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Gender und Fotografie, Teil I

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
08.10.2018. Auch in der künstlerischen und professionellen Fotografie regiert der "männliche Blick". So sehr aber der Machismo auch in den Institutionen der Fotografie zurecht beklagt wird, so zensorisch droht der Diskurs über Fotografie zu werden, wenn zum Beispiel Street Photography schon als solche wegen ihres "male gaze" in Frage gestellt wird.
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Die in Hashtags wie #Aufschrei oder #MeToo geschilderten schmerzlichen Erfahrungen von Frauen verändern den beruflichen und privaten Umgang der Geschlechter und rütteln an etablierten gesellschaftlichen Mustern und Hierarchien. Ganze Branchen müssen sich Fragen danach gefallen lassen, welchen Raum und welche Möglichkeiten sie Frauen bieten, uneingeschränkt durch tradierte Macht- und Geschlechterverhältnisse an den vorhandenen Ressourcen zu partizipieren und sich auszudrücken.

Nach der US-Filmindustrie - die Laura Mulvey in Bezug auf ihre "Male Gaze" schon 1975 in einem legendären Essay scharf ins Visier genommen hat - ist nun auch das weite Feld der Fotografie dran. In einem Beitrag des Online Magazins Vox vom 7. September mit dem Titel "Photojournalism needs to face its #MeToo - moment" nimmt sich Kainaz Amaria das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen im Fotojournalismus vor. Die Zahlen, die auf Kristen Chicks Report für die Columbia Journalism Review beruhen, sprechen eine deutliche Sprache: 86 Prozent der Mitarbeiter der Fotoagentur "Associated Press" sind männlichen Geschlechts, 80 Prozent davon weiß. Nicht viel anders sieht es bei "Reuters" aus, wo der Anteil der Männer bei 80 Prozent liegt. In den vergangenen sechzig Jahren haben nur acht Frauen den Pulitzer Preis für Fotoberichterstattung bekommen; und den "World Press Photo Award" bekamen seit 1955 überhaupt nur vier Frauen.
Werbung für ein Stativ der Marke Velbon aus dem Jahr 1978

Dass das Problem bei weitem keines ist, das der Vergangenheit angehört und auch im Bereich der künstlerischen Fotografie zu finden ist, zeigt ein offener, von Hunderten Kreativen unterzeichneter Brief an Sam Stourdzé, den künstlerischen Leiter des bedeutenden Fotofestivals "Rencontres d'Arles" vom Juni diesen Jahres, in dem er aufgefordert wird, für mehr "Gender Equality" zu sorgen. Im Schnitt kommen die in Arles präsentierten Arbeiten von Frauen auf einen Anteil von etwa 15 Prozent, die Ausstellungen im Jahr 2018 wurden von zwölf Männern und drei Frauen bestritten. Dass die letzten 47 von 49 Ausgaben des Festivals von Männern kuratiert wurden, überrascht da niemand. Auch nicht, dass ein Gründer der renommierten Fotoagentur "VII" vor kurzem seinen Hut nehmen musste, weil ihn mehrere Frauen der sexuellen Belästigung bezichtigten.

Die Zahlen sind nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass der Anteil der Frauen mit einem Hochschulabschluss in den künstlerischen Berufen inzwischen bei über sechzig Prozent liegt, so eindeutig, dass man von regelrecht einbetonierten, patriarchalen Verhältnissen sprechen muss, die man zumindest übergangsweise vielleicht nur mit Quoten aufsprengen wird können, ohne dass es weitere zehn, fünfzehn Jahre für den Wandel braucht und eine, wenn nicht zwei Generationen von Fotografinnen dabei verschütt gehen.

Angesichts dieser Verhältnisse liegt es nahe, Amarias Behauptung zuzustimmen, dass "eine Branche, die in allen Bereichen und Institutionen derart von Männern dominiert ist, ein für Frauen unweigerlich toxisches Umfeld darstellt". Gleichzeitig ist es leider so, dass nicht wenige, vom Genderfeminismus unserer Zeit geprägte AktivistInnen, MedienarbeiterInnen und UniversitätsdozentInnen zugleich Vorstellungen von den Aufgaben und Grenzen der Kunst haben, die weit über die Forderung nach einer Emanzipation der Geschlechter hinausgehen, ja, diese in manchen Punkten sogar konterkarieren.

