viele Zuschauer hat, aber als einer der kultiviertesten und ambitioniertesten Fernsehsender in Europa gilt, wäre schon seit langem die Gründung wenigstens eines lokalen polnisch-ukrainischen und deutsch-polnisch-tschechischen Fernsehsenders in Przemyśl und Lemberg und in Breslau, Dresden und Königgrätz wünschenswert. Chancen für ein gesamteuropäisches CNN gibt es nicht. Trotz des allgegenwärtigen Englischen wird Europa noch lange nicht mit einer Sprache sprechen. Die Europäer bleiben noch für lange Zeit auf Dolmetscher, Übersetzer der Nachbarkulturen und Vermittler angewiesen.

Und die funktionieren, nicht selten vorzüglich. Ein holländischer Reporter und Essayist, Geert Mak, hat im Alleingang eine Besichtigung der europäischen Geschichte des schrecklichen 20. Jahrhunderts bewältigt. Sein Buch bekam in mehreren Ländern glänzende Rezensionen. Aber gelesen werden kann er nur in wenigen Sprachen. Arne Ruth, ein schwedischer Publizist, bemerkt richtig, dass die europäischen Journalisten zwar Fukuyama, Huntington und andere tonangebende amerikanische Bücher lesen und diskutieren, aber sie kommunizieren wenig miteinander über die europäische Publizistik. Timothy Garton Ash? Abrechnung mit der deutschen Ostpolitik, "Im Namen Europas", mag in Deutschland und Polen ein Thema gewesen sein, aber weniger in Frankreich, von Spanien oder Griechenland ganz zu schweigen. Und seine "Freie Welt" wiederum sprach zwar Briten, Deutsche und Franzosen an, nicht aber Polen oder Tschechen? 2003 haben wir alle Kegans Philippika gegen Europa gelesen, aber Emmanuel Todds leidenschaftliches Epitaph auf die USA nur Franzosen, einige Hundert Deutsche und der ein oder andere Pole?

Die Europäer haben auch kein Äquivalent des "New York Review of Books", keine qualifizierte Informationsquelle über das europäische Denken. Jedes Land hat seine eigenen Monatszeitschriften, die - wie der deutsche "Merkur" - dem "europäischen Denken", aber eben doch aus einer speziellen Perspektive gewidmet sind. Die großen Wochenzeitungen und in Deutschland auch die Feuilletons und Sonntagsbeilagen der überregionalen Tageszeitungen schauen gelegentlich über den Zaun zu den Nachbarn, und diese Gartenbeete sind auch durchaus informativ. Doch sie wachsen selten zu ganzen Ökosystemen eines europäischen Diskurses zusammen.

Keine europäische Kulturzeitschrift - und auch keine Website - bringt kontinuierlich die Bestsellerlisten aller EU-Länder, aus denen unsere europäische Ungleichzeitigkeit ins Auge springen würde. Wir lesen nämlich gemeinsam - etwas zeitverschoben - dieselben amerikanischen Weltbestseller und danach die jeweils eigenen, nationalen. Wenn wir auch zu denen der Nachbarn greifen, dann meistens so verspätet, dass daraus kein gemeinsamer literarischer Umlauf entsteht. Es gibt freilich Ausnahmen. Als vor einem Jahr Günter Grass die europäische Öffentlichkeit mit seinem Bekenntnis, kurz ein Waffen-SS-Soldat gewesen zu sein, verblüffte, waren es die polnischen Danziger, die zu ihrem Grass standen und letztendlich die deutsche Kampagne gegen Grass abwürgten. Hier funktionierten die kommunizierenden Röhren.

Dazu aber brauchte man Dolmetscher, die nicht nur Texte übersetzten, sondern auch die Beweggründe der anderen erklärten und die Klischees hinterfragten. Diese Dolmetscher fehlen aber im europäischen Diskurs. Das heißt, es gibt sie, aber sie werden kaum gefragt.

Hand auf Herz: Wer kennt die aktuellen Debatten in Portugal, Griechenland oder Finnland? Wer macht sich Gedanken darüber, dass in Portugal nach einer repräsentativen Umfrage ausgerechnet Salazar als der wichtigste Politiker der portugiesischen Geschichte gilt? Welcher deutsche Publizist oder Satiriker, der die Brüder Kaczyński als dritten Aufguss von Piłsudski veräppelt, macht sich die Mühe, den polnischen Staatsgründer von 1918 nicht mit einem Caudillo einer Bananenrepublik zu vergleichen, sondern - wiederum um ein halbes Jahrhundert zeitverschoben - mit Otto von Bismarck? Und als Gerhard Schröder Bismarcks Portrait zu einem Gespräch mit europäischen Intellektuellen außerhalb des Kanzleramtes mitschleppte oder gut bismarckianisch über die polnischen und litauischen Köpfe hinweg in Kaliningrad, sprich Königsberg, den lupenreinen Demokraten umarmte, waren die deutschen Publizisten nicht empört. Was geht uns die Nichteinladung des polnischen und des litauischen Staatspräsidenten, also beider unmittelbaren Nachbarn der russischen Exklave, zu Putins Feierlichkeiten an, wenn das Öl weiter so angenehm aus der sibirischer Erde blubbert?

