Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2006. In der NZZ beklagt der Philosoph Otfried Höffe das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit. Die FR staunt über die eindrucksvoll jähen Forte-Attacken der Edita Gruberova als "Norma". In der FAZ findet der kosovarische Schriftsteller Beqe Cufaj recht kritische Worte über Ibrahim Rugova.

NZZ, 23.01.2006

Der Philosoph Otfried Höffe überlegt, "welche Elemente eine zukunftsfähige, vielleicht sogar visionäre Kraft" für Europa entfalten könnten. Aus einer ganzen Reihe von Vorschlägen hier ein Beispiel: "Seit Jahren beklagt man das Demokratiedefizit der Europäischen Union, schiebt die Verantwortung aber gerne in die Ferne, nach Brüssel. In Wahrheit trägt für einen so wichtigen Baustein, wie die europäische Öffentlichkeit einer ist, die Europäische Union nicht einmal die Primärverantwortung. Greifen wir exemplarisch die Medien heraus: Wie soll es ein Zusammenwachsen in Europa geben, wenn die Medien sich nicht in weit höherem Maße den jeweiligen Nachbarländern öffnen?"

Christoph Egger resümiert die 41. Solothurner Filmtage und stellt fest, dass Französisch "mehr oder weniger zur Festivalsprache geworden (ist): nicht mehr bloß als freundeidgenössisch stotternde Mikrofonansage, sondern als selbstbewusste Durchsage dessen, der den Ton angibt. Die Deutschschweizer werden sich da wohl neue Strategien einfallen lassen müssen, wenn sie sich noch Gehör verschaffen wollen."

Barbara Villiger Heilig lässt sich widerwillig durch Christoph Schlingensiefs Animatografen in Wien führen. "Ich meinte, gelesen zu haben, die animatografische Installation sei frei begehbar, werde aber ständig unsanft zurechtgewiesen: Hier sei der Durchgang verboten, dort auch, usw. 'Wir empfehlen Ihnen, an den Führungen teilzunehmen', vermerkt, quasi mit warnend erhobenem Zeigefinger, ein Punkt auf dem eng bedruckten Hinweisblatt."

Besprochen werden weiter die Aufführung von "König Lear" mit Michel Piccoli im Pariser Theatre de l'Odeon, Edita Gruberovas Norma-Debut in München ("ans Herz greift einem ihre Norma nicht", schreibt Marianne Zelger-Vogt), die Uraufführung von Pascal Dusapins Oper "Faustus, the Last Night" an der Staatsoper Unter den Linden Berlin und Heinz Holligers Violinkonzert mit Thomas Zehetmair in Zürich.

TAZ, 23.01.2006

Andreas Merkel wurde bei dem großen Treffen von Schriftstellern und Fußballern im Berliner Museum für Kommunikation klar, was "sich 'Literatur' und 'Fußball' wirklich zu sagen haben: nichts." Ralf Leonard schildert, wie der österreichischen Politik ihre "frühere Ignoranz" auf die Füße fällt: Die Erbin der Klimt-Bilder, Maria Altmann, will diese nicht als Leihgabe in Wien lassen: "Die Österreicher sind so niederträchtig. Charmant, aber niederträchtig." Tobias Rapp stellt den DJ Richie Hawtin vor, dessen Musik bei der Eröffnung der Turiner Winterspiele gespielt werden wird. Und Brigitte Werneburg erinnert an Joseph Beuys, der heute vor zwanzig Jahren starb ("La rivoluzione siamo noi").

Besprochen werden die Uraufführung von Pascal Dusapins Oper "Faustus, the Last Night" an der Berliner Staatsoper ("Stets gepflegt, durchdacht, aber nie überraschend. Fausts Drama ist in derart zeitlose Ferne gerückt, dass es kalt lässt", meint Niklaus Hablützel) und Oliver Hirschbiegels Film "Ein ganz gewöhnlicher Jude".

Und Tom.

FR, 23.01.2006

Hans-Klaus Jungheinrich liegt der slowakischen Sopranistin Edita Gruberova (mehr) zu Füßen, die er als eine von Jürgen Rose ansonsten in "kluger Altherrensprödigkeit" inszenierte "Norma" in München erlebt hat. "Am meisten faszinierte sie mit fein abgestuften Piano-Nuancen, mit der Beweglichkeit und Eloquenz der die atemberaubenden Registerwechsel souverän bemeisternden Vokaldiktion. Dabei fehlte es niemals an Wärme des Timbres, an beseelt-einfühlsamer dramatischer Passioniertheit, auch nicht an eindrucksvoll jäher Forte-Attacke. So erlebte man keine eisige Singmaschine, sondern eine Leidensgestalt, wie sie sich nur in der Oper er- und künstlerisch verklären kann."

