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Portfolio für die Upper Class

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
28.11.2022. "Rich lives matter" könnte das Motto der Photo Paris gewesen sein: Teure Deko für Villenbesitzer, wohin das Auge sah. Aber es gab natürlich auch Ausnahmen: Sally Mann und Deana Lawson bei - ausgerechnet - Gagosian, Mame-Diarra Niang und vor allem: Antoine D'Agata, der 2023 ein Jahr lang in einer Installation vor dem Centre Pompidou sitzen will.
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Das Grand Palais in Paris wurde für den Höhepunkt der Belle Epoque konzipiert: die Pariser Weltausstellung von 1900, die nicht nur die imperiale Herrlichkeit Frankreichs, sondern der westlichen Industrienationen als solches zur Schau stellen sollte. Traditionell findet im Grand Palais jährlich die Paris Photo statt, bis heute trotz weltweit aus dem Boden schießender Konkurrenz wie der mexikanischen Zonamaco der bedeutendste Branchentreff.

Während Europa in vielerlei Hinsicht an Bedeutung verliert, etwa gegenüber dem pazifischen Raum, dürfte sich die Pariser Messe nicht nur an vorderster Front halten, sondern diese Position sogar ausbauen. Grund dafür ist der Brexit. Das Geld der Superreichen, das sich im London der Nuller und Zehnerjahre seinen Weg in den Kunstmarkt als gewinnbringende Spekulationsmöglichkeit mit Glamour und Prestige bahnte, fand einst im Direktor der Tate Modern, Chris Dercon, seinen beseelten Agenten. Unzählige KünstlerInnen haben ihm und seinesgleichen bis heute spektakuläre Wertsteigerungen und Verbreitung ihrer Arbeiten im internationalen Art Jet Set zu verdanken. Während in der Bildenden Kunst die Party munter weitergeht, ist der Höhepunkt dieser Entwicklung in der Fotografie überschritten - auch wenn die Preise seit einiger Zeit wieder anziehen.

Der Brexit bringt es mit sich, dass sich das große Geld einen neuen Standort sucht. Während ursprünglich aufgrund möglicher Umwegeffekte auch Brüssel zur Debatte stand, ist es schlussendlich Paris geworden, was alle, die beide Städte kennen, nur allzu gut verstehen. Da trifft es sich gut, dass Dercon in seiner neuen Funktion als Vorsitzender der Vereinigung der französischen Nationalmuseen dafür sorgte, dass das Grand Palais seinen Vertrag mit der französischen Kunstmesse FIAC nicht verlängerte und stattdessen den Betreibern der Art Basel für deren Format "Art Basel Paris+" den Zuschlag gab.

Nachdem er wie in London den Weg fürs Großkapital freigemacht und damit gleichzeitig  den langfristigen Niedergang etablierter lokaler Strukturen eingeleitet hatte, kündigte Dercon umgehend seinen Wechsel zur Fondation Cartier an.

Der Kulturjournalismus liefert bei Vorgängen wie diesem den üblich gewordenen, publizistischen Escort Service. Im Berliner Tagesspiegel heißt es etwa exemplarisch: "Das Label Art Basel positioniert Paris unter Premium-Sammlern aus Asien und den USA. Wer weint da noch der weniger hochkarätigen FIAC eine Träne nach?" David Zwirner gab zum Besten, gleich beim ersten Mal "elf Millionen Dollar umgesetzt" zu haben, eine Summe, die für ihn "während der FIAC einfach nicht möglich war". Wie schön.

© Paris Photo 


Da das Grand Palais bis 2024 für seine zukünftigen Aufgaben bautechnisch fit gemacht wird, gingen sowohl die erste Pariser Ausgabe der Art Basel als auch die diesjährige Paris Photo auf dem Champs Mars hinter dem Eiffelturm in einer Konstruktion namens Grand Palais Ephemere über die Bühne.

Eine Fotomesse ist per se die kleine Schwester großer Messen für Bildende Kunst, da mit der Fotografie (oder auch der Videokunst) nicht annähernd solche Summen umzusetzen sind wie mit Gemälden und Skulpturen. Im Vergleich zur Art Basel läuft daher auf der Paris Photo alles gemäßigter, jovialer ab, weniger prononciert karriere-, aufmerksamkeits- und geldgeil ab.

