Magazinrundschau
Aber was ist mit den Karotten?
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.12.2023. Der russische Autor Sergej Lebedew betrachtet für Desk Russie im Gulag von Sandarmoch erstaunt die Mutation von 200 ermordeten ukrainischen Kulturschaffenden in sowjetische Kriegsgefangene. In Granta empfiehlt Jürgen Habermas der Ukraine noch einmal Friedensverhandlungen mit Russland. Quillette zeichnet am Beispiel des Verhältnisses zwischen jüdischen und schwarzen Feministinnen nach, wie Sektenbildung funktioniert. Africa is a Country sucht in Afrika nach Vorbildern für eine Lösung des Nahostkonflikts. Elet es Irodalom freut sich über das Feuer Bela Tarrs. Der Guardian lernt das Belohnungssystem Nordkoreas kennen. Die London Review hätte ihre Alte Musik am liebsten nur halb so alt. Guernica sammelt auf dem Lamu Port-South Sudan-Ethiopia Transport Corridor in Kenia abgehackte Hände auf.
Desk Russie | The Insider | HVG | London Review of Books | Guernica | Granta | Quillette | Africa is a Country | Elet es Irodalom | Guardian | Meduza | iTvar
Desk Russie (Frankreich), 18.12.2023
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Der russische Journalist und Autor Sergej Lebedew ruft dazu auf, die russischen Verbrechen in der Ukraine endlich in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen: Der Angriff auf die Ukraine, schreibt er, ist als eine logische Konsequenz einer imperialistischen russischen Politik in Europa zu begreifen, die nie geendet hat und von Russland selbst niemals aufgearbeitet wurde. Symbolisch für die Politik der Unterdrückung steht der Umgang des russischen Regimes mit dem Denkmal in Sandarmoch für das Massaker des NKWD an 6000 Gulag-Häftlingen, unter ihnen etwa 200 ukrainische Kulturschaffende: "2015 sprach Jurij Dmitriev, Forscher über die sowjetischen Zwangsarbeitslager und Leiter der karelischen Zweigstelle von Memorial, in Anwesenheit offizieller Persönlichkeiten über den Krieg in der Ostukraine - einen Krieg, den Russland nicht anerkannte und im Geheimen führte. Dmitriev sprach auch über die Opfer dieses Krieges, deren Namen eines Tages - wie in Sandarmokh - öffentlich gemacht würden, obwohl ihre Mörder auf ein ewiges Vergessen hofften ... Es war offenbar im Jahr 2015, als die Sicherheitsdienste begannen, sich mit dem Fall Dmitriev zu befassen. Er hatte eine rote Linie überschritten: Er hatte auf die ungeheuerliche Kontinuität der Verbrechen hingewiesen. Im Juli 2016 stellten zwei Historiker aus Petrosawodsk, Jurij Kilin und Sergej Weriguin, unerwartet die weit hergeholte Hypothese auf, dass in Sandarmokh keine Gulag-Häftlinge begraben worden seien, sondern sowjetische Kriegsgefangene, die während des Zweiten Weltkriegs von der finnischen Armee erschossen worden waren. Im selben Jahr ignorierten die russischen Beamten den Gedenktag am 5. August, zum ersten Mal seit der Einrichtung des Gedenkfriedhofs. Im Dezember 2016 wurde Dmitriev verhaftet...Im Jahr 2018 führte die Russische Gesellschaft für Militärgeschichte (RVIO) in Sandarmokh Ausgrabungen von zweifelhafter Legalität durch ... Bei diesen wurden mehrere Leichen aus den Massengräbern entfernt und an einen unbekannten Ort gebracht. Im Jahr 2019 gab das RVIO öffentlich bekannt, dass die Ausgrabungsdaten die Theorie von Kilin und Veriguin bestätigten ... schließlich wurde Dmitriev, der ursprünglich freigesprochen worden war, zu 15 Jahren Haft verurteilt und nach Mordowien in den Dubravlag geschickt, eine weitere Region des Landes mit einer langen und schrecklichen Strafgeschichte, tatsächlich eine der 'Inseln' des von Alexander Solschenizyn beschriebenen sowjetischen 'Archipel Gulag'. Angesichts seines Alters und der sanitären Bedingungen in den russischen Strafkolonien ist Dmitrievs Inhaftierung ein legalisierter Mord."
Granta (UK), 23.11.2023
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In dieser Ausgabe, die übrigens Deutschland gewidmet ist, gibt es auch ein sehr sehr langes Gespräch mit Eyal Weizman, Gründer von Forensic Architecture, und die Veranstaltungskuratorin und Aktivistin Emily Dische-Becker, die die Erinnerungskultur in Deutschland kritisieren, weil sie das Judentum "mystifiziere", der rechten Regierung in Israel in die Hände spiele und nicht akzeptiere, dass der Holocaust nur ein Unterfall des Kolonialismus sei. "Es ist nun offensichtlich, dass das Thema Antisemitismus ein Laboratorium für eine umfassendere antidemokratische Politik darstellt und als Präzedenzfall für das Verbot anderer Protestformen dient", ist Dische-Becker überzeugt. "Erst wurden die palästinensischen Demonstrationen aufgelöst, jetzt werden andere Demonstrationen der Linken verhindert. So hat die Regierung beispielsweise begonnen, mit Maßnahmen wie Präventivhaft gegen Umweltaktivisten vorzugehen." Was Dische-Becker allerdings mit keinem Wort erwähnt, ist der Slogan, der jahrelang bei propalästinensischen Demonstrationen gerufen wurde, bis es der trägen deutschen Öffentlichkeit mal auffiel: "Hamas, Hamas, Juden ins Gas."