Weiteres: Hilal Sezgin weist in Times mager auf die Stärken der Frauen hin. Besprechungen widmen sich der Ausstelllung "Joseph Beuys in Aktion. Heilkräfte der Kunst" mit Fotografien von Performances des Künstlers im Düsseldorfer Museum Kunstpalast und der vierten Station von Christoph Schlingensiefs Theaterprojekt "Animatograf" im Wiener Burgtheater.

Welt, 23.01.2006

Holger Kreitling erzählt, wie Schriftsteller bei der Veranstaltung "Kopfballspieler" in Berlin über Fußball und seine kulturelle Bedeutung parlierten: "Man erkennt unschwer, dass die Schriftsteller den Fußball als radikalen Gegenentwurf mit einer gewissen Sehnsucht betrachten. Schweiß. Kraft. Unbedingte Aktion statt Reflexion. Jugendlichkeit."

Die Autorin Melanie Arns begibt sich zwanzig Jahre nach Joseph Beuys' Tod in seiner Geburtsstadt auf Spurensuche: "Kleve. Weite, kurvenreiche Landstraßen. Ich parke an einer Haltestelle. Sie heißt 'Beuys'."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek gibt uns Einblicke in die Schwierigkeit, den Regisseur Michael Haneke zu interviewen, dessen Film "Cache" diese Woche in die deutschen Kinos kommt. Ulrich Weinzierl berichtet, wie Wien nach aufwändiger Schnitzeljagd sein gestohlenes Salzfass wiederbekommen hat. Besprochen wird die Uraufführung von Pascal Dusapins Oper "Faustus, The Last Night" in Berlin.

Auf den Forumsseiten gibt es einen Text des amerikanischen Autors Robert Kagan ("Macht und Ohnmacht") über die Unentbehrlichkeit der USA: "Die allgemeine Erwartung, es werde ein globales Bestreben geben, ein Gegengewicht zur amerikanischen Hegemonie herzustellen, hat sich schlicht nicht erfüllt. Im Gegenteil, in Europa ist diese Vorstellung so gut wie verschwunden... Aber wenn ihnen die amerikanische Führungsrolle wirklich Sorgen bereitete, würden die Europäer drastischere Maßnahmen zur Stärkung der eigenen Kräfte ergreifen. Auch zeigen sich die Europäer keineswegs unkooperativ, nicht einmal mit einer Regierung, die sie angeblich verachten."

FAZ, 23.01.2006

Der in Deutschland lebende kosovarische Schriftsteller Beqe Cufaj findet in seinem Nachruf auf Ibrahim Rugova auch einige kritische Worte. Der albanische Präsident sei zwar sanfter gewesen als die UCK, aber nicht unbedingt besser: "Die schlimmsten Hetzblätter unter den kosovarischen Zeitungen standen ihm und seiner Partei am nächsten. Als im März 2004 serbische Häuser und Kirchen von junger albanischer Hand in Brand gesetzt wurden, zögerte Rugova lange, die Verbrechen zu verurteilen. Erst Wochen später, als ihn der britische Europa-Minister Denis McShane in eine verbrannte serbische Kirche schleppte, ließ er sich herbei, die Gewalt von Albanern an der serbischen Minderheit zu verurteilen."

Weitere Artikel: Thomas Wagner weigert sich im Aufmacher, den unbequemen Joseph Beuys zwanzig Jahre nach seinem Tod zu den Akten zu legen und kritisiert seine kommerziell denkenden Nachfolger: "Ein erweiterter Kunstbegriff? Nein danke, wir malen lieber." In der Leitglosse kritisiert Andreas Rossmann den Bonner Intendanten Klaus Weise für sein angeblich zynisch-opportunistisches Verhalten im Hinblick auf eine Vertragsverlängerung trotz magerer künstlerischer Bilanz. Martin Lhotzky schildert den neuesten Stand der Wiener Auseinandersetzung um die Zukunft von Klimt-Gemälden, die an jüdische Erben zurückgegeben werden sollen. Jürgen Kaube kommentiert die Entscheidungen der ersten Runde des "Exzellenzwettbewerbes" deutscher Universitäten. In der Reihe "Wir vom Archiv" stellt Gerhard Keiper ein Dokument des Auswärtigen Amtes aus den Revolutionstagen nach dem Ersten Weltkrieg vor, in dem die Beamten zu Ruhe und Ordnung aufgerufen wurden. Michael Gassmann resümiert eine Podiumsdiskussion über die Frage, ob Kultur als Staatsziel in der Verfassung genannt werden soll. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des Amerikanisten Klaus Poenicke.