So kritisiert etwa Nina Berman in Amarias Beitrag den "Glauben", der "einem privilegierten Mann hinter der Kamera eine geradezu natürliche Aura von Überlegenheit" verleihe, selbst wenn er nicht "die Sprache der Umgebung spricht", in der er im Zuge seiner Arbeit tätig  ist, "nie in der jeweiligen Region oder Nachbarschaft gelebt hat und auch sonst keinen näheren Bezug aufweist zu dem, was er sieht".

Hier geht es nur noch vordergründig um Mann oder Frau, dahinter kommen Fragen der Legitimität zum Vorschein, wie sie gerade in Debatten um Postkolonialismus, Rassismus und Kulturelle Aneignung massiv diskutiert werden. Wie kommt ein Mann dazu, der vielleicht sogar von einer Agentur vertreten wird, bei der Fälle von sexueller Belästigung bekannt wurden, über die Zwangsprostitution von Mädchen zu berichten? Was berechtigt überhaupt privilegierte, weiße Menschen aus dem Westen, über schwierige Verhältnisse in asiatischen oder afrikanischen Ländern zu berichten, die sie in Wahrheit gar nicht beurteilen können - und zu denen ihre Vorfahren in Form des Kolonialismus wesentlich beigetragen haben? Darf eine weiße Künstlerin wie Dana Schutz ein Bild des 1955 in Mississippi ermordeten und vierzehnjährigen Afroamerikaners Emmett Till malen?

Bei der Frage nach Legitimität geht es im Kern immer darum: wer darf und wer darf nicht? Alle anderen Fragen - wie, unter welchen Umständen, was - kehren elliptisch immer zu dieser Ausgangsfrage zurück.

Der Fotoblogger Jörg Colberg bezieht sich in seinem Beitrag "Photography's Macho Cult" explizit auf Bermans Ausführungen. Nach einer kurzen Einführung, in der er vierzig Jahre nach Mulveys Essay und Cindy Shermans "Untitled Film Stills" feststellt, dass es auch in der Geschichte der Fotografie einen "Male Gaze" gab, hat er auch gleich einen Vorschlag, wer zukünftig nicht mehr darf oder zumindest nicht dürfen sollte: Garry Winogrand (mehr hier) und alle (aus Colbergs Sicht offensichtlich ausschließlich männlichen) Vertreter jener Art von Street Photography, die Winogrand mit begründet hat. Als Grund nennt Colberg die "rüde Weise", in der Winogrand "auf der Straße Fotos von Leuten machte" und es "als cool galt, ihnen ungefragt die Kamera ins Gesicht zu halten und über ihr Missfallen zu lachen". 
Ähnlich ablehnend steht Colberg generell der Tradition des "American Road Trip" gegenüber, bei dem ein fotografierender Nachfahre des "einsamen Cowboys mit seinem Van durch die USA fährt" - womit wie nebenbei eine große Traditionslinie amerikanischer Fotografie von Robert Frank bis Alec Soth (mehr hier, im Fotolot) abgewertet wird. Für Colberg sind das alles signifikante Abschnitte auf dem "allgegenwärtigen, um männliche Themen und Ideen kreisenden und nicht selten offen machohaften" Territorium der Fotografie. Trost findet er darin, dass diese Art der Fotografie "nicht länger akzeptiert" wird und in manchen europäischen Ländern inzwischen "illegal" ist.

Der Respekt vor der Freiheit einer anderen Person oder Gruppe und deren Recht auf ihr eigenes Bild müsse bei aller Freiheit der Kunst immer im Zentrum stehen, jede Form von Übergriff vermieden werden.

Der gut gemeinte, finale moralische Appell, der die VerfasserInnen solcher Texte traditionell als informelle MitarbeiterInnen von "Human Rights Watch" inszeniert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Fragen offen bleiben. Abgesehen von der völlig verkürzenden Darstellung von Winogrands Arbeit und der Zeit, in der sie vonstatten ging, stellt sich bei der Lektüre ironischer Weise dieselbe Frage ein, die Colberg selbst stellt: Was ist mit den Frauen?

Vivian Maier zum Beispiel, unter deren Portraits von direkt in die Kamera blickenden Leute sich einige befinden, die denen von Winogrand nahe stehen und offensichtlich ohne den heute so wichtigen "Consent" aufgenommen wurden? Selbst von Diane Arbus, mit Richard Avedon und Irving Penn eine der Meisterinnen der Portraitfotografie dieser Zeit, gibt es solche Fotos. Und was ist erst mit Lee Miller, die sich in einer der machohaftesten Selbstermächtigungsgesten des Fotojournalismus 1945 selbst beim Bad in Hitlers Badewanne fotografierte? Merry Alpern, die in einer spektakulären und zu Unrecht vergessenen Serie heimlich durchs Fenster Szenen von Prostituierten und ihren Freiern fotografierte? Nan Goldin, die ihren Bekanntenkreis in jungen Jahren in teils berauschtem Zustand und verfänglichen Situationen ablichtete, sodass sie einige der Fotos heute nicht mehr öffentlich zeigen kann?
Copyright: Merry Alpern, Deichtorhallen Hamburg.