Eine europäische Öffentlichkeit muss erst noch in unseren Köpfen entstehen. Die Platzhirsche - die ehrwürdigen Meisterdenker aus dem "alten Europa" - weiden noch immer nur "alteuropäisch". Sie lesen englisch, französisch, deutsch, manchmal noch etwas italienisch. Und auch ihr Europabild ist verkümmert. Als 2003 zwei der größten europäischen Philosophen - ein Deutscher und ein Franzose - ein Manifest des europäischen Selbstverständnisses verfassten, luden sie ausschließlich ihre Kollegen aus dem "alten Europa" zu einer Debatte ein, einen Italiener, einen Spanier, einen Angelsachsen - aber keinen Tschechen, keinen Polen, keinen Esten. Als ein exzellenter Historiker über die westlichen - sprich: über die atlantischen - Werte sprach, erwähnte er zwar, dass auch die Ostmitteleuropäer sie teilen, doch hinter diesem Lippenbekenntnis verbarg sich keine Kenntnis der polnischen oder ungarischen Ideengeschichte, die so detailliert gewesen wäre wie die der französischen, deutschen oder amerikanischen. Und damit fehlten alle Subtilitäten jener Ungleichzeitigkeit des "alten" und "neuen" Europa, die auch in der Tagespolitik häufig für Verwirrung sorgt.

Es genügt, nur wenige Beispiele zu erwähnen: Als 2005 eine lettische Ministerin die Verbrechen Stalins mit denen Hitlers gleichsetzte, wurde sie von westlicher Seite empört zurechtgewiesen, dass nur der Holocaust und nicht der GULag als negative Erinnerung zum Gründungsmythos des vereinten Europas zu gehören habe. Ein anderes Beispiel ist die fehlende Solidarität der "Alteuropäer" im polnischen Kampf gegen die in Russland nach wie vor geltende stalinistische Lesart von der Legalität und moralischen Tragbarkeit des Hitler-Stalin-Paktes 1939 und der anschließenden Annexion Ostpolens und des Baltikums durch die Sowjetunion; auch die Weigerung Putins, die stalinistischen Massenmorde an den polnischen Eliten als Völkermord zu klassifizieren, wird in "Alteuropa" mit Gleichgültigkeit hingenommen. So weit reicht der angestrebte "Wandel durch Verflechtung" nicht, dass auch das stalinistische Grundmuster der russischen Geschichtsphilosophie revidiert wird.

Man könnte einwenden, des Pudels Kern der europäischen Öffentlichkeit liege ja nicht nur in manchen Defiziten des Geschichtsunterrichtes. Lasst uns vielmehr - wie Jürgen Habermas neulich forderte - über den neuartigen Strukturwandel der Öffentlichkeit reden, das heißt über den Verkauf der Qualitätszeitungen an internationale Konzerne, die allein den Profit und die Auflagenhöhe und nicht die deliberative Demokratie im Auge haben? Lasst uns über die neuen elektronischen Medien sprechen, über die Blogger - die besonders in Krisenzeiten, wie während der ukrainischen Revolution in Orange, schneller und besser als Berufsjournalisten recherchieren können. Warum immer nur jammern, dass die Europäer Ignoranten in der europäischen Geschichte sind und in diesem unserem Turm von Babel zu selten in die Feuilletons des Nachbarlandes hineinschauen, wenn es in deutscher Sprache doch einen Perlentaucher und auf englisch signandsight.com gibt, die wöchentlich einen Überblick über die wichtigsten europäischen, amerikanischen und sogar arabischen Wochenzeitungen liefern und internationale Debatten unterstützen, welche sich programmatisch nicht alt-, oder eher kleineuropäisch einhegen lassen.

