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Linie oder Farbe

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
10.05.2023. Der Band "Unseen Saul Leiter", herausgegeben von Margit Erb und Michael Parillo, versammelt sechsundsiebzig Farbfilmdias des amerikanischen Fotografen, vor allem aus den Jahren 1946 - 1968, die zeigen, wie Leiter in seinen besten Farbfotografien eine Brücke zur Malerei Willem de Koonings schlug.
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2006 erschien im (einst) an wunderbaren Büchern reichen Steidl Verlag ein besonderes Schmuckstück: Saul Leiters "Early Color", die erste Publikation von Leiters Farbfotografien überhaupt. Leiter war zu diesem Zeitpunkt bereits zweiundachtzig Jahre alt. Zehn Jahre waren vergangen, seit Howard Greenberg eine Auswahl der Fotos in einer Ausstellung in New York gezeigt hatte - die Reaktionen darauf waren wohlwollend, hatten aber für Leiters Leben und die Rezeption seines Werks keine Konsequenzen. Trotz seiner anerkannten Schwarzweiß-Fotografie und seines erfolgreichen, aber kurzen Intermezzos als Modefotograf für Magazine wie Elle oder Harper's Bazar lebte er durchweg in prekären finanziellen Verhältnissen, und der Großteil seines über Jahre im Verborgenen stetig wachsenden Werks war so gut wie unbekannt - eine Situation, die sich erst mit der Veröffentlichung von "Early Color" nachhaltig änderte, was ihm die Jahre bis zu seinem Tod 2013 versüßte. 

Letztes Jahr ist nun bei Kehrer die deutsche Ausgabe von "Unseen Saul Leiter" erschienen, das man als Fortsetzung und Ergänzung von "Early Color" ansehen kann. Die Herausgeber Margit Erb und Michael Parillo haben aus zehntausend in Frage kommenden Farbfilmdias sechsundsiebzig ausgewählt, der immer noch nicht zur Gänze aufgearbeitete Bestand liegt irgendwo bei vierzig- bis sechzigtausend. Die Größe der Dias beträgt fünf mal fünf Zentimeter. Leiter griff bevorzugt auf  35-mm-Farbdiafilm von Kodachrome zurück, wobei er Filme bevorzugte, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war, da ihm deren blasse Farben gefielen (Sachgemäße Handhabung ist bei diesem Format wichtig, Fingerabdrücke können sich mit der Zeit in das Dia hineinfressen und es langsam verrotten lassen.)

Die Dias im Buch entstanden großteils zwischen 1946 und 1968, Leiters in dieser Hinsicht produktivster Arbeitsphase, bevor er sich der kommerziellen Modefotografie zuwandte. In dieser Zeit zog er mit seinem Studio mehrmals um, die Dias überlebten die Umzüge ebenso wie den brütend heißen New Yorker Sommer. Einmal jedoch kam es im Studio zu einem Brand, und die Feuerwehr zerstörte durch das verspritzte Flammschutzmittel eine große Anzahl von Dias.

Der 1923 in Pittsburgh geborene Leiter entstammte einer orthodoxen jüdischen Familie. Der Vater war Talmud-Gelehrter, der junge Leiter widersetzte sich seinem Wunsch, in seine Fußstapfen zu treten und ebenso Rabbi zu werden wie er. 1936 hatte ihm seine Mutter zur Bar-Mizwa seine erste Kamera geschenkt - zehn Jahre später entschied er sich für die Kunst und ging nach New York.

© Saul Leiter Foundation, Kehrer Verlag



Wie Gary Winogrand streift er von Beginn an durch die Straßen: East Village, Harlem, Downtown Manhattan, Central Park. Er richtet den Fokus bewusst auf das Naheliegende, Alltägliche. "Es gefällt mir, mich Dingen zuzuwenden, die sehr gewöhnlich sind und etwas in ihnen zu finden, das es nicht ist", sagt er später in der kurz vor seinem Tod fertig gestellten Doku von Thomas Leach "In No Great Hurry: Fifteen Lessons of Life with Saul Leiter".

Weitere Lektionen lauten: "Alles zu wissen ist nicht gut. Es kann sehr befriedigend sein, in einem Zustand angenehmer Verwirrung zu leben" oder "Nichts zu tun hat etwas Nobles an sich" - was allzu wörtlich genommen angesichts von Leiters ungeheurem Output mit einem Augenzwinkern gelesen werden muss und sich weniger auf seine Arbeit als auf seine Gleichgültigkeit gegenüber den Erfolg versprechenden, ungeschriebenen Gesetzen des Markts bezieht.

Ein Mitarbeiter von Esquire erinnert sich: "Er sah aus wie ein ungemachtes Bett." Als der Art Director Leiter aufforderte, ihm seine Mappe zu zeigen, kramte Leiter in seiner Tasche herum und förderte Zigarettenschachteln, Taschentücher und eine Handvoll Münzen zutage, bis er schließlich den mit Gummibändern zusammen gehaltenen ramponierten Kasten mit seinen Dias hervorholte. Widerwillig warf der Art Director einen Blick darauf. (Es versteht sich von selbst, dass Leiter mit so einem Auftritt heute keine Chance hätte.)