Au der Medienseite geht Michael Hanfeld ausführlich den Ungereimtheiten im Fall der Susanne Osthoff nach. Außerdem wird ein völlig wirres Vorgespräch dokumentiert, das die Moderatorin des Heute-Journals Marietta Slomka vor einem offensichtlich ebenso wirren Interview in der Sendung geführt hat. Stefan Niggemeier meldet überdies, dass kritische Sportjournalisten ein Netzwerk gründen wollen.

Auf der letzten Seite resümiert Jürgen Kaube eine Berliner Podiumsdiskussion von Schriftstellern über Fußball. Kerstin Holm porträtiert den ehemaligen Kulturfunktionär der DDR Michael Schlicht, der heute als Filmproduzent in Moskau Millionen verdient. Und Christian Schwägerl zitiert ausführlich aus einer wohlwollenden Rezension des CDU Politikers Friedbert Pflüger über Oriana Fallacis antiislamisches Buch "Die Wut und der Stolz" und fragt, wie so jemand für das Amt des Regierenden Bürgermeisters in Berlin kandidieren kann.

Besprochen werden die Uraufführung einer Faust-Oper von Pascal Dusapin in der Berliner Staatsoper, Eugene O'Neills Familientragödie "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Deutschen Theater Berlin, Ereignisse der Salzburger Mozart-Woche und Sachbücher, darunter ein von Werner Spies herausgegebener Band über Max Ernst.

SZ, 23.01.2006

Noch hat es zwischen der Musikindustrie und dem Internet nicht gefunkt, erfährt Ralf Dombrowski auf dem Midemnet Forum in Cannes. "Aufs Ganze gerechnet macht der digitale Markt gerade mal sechs Prozent der Einnahmen aus. Das sind eigentlich Peanuts - zumal sich im Laufe der Diskussionen herausstellt, dass die Branche noch immer keine gemeinsame Wahrnehmung ihrer Interessen hat. Selbst die vormals noch gepriesenen Wachstumsmärkte abseits der westlichen Welt haben ihre Faszination verloren: 96 Prozent der Chinesen hören am liebsten chinesische Musik, 90 Prozent der Inder bevorzugen indisches Kulturgut, und auch in Brasilien schwören 80 Prozent der Bevölkerung auf Heimisches. Da bleibt wenig Platz für Popimporte. Der globale Markt erscheint daher trotz der Verheißungen des Internets mehr denn je als Illusion."

Weiteres: Ein österreichischer Alarmanlagenmonteur hat Benvenuto Cellinis Saliera vor drei Jahren spontan und nach einigen Flaschen Bier gestohlen, was Michael Frank veranlasst, wieder über die laxen Sicherheitsvorkehrungen des Kunsthistorischen Museums am Wiener Ring herzuziehen. Thomas Steinfeld meldet, dass das Verfahren gegen Orhan Pamuk in der Türkei nun eingestellt worden ist, und wettert gegen die Fußballliebe der Intellektuellen. Benjamin Henrichs referiert die offenbar eher mediokre Fußballdiskussion von 12 Dichtern und "Kopffußballspielern" im Berliner Museum für Kommunikation. Willi Winkler porträtiert den Schauspieler, Historiker, und Übersetzer Hanns Zischler, der gerade in Steven Spielbergs "Munich" zu sehen ist.

Im Literaturteil berichtet Johan Schloemann von einem "höchst zivilisierten" Gespräch des indischen Schriftstellers Salman Rushdie und seines Kollegen Vikram Seth in München. Auf der Medienseite nennt Wolf-Dieter Ring, Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, Matthias Döpfners Versprechen, bei einer Übernahme von ProSieben kein Crossmarketing mit Bild betreiben zu wollen, für "glaubwürdig" und fügt hinzu, es gebe genug Meinungsvielfalt hierzulande. "Daran herrscht kein Mangel."

Besprochen wird Edita Gruberovas "triumphaler" Auftritt in der ansonsten "hilflosen" Inszenierung von Vincenzo Bellinis "Norma" an der Bayerischen Staatsoper in München, die Uraufführung von Pascal Dusapins theoretischer Oper "Faustus, the Last Night" an der Berliner Staatsoper, Wolfgang Bülds blutiger Filmthriller "Twisted Sisters", und Bücher, darunter Jan de Cocks Tagebuch seiner Reise durch die Gefängnisse dieser Welt "Hotel hinter Gittern" und Johanna Sinisalos "krudes" Märchen "Troll: Eine Liebesgeschichte" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).