Wie die nachträgliche Bewertung von  Künstlerinnen in Zeiten des heftigen Kampfs um "Male Gaze", "Cultural Appropriation" und "Trigger Warnings" ausschauen kann, dafür liefert ein Artikel von Katie Kitamura aus dem Jahr 2009 im Kunstmagazin frieze eine frühe Blaupause: "The Female Gaze". Kitamura teilt darin die Qualität der Exponate von Künstlerinnen in der gleichnamigen Ausstellung danach ein, welche Frauen sich ihrer Meinung nach in ihren Arbeiten mehr vom "Male Gaze" lösen konnten und welche weniger.

Letzteres attestiert sie - man reibt sich die Augen - der Malerin Maria Lassnig. Lassnig gilt heute als eine der bedeutendsten Malerinnen nach 1945, die wie Louise Bourgeois oder auch Lucian Freud das Pech hatte, dass die Beschaffenheit ihres Werks - die ungebrochene Auseinandersetzung mit dem Figurativen - als auch ihrer Persönlichkeit mit den wechselnden Moden des Zeitgeistes nicht kompatibel war, weshalb alle drei erst sehr spät die verdiente Anerkennung fanden.

Lassnigs in ihrer Unbeirrbarkeit partisaninnenhafte und wahrhaft feministische Arbeit beschreibt Kitemura so: "Sie stellt den weiblichen Akt in Zuständen der Ruhe, des erotischen Vergnügens und der Verletzlichkeit dar und bewegt sich damit auf einem Gebiet, dass traditionell dem 'Male Gaze' zuzuordnen ist". Und: "Obwohl die Arbeiten von einer Frau stammen, spukt die phallozentrische Haltung  des 'Male Gaze' noch in ihnen herum".
Gemälde von Maria Lassnig, Foto des Autors.

Es dürfte für begabte IdeologInnen, über die die Cultural Studies, Gender Studies oder Postcolonial Studies inzwischen ebenso verfügen wie die Vertreter der Altright-Bewegung und der Kreationisten, kein Problem darstellen, den Ruhm der zuvor genannten Fotografinnen dadurch ein wenig zu schädigen, in dem sie deren Arbeitsweise als kontaminiert durch die herrschenden Verhältnisse darstellen. Macht aber natürlich keine Kulturredakteurin oder Kuratorin, die noch alle fünf Sinne beisammen hat. Nicht nur, weil das ein revisionistischer Irrsinn wäre, sondern weil diese Frauen im Kampf gegen patriarchalische Privilegien und Pfründe als bewusste Kämpferinnen deutlich mehr hergeben denn als unbewusste Kollaborateurinnen.

Kitamuras Artikel zeigt vor allem eins: Auch wenn im Moment - und meist völlig zurecht - noch die Bastionen des privilegierten weißen Mannes gestürmt werden und gefordert wird, Bilder von Männern abzuhängen oder mit Kommentaren zu versehen, in denen Frauen, Kinder oder bestimmte ethnische Gruppen offenbar objektifiziert oder bar jeder Legitimität dargestellt werden - wirklich sicher ist vor den politischen Ansprüchen dieser zeitgeistigen Form des puritanischen Aktivismus in äußerst empfindlicher, da zutiefst narzisstischer Zeit, schlichtweg niemand.

Auch wenn die unterschiedlichen Personen und Institutionen im Zuge der Gender-Debatte großteils in gutem Glauben und aufklärerischer Absicht handeln, müssen sie aufpassen, am Ende nicht einen neuen "Hays Code" ins Leben zu rufen und dem "Komitee für unamerikanische Umtriebe" ähnlich zu werden - solche Dinge sollte man dann doch ausgewiesenen Rechten überlassen.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de

Der Essay wird fortgesetzt mit einem zweiten Teil, der die Arbeit im Studio und den Umgang mit Nacktheit und Intimität in den Blick nimmt. Er ist Teil einer neuen Reihe im Fotolot, die sich Fragen der Gegenwartsfotografie widmet.