Und dennoch ist die Struktur der Öffentlichkeit - der Wandel der Medien - das eine, und der notwendige Wandel der zu transportierenden Lerninhalte das andere. Beides hängt allerdings zusammen. Wenn wir heute in Polen einen Sturm der Entrüstung erlebten, weil ein Bildungsminister (und Vorsitzender einer dahinsiechenden, aber immer noch als Mehrheitsbeschafferin für die Regierungskoalition lebensnotwendigen national-katholischen Partei "Liga der polnischen Familien") den Kanon der Schullektüren von kritischen polnischen Autoren, aber auch von Dostojewski und Goethe säubern ließ, dann ist das nicht nur eine ausschließlich polnische Angelegenheit, sondern sie wird auch in Deutschland wahrgenommen. Bei Gelegenheit würde es sich lohnen, die Listen der Pflichtlektüren in allen EU-Ländern zu vergleichen, inwiefern sie national und zugleich europäisch sind. Was dringt nicht nur zu spanischen, lettischen, bulgarischen, sondern auch deutschen und französischen Schülern vom literarischen Erbe Europas durch, wo werden die alten weißen Flecken des europäischen Bewusstseins, unsere europäischen "Täler der Ahnungslosen" perpetuiert. Es kann doch nicht so bleiben, dass man in den Schulen des "alten Europa" nichts, wortwörtlich nichts mit der Kulturen Ostmitteleuropas assoziiert?

Und damit wird eine der verlockendsten europäischen Debatten der nächsten Monate angesprochen, die wohl von den Medien spielend aufgenommen werden wird. Ist ein gemeinsames europäisches Geschichtsbuch möglich, das in allen EU-Ländern zugelassen werden könnte? Die EU-Kommission will es versuchen. Die Historiker und viele Publizisten sind skeptisch. Die europäische Geschichte sei eben eine Addition der nationalen Erzählungen, und ein vernünftiges Amalgam sei kaum denkbar. Was für den einen ein glorreicher Sieg gewesen sei, bedeute für den anderen eben eine schmähliche (oder ehrenvolle) Niederlage. Punkt und Basta. Und dennoch gibt es mal mehr, mal weniger erfolgreiche Versuche, uns alle in Europa miteinander in Verbindung zu setzen. Die erfolgreichen kommen - wie im Mittelalter - von einzelnen Historikern, die im Alleingang Europa als Ganzes zu betrachten versuchen. Dazu kann man Norman Davies? langen Essay "Europe. A History" zählen - leider mit seinen 1200 Seiten kein geeignetes Schulbuch. Weniger gelungen dagegen erscheint ein kollektiv geschriebenes, deutsch-französisches Schulbuch der europäischen (nicht deutsch-französischen) Geschichte nach 1945. Anschaulich im Aufbau, nicht überbordend im Umfang, letztendlich aber doch zu eng der deutsch-französischen Perspektive unterstellt. Dem 17 Juni 1953 wird z.B. fünfmal so viel Platz eingeräumt wie der zur Fußnote degradierten "Solidarność". Unterschlagen wird die jahrzehntelange, quälende innerdeutsche Debatte um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze (und damit auch die Tragweite der deutsch-polnischen Versöhnung). Die Krönung der europäischen Zeitgeschichte in diesem merkwürdigen Schulbuch ist die Ikone des Petersburger Dreiecks, ein großes Bild Chiracs, Schröders und Putins, wahrscheinlich als Tribut der Autoren an die Erfordernisse der Tagespolitik gemeint, von der ein Jahr später schon keine Spur geblieben ist. Das seit 1991 existierende französisch-deutsch-polnische "Weimarer Dreieck" wird dagegen nicht erwähnt, weil es den Autoren aktuell politisch nicht opportun erschien.

Und dennoch ist dieser deutsch-französische Versuch lobenswert, weil er überhaupt angegangen wurde und zur Nachahmung anspornte. Nun soll ein deutsch-polnisches Schulbuch folgen. Und hoffentlich wird es auch von den Nachbarn kritisch gelesen.



Das Fazit lautet also, dass die europäische Öffentlichkeit zwar eine theoretische Unmöglichkeit sein mag - wie Ulrich K. Preuß behauptet -, doch es gibt sie in Ansätzen, schatten- und bruchstückhaft. Sie erinnert zwar manchmal an die "Stille Post", bei der den letzten Abnehmer in der Informationskette etwas völlig anderes erreicht, als der Absender seinem Nachbarn zugeflüstert hat, dennoch kommunizieren wir miteinander. Irgendwie.

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Am Wochenende diskutierten Redakteure aus Ost- und Mitteleuropa in Prag über die europäische Öffentlichkeit. Die Konferenz "Let's talk European" (15-16. Juni in Prag) wurde von signandsight.com, dem englischsprachigen Dienst des Perlentauchers, in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Prag, der Allianz Kulturstiftung, der Deutschen Botschaft Prag, der Karlsuniversität Prag und Post Amsterdam veranstaltet. Der vorliegende Text ist der Abdruck der Eröffnungsrede von Adam Krzeminski. Er wurde in gekürzter Form in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.