Nichtsdestotrotz können alle, die die Messe mit wachem Verstand durchstreifen, erleben, wie viel zitierte Schlagworte in Bezug auf die Gegenwartskunst  - "Neo-Feudalismus", "Neo-Biedermeier" - konkrete Form annehmen. Auf der längst selbstverständlich gewordenen Ebene der Einteilung der Besucher in VIP und Nicht-VIP hat das nicht nur symbolische, sondern ganz praktische Auswirkungen. Der Pöbel kann nicht nur den freien Blick auf den Eiffelturm im ersten Stock nicht genießen, er hat noch nicht mal eine Garderobe für seinen Mantel oder Rucksack, muss beides die ganze Zeit über in der überhitzen Zelt-Atmosphäre mit sich herumschleppen.  

Ich gebe gerne zu, dass ich auch erfreut war, als ich vor Jahren zum ersten Mal mit der VIP-Card Zugang zu einer Garderobe und einer Limousine hatte, die mich durch die Gegend kutschierte - mir jedoch wesentlich lieber wäre, ich hätte das nicht und alle anderen dafür eine Garderobe. Inzwischen brauche ich schlicht keine VIP-Card mehr, für die Überschaubarkeit dessen, was auf der Messe zu sehen ist, genügt ein Ein-Tages-Pass.

Von Messen wie der Londoner Frieze bin ich es gewohnt, dass ein beachtlicher Anteil an Objekten, die sich nach dem Ende des Kanons und des damit einhergehenden "Anything goes" inzwischen an Ausstellungswänden antreffen lassen, eher einer ambitionierten Spielart des ehrenwerten Berufsbilds "Anstreicher und Lackierer" entspringt als der Kunst. In der Fotografie wäre das Äquivalent dazu die Knipserei, was tatsächlich das ist, was es auf der Paris Photo überwiegend zu sehen gibt - wenn auch von frischer, reflektierter oder zumindest gediegener Machart.

Nur schwer zu ertragen sind für mich die amerikanischen Galerien. Wie von mir 2019 prognostiziert, hat sich das Portfolio für die Upper Class mit Villa im Valley oder Townhouse im Village in so gut wie allen Galerien durchgesetzt. Hanebüchene Stillleben. Kitschige Porträts. Großformatige Bäume und Büsche, teils a la Ansel Adams in Schwarzweiß, teils in Hippie-Farben. Immer wieder Blumen, ob bei Yancey Richardson (New York), Fraenkel (San Francisco) oder Document (Chicago).

© Kathrin Linkersdorff, Hartmann Books


Am überzeugendsten in Szene gesetzt hat dieses Lieblingsmotiv meiner Mutter übrigens eine Deutsche: Kathrin Linkersdorff, deren Arbeiten den konventionellen Rahmen auch nicht sprengen, aber schlicht schöner und technisch konsequenter ausgearbeitet sind als die der anderen. Kein Wunder also, dass sie am Stand der New Yorker Galerie Yossi Milo zu sehen waren. (Das dazu bei Hartmann Books erschienene Coffee Table Book de Luxe bestellt man wie immer am besten bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentaucher.)

Daneben gibt's großformatige Kalenderfotografie wie direkt der Vogue entnommen, ikonische Klassiker und prominente Gesichter. Eher selten Straßengeschehen. Hin und wieder schrecklich vordergründige Bilder von und mit AfroamerikanerInnen, dass es RaMell Ross ("Hale County") oder Jordan Peel ("Nope") den Magen umdrehen müsste. Da nutzen auch die inzwischen obligaten, großartigen Selbstporträts von Zanele Muholi nichts.

Gleichgültig, ob das College Harvard oder Howard heißt - längst durchschaut haben afroamerikanische Intellektuelle wie John McWhorter oder Coleman Hughes diesen Move des im Hintergrund schon seit längerer Zeit immer diverser werdenden Establishments, sich zur argumentativen Immunisierung und Sicherung seiner Privilegien ungeniert Narrative wichtiger Emanzipationsbewegungen anzueignen und damit Karriere zu machen.

Die dahingehend souveränste Präsentation legt ausgerechnet der größte Player hin - Gagosian. Ganz selbstverständlich und kommentarlos hat man mittelformatige Bilder von Altmeisterin Sally Mann und der knapp dreißig Jahre jüngeren Deana Lawson, die für ihre facettenreiche Darstellung afroamerikanischen Lebens berühmt ist, paarweise nebeneinander gehängt. Et voilá -  mehr braucht es nicht.

Prinzipiell gilt: Nicht anders als auf der Art Basel Paris+ lautet auch auf der Paris Photo das Motto "Rich Lives Matter", nicht "Black Lives Matter", und die maßgebenden Protagonisten haben ungleich mehr mit Gianni Infantino als mit George Floyd zu tun.