In einem zweiten, ebenfalls sehr langen Gespräch mit Weizman und Dische-Becker, das nach dem 7. Oktober geführt wurde, bekennt Weizman: "Als Nachkomme einer Familie von Pogrom- und Holocaust-Überlebenden kann ich nicht leugnen, dass die Ermordung von Familien aus nächster Nähe emotional sehr aufwühlend war. Aber das Trauma, das auch ich erlebe, kann die Verantwortung der historischen Analyse nicht ersetzen. Die israelische Gesellschaft scheint im 7. Oktober festzustecken, wie in einer endlosen Gegenwart. ... Das Trauma erzeugt einen metageschichtlichen psychologischen Zustand der permanenten Verfolgung. Das ist sehr gefährlich, vor allem, wenn Israel eine so große Armee hat, mit so viel internationaler Unterstützung und einer Vernichtungsmentalität. Israelische und deutsche Politiker sagen: 'Nie wieder ist jetzt'. Das artet in eine groteske Parodie des historischen Gedächtnisses aus, wenn der israelische Botschafter bei der UNO mit einem Davidstern als Rechtfertigung für die Vernichtung des Gazastreifens dasteht und die völkermörderischen Aussagen der israelischen Regierung und Armee wiederholt. ... Der Tag nach diesem Krieg wird nicht viel anders sein als der Tag davor, solange wir nicht die Frage der Befreiung und Gleichheit der Palästinenser adressieren. Dass Palästinenser Rechte haben über Palästina? Das ist nicht die Frage, sondern das Ziel unseres Kampfes. Eine andere Frage ist: Welche Rechte haben Juden in Palästina?"
Quillette (USA), 16.12.2023
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Warum so viele linke Juden das Existenzrecht Israels nicht anerkennen, hat bisher noch niemand so recht zu erklären versucht. Man fühlt sich dabei an jene iranischen Frauen erinnert, die Ende der Siebziger Jahre für die islamische Revolution im allgemeinen und den Tschadorzwang für Frauen im besonderen demonstrierten. Wie die Entwicklung bei linken Juden verlief, kann man jetzt ganz gut nachverfolgen in Kara Jesellas Artikel über das Verhältnis zwischen jüdischen und schwarzen Feministinnen in den USA seit den Sechzigern: Noch während der Bürgerrechtsbewegung oft an einem Strang ziehend, bezichtigten schwarze Feministinnen Jüdinnen zunehmend des "Weißseins", woraufhin ein Teil der jüdischen Feministinnen immer weiter nach links rückte, um diesem Vorwurf etwas entgegenzusetzen. Wie sektenartig das am Ende wird, zeigen die ideologischen Verrenkungen, die es braucht, um zu "Queers for Palestine" zu kommen: "Der Feminismus machte sich zueigen, was die Queertheoretikerin Heather Love als eine Tendenz des queeren Denkens zu immer schärferer Abweichung ("injunction to be deviant.") beschrieben hatte. Der Essay 'Queer Times, Queer Assemblages' der Gendertheoretikerin Jasbir K. Puar aus dem Jahr 2005 feierte palästinensische Selbstmordattentäterinnen, deren 'Auflösung der Grenzen des Körpers eine völlig chaotische Herausforderung an normative Konventionen von Geschlecht, Sexualität und Rasse darstellt und normative Konventionen von 'angemessenen' körperlichen Praktiken und der Heiligkeit des nicht behinderten (able) Körpers missachtet.' Diese 'queeren Körperlichkeiten', informiert uns Puar, untergraben die liberale westliche Tradition, weil 'Selbstmordattentäter das Rationale nicht transzendieren, die Grenze zum Irrationalen nicht akzeptieren'. Sie sind die Apotheose dessen, was Queer immer versucht hatte zu sein: nicht so sehr über sexuelle Identität definiert, sondern über 'widerständige Körperpraktiken' und Devianz selbst - über internationale Grenzen hinweg. Die ideale feministische Persona hatte sich von der gebildeten arbeitenden Frau zur jungen Radikalen, zur lesbischen Frau of Color und nun zur queeren palästinensischen Terroristin entwickelt. In der Zwischenzeit verunglimpften Puar und andere - darunter die Queer-Aktivistin Sarah Schulman - Israels 'zugegebenermaßen vorbildliche' Behandlung von Schwulen und Lesben als 'Pinkwashing', ein Mittel, um die Welt von ihrem Umspringen mit den Palästinensern abzulenken."
Africa is a Country (USA), 14.12.2023
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Elet es Irodalom (Ungarn), 15.12.2023
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Guardian (UK), 18.12.2023
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Meduza (Lettland), 15.12.2023
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iTvar (Tschechien), 18.12.2023
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The Insider (Russland), 13.12.2023
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HVG (Ungarn), 14.12.2023
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London Review of Books (UK), 14.12.2023
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Cela dit, haben die Fanatiker der Alten Musik immer einen Trumpf: Bei ihnen klingt Musik so fremd, dass sie wieder neu ist. Hier das Credo aus Guillaume de Machaults "Messe de Nostre Dame" unter Andrew Parrott:
Guernica (USA), 18.12.2023
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