Margit Erb, die nach ihrem College-Abschluss bei Greenberg zu arbeiten begonnen hatte und heute die Direktorin der Saul Leiter Foundation ist, sah in der Ausstellung 1996 zum ersten Mal ein Farbfoto von Leiter, der sich die Abzüge nur leisten konnte, weil der legendäre Fotopapierhersteller Ilford deren Druck bezuschusste. Als sie im Laufe der Jahre mit ihm in die bis dahin kaum zu erahnenden Tiefen seines Archivs eintauchte, fühlte sie sich wie "ein Kind in den Ferien" und erkannte mit "Schock und Freude", was für ein Experimentator Leiter auf seinem Gebiet war. Später gesellte sich außer ihrem Mann Michael Parillo noch die deutsche Kunsthistorikern Elena Starke hinzu, die an einer Dissertation über Leiters Farbfotografie arbeitete.

Leiters Studio in Manhattan © Saul Leiter Foundation, Kehrer Verlag


Leiter wies immer wieder darauf hin, dass "wir in einer farbigen Welt" leben, "von Farbe umgeben" sind, stellte dabei jedoch zu seinem Bedauern fest, dass "Farbe etwas ist, das man die ganze Kunstgeschichte gering geschätzt hat. Zeichnen war wichtig, Form war wichtig, Farbe nicht."

Leiter war indes kein Pionier der Farbfotografie. Der zwei Jahre ältere Ernst Haas etwa veröffentlichte 1953 im Magazin Life auf mehreren Seiten seine Farbfotografien zum Thema "New York: Images of a Magic City" und hatte vierzehn Jahre vor William Eggleston eine Ausstellung seiner Arbeiten im MoMA. Der Unterschied zwischen beiden Fotografen besteht darin, dass die Bilder von Haas ihre Qualität seiner Interaktion mit dem unmittelbaren Motiv verdankt; er war ein ungemein kreativer Straßenfotograf. Leiter hingegen interessierte sich genauso für Malerei wie für Fotografie und öffnete seinen Ansatz einer ganz alten Frage in der Malerei, "Linie oder Farbe", wie sie schon in Balzacs Novelle "Das unbekannte Meisterwerk" verhandelt wird und später in die Glaubensfrage "Picasso oder Matisse" mündet.

In seiner Farbfotografie stand Leiter auf der Seite von Matisse, man merkt zudem den Einfluss der in New York gerade angesagten abstrakten Malerei. Seine Leitsterne dürften zeitlich jedoch früher anzusiedeln sein, Degas, Vuillard und vor allem Bonnard, dessen Gelb- und Rot-Töne viele von Leiters kleinformatigen Gouachen und kolorierten Fotografien prägen.

Während Leiter in seiner Malerei letztlich epigonal bleibt, keine eigene Vision entwickelt, schlägt er in seinen besten Farbfotografien eine Brücke zu Willem de Kooning, den er persönlich gut kannte und der lange zu Unrecht dem Abstrakten Expressionismus zugerechnet wurde, während sich bei ihm Figuration und Abstraktion unter dem Primat der Farbe und des Pinselstrichs zu einer Einheit verbinden - ähnlich wie auf Leiters Fotos, wo sich Innen und Außen, Vorder- und Hintergrund überschneiden, in spiegelnden Reflektionen auf Schaufensterscheiben und in Regenpfützen auflösen.

© Saul Leiter Foundation, Kehrer Verlag


Nach seiner ikonischen "Woman"-Serie wandte sich de Kooning Mitte der fünfziger Jahre in großformatigen Bildern wie "Gotham News" (1955) oder "Saturday Night" (1956) dem pulsierenden Leben der Großstadt zu. Er unternahm lange Autofahrten und war von der Geschwindigkeit fasziniert, in der Dinge für einen Moment aufblitzten und im nächsten wieder verschwunden waren. Leiter und Haas waren ebenso angetan von Autos und Mobilität - wobei Leiter nicht nur vorüberfahrende, gelegentlich Lichtspuren hinterlassende Fahrzeuge, sondern auch die eingeschränkte Sicht aus einem stehenden oder fahrenden Auto heraus faszinierten.

Den letzten Schritt zum freien Spiel der Farbe wie de Kooning in "Montauk Highway (1958)" haben beide in ihrer Fotografie nicht vollzogen. (Die Großstadt ist im Übrigen nicht das einzige gemeinsame Motiv, an dem de Kooning und Leiter zur selben Zeit in derselben Stadt arbeiteten: de Kooning nahm eine Neuinterpretation des weiblichen Akts in Angriff, Leiter schuf Tausende von subtilen Schwarzweiß-Akten, auf denen meist seine langjährige Partnerin Soames Bantry zu sehen ist.)

Margit Erbs Schilderungen sind in einem für Bücher dieser Art ungewöhnlich persönlichen Ton gehalten. Sie scheut sich nicht, Einblicke in ihre Gefühlswelt zu geben: "Als ich an diesem Text schrieb, träumte ich von Saul. Seit seinem Tod habe ich wiederkehrende Träume gehabt. Einige sind voller beängstigender Ereignisse wie Überflutungen in seinem Studio, bei denen ich bis zum Kinn in seinen herumtreibenden Sachen stehe und zu retten versuche, was möglich ist. (…) Aber in diesem Traum sehe ich Saul vor mir und breche in Tränen aus, überglücklich, dass er zurück auf der Erde ist. Wir klopfen einander auf die Schultern und lachen. Gemeinsam fühlen wir uns ruhig und sind zufrieden."

Dazu haben beide nach der Publikation dieses schönen Buches auch jeden Grund.

truschner.fotolot@perlentaucher.de








Margit Erb/Michael Parillo (Hg.)
: Unseen Saul Leiter. 160 Seiten, 22 x 28 cm, Hardcover. Kehrer Verlag, Heidelberg 2022, 40 Euro. ISBN: 3969000831 - zu erwerben bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentaucher. Hier das Buch im Perlentaucher.