© Deana Lawson, Sally Mann, Gagosian Gallery


In französischen Galerien geht es ähnlich zu. Manche Großformate, auf denen People of Color (meist Familien entstammend, die aus ehemaligen französischen Kolonien eingewandert sind) zu sehen sind, sind in Motivik und Komposition in einer Weise sentimental, dass Edward Said, wüsste er nicht, wer die Bilder gemacht hat, sie unweigerlich dem Orientalismus zuordnen würde. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben. Sowas gibt's bei uns meist ein paar  Nummern kleiner, etwa in einer Wohlfühlbeilage der Zeit oder in der Fernsehwerbung.

Ansonsten gerne Grünes (Klimawandel, Regenwald), neben Baum und Gebüsch die Wüste und das Meer (Aufnahmen kahler Gebirgsschluchten der Tiefsee) und Gletscher (schwarzweiß oder in Farbe, natürlich unter Hinweis auf ihr durch die Erderwärmung beschleunigtes Schmelzen). Architekturfotografie. Abstraktion, die dabei weniger auf Flächen und Linien basiert, sondern auf Unschärfe. Nur weniges davon ist wirklich interessant, etwa die Arbeiten von Mame-Diarra Niang am Stand der Galerie Stevenson (Kapstadt).

Selbstverständlich der "Female Gaze": Frauen, die ruhig dastehen und frontal in die Kamera schauen, in Bewegung, in Graden von bekleidet bis unbekleidet, schwanger, ungeschminkt, maskiert, in sexuell konnotierter Konstellation überwiegend mit anderen Frauen. Meist aber genügt Frau sich selbst: stark, selbstbewusst, reflektiert, kreativ, sinnlich, sensibel, wild, kommunikativ, engagiert, frei. Ein Wunderwesen ähnlicher Art wurde übrigens in der Geschichte schon mal abgefeiert, man nannte es bis vor kurzem "Mann".

(Werten LeserInnen, die aus aktuellem Anlass an Frauen in Teheran oder Kabul denken, möchte ich dieses Kleinod der Berliner Galerie Persons Projects, die ansonsten meist der glatten Perfektion der Helsinki School verpflichtet ist, nicht vorenthalten.)

Generell wird in Galerien aus aller Welt gerne viel gebastelt, primär Collagen, neuerdings auch von bestens etablierten FotografInnen wie Vivianne Sassen in der Galerie Stevenson. Ihre bunten, sinnlichen Arbeiten kann man sich gut im Salon einer polyglotten Pariser Diplomatin im sechzehnten Arrondissment vorstellen.

© Viviane Sassen, Gallery Stevenson


Übermalen von Fotografien ist angesagt, vieles wirkt jedoch unmotiviert, nicht zu Ende gedacht. Besonders auffällig bei der (ansonsten überaus interessanten) Galerie Sage (Paris), wo etwa ein kleinformatiges, einer Zeitung entnommenes Foto, das Kirk Douglas und Gina Lollobrigida zeigt, mit blauen Schlieren bearbeitet wurde - und das war's dann. Es sollte inzwischen niemand mehr überraschen, dass ausgewählte Arbeiten aus dieser Reihe in einer von der Zeitschrift Elle getroffenen Selektion von Fotografien von Frauen landete.

Ich war an diesem Tag gemeinsam mit Roger Ballen aufgebrochen, der von einem Termin zum anderen hastete. Immer wieder kreuzten sich unsere Wege und mir fiel auf, dass er es vermied, vor einer Arbeit zu verweilen, ja, überhaupt hinzusehen. Als ich ihn schließlich doch dazu brachte, absichtlich vor einer besonders infantilen Arbeit, meinte er: "Ein Bild anzuschauen soll heute eine so rundum angenehme Angelegenheit sein wie sich mit einem Parfum zu besprühen. Der Duft soll die eigenen Persönlichkeit unterstreichen und allgemein nur Wohlgefallen hervorrufen."

Das genaue Gegenteil dessen bildet das Herzstück einer Installation, die nächstes Jahr vorm Centre Pompidou zu sehen sein wird, und die man durchaus als spektakulären Schlusspunkt einer Ära begreifen kann. In einem Kubus wird für die Dauer eines Jahres der grenzgängerische Fotokünstler Antoine D'Agata körperlich anwesend sein, im Grunde darin leben und für das Publikum dabei zu bestimmten Zeiten nicht nur sichtbar, sondern auch ansprechbar sein, ähnlich wie Thoreau in seiner Hütte am Walden Pond, die nicht etwa in der Wildnis, sondern gerade mal einen ausgedehnten Sonntagsspaziergang von Thoreaus Heimatstadt Concord entfernt lag, so dass Besucher ihn problemlos mit Naturalien und Lesestoff versorgen konnten.

Die Seitenwände des Kubus bestehen aus vierundsechzig kleinen Quadraten, in denen sich all das befindet, was sich bei D'Agata im Zuge eines Lebens so angesammelt hat, der sich ständig zwischen den Kontinenten und immer wieder auch zwischen extremen Aggregatzuständen seines Körpers und Geistes hin und her bewegt hat: Bücher, Briefe, Notizhefte, Kontaktbögen, Notebooks, Kleidung, Kameras, Objektive, Familienerbstücke, Zigarettenpackungen.

Dass dieses Projekt so stattfinden kann, verdankt sich der Initiative eines einzigen Mannes: Direktor Laurent Le Bon (seit 2021 im Amt), was insofern von Vorteil war, als der Fotokurator des Centre Pompidou, Florian Ebner, leichter zugängliche Ansätze wie die von Tobias Zielony oder Arved Messmer bevorzugt.

In der Pariser Dependance der Agentur Magnum zeigt mir D'Agata am Notebook den Aufbau des Kubus und umkreist mögliche Situationen, die sich aus seiner Anwesenheit darin ergeben könnten. "Situationen mit Antoine D'Agata" lautet auch der Untertitel jenes filmischen Dokuments, in dem D'Agata Einblicke in sein Leben mit Lee, einer Prostituierten in Phnom Penh gibt - zwei Junkies, die sich hemmungs- und hoffnungslos dem Drogen - und Sexrausch hingeben, den D'Agata in weder zuvor noch danach gesehen Bildern festhält. Zuletzt hat er bei Ausbruch von Covid, als sich die meisten angesichts des Wütens der Delta-Variante zu Hause verbarrikadiert haben, Infrarot-Bilder auf Intensivstationen gemacht hat - eine wiederum singuläre Arbeit.

© Antoine D'Agata


Darauf angesprochen sagt D'Agata, dass es sinnlos sei, an die Intensität vorangehender Arbeiten anknüpfen zu wollen, da sie sich besonderen Umständen verdanke, die sich nicht wiederholen lassen. Nichtsdestoweniger hat er, der schon oft Orte, Menschen, Projekte hinter sich gelassen hat und weiter gezogen ist, wieder mal einen Schlussstrich geplant: Er hat sein Studio in Arles verkauft und seine Habseligkeiten bei Magnum zwischengelagert.

Bei einem Blick auf all die Schachteln frage ich ihn, wie ausgerechnet er, ein Fluchttier, es ein Jahr lang in dem Kubus aushalten will, ausgestellt, von Sicherheitsvorkehrungen eingeengt, zur Anwesenheit verpflichtet. "Ich bin in keiner guten Verfassung", gesteht er. Mit der Arbeit möchte er etwas auf den Punkt und zu einem Abschluss bringen. Danach möchte er noch mal unbelastet ins Freie aufbrechen. Nur das Fotofestival und die Workshops, die er unentgeltlich im kambodschanischen Siem Reap veranstaltet, soll es weiterhin geben.

Ich erzähle ihm von meinem ersten Aufenthalt in Myanmar nach dessen Öffnung für die Außerwelt, als ich auf Schleichwegen im Niemandsland landete, wo es keinen Supermarkt gab, kein Hotel, kein Funknetz, keine Apotheke, keinen Fernseher, keine Tankstelle, keine Straßenbeleuchtung, und der Strom erzeugende Dieselgenerator meist den Dienst verweigerte. Nachmittags saß ich mit den Dorfbewohnern, mit denen ich mich durch Zeichensprache verständigte, im Schatten, trank unglaublich starken und unglaublich süßen schwarzen Tee und rauchte eine Cheroot, eine mit Tamarinde, Zimt und Anis angereicherte, burmesische Zigarre. Ab und zu kamen Kinder vorbei und legten ihre braunen Hände auf unter dem T-Shirt bleich gebliebene Teile meiner Haut - ich war der erste Weiße, den sie leibhaftig zu Gesicht bekommen hatten. Die Zeit dehnte sich aus wie Honig, der aus einem umgestoßenen Glas läuft, alle hochtrabenden Ambitionen und Pläne flossen langsam mit ihr davon.

So in etwa, sagt D'Agata, stellt er sich das, was nach dem Kubus kommen soll, auch vor, und wir genießen für einen Moment die unwirkliche Milde eines spätsommerlichen Novembertags in Paris.  

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de 
© Antoine D'Agata