Vorgeblättert

Hafid Bouazza: Paravion. Teil 3

06.07.2005.
Die Zufriedenheit des Karrenlenkers wurde überschattet von einer Trübseligkeit, die auch die anderen Gäste des Teehauses zur Genüge kannten. Einsamkeit war es nicht, denn sie hatten ja einander und verbrachten viel Zeit gemeinsam. Sie teilten Gespräche, Mahlzeiten und Schlafzimmer. Nein, es war die Wehmut eines Lebens in einer Welt, die ohne sie entstanden war und in der ihre Anwesenheit keine Notwendigkeit war. Oder anders gesagt: Das Leben nahm hier seinen Gang, ohne daß sie darauf einen Einfluß ausübten. Die Dinge waren einfach anders, als sie es gerne hätten. Sie besaßen keine Autorität, ihre Männlichkeit wurde nicht respektiert, hier zählte das natürliche Übergewicht ihres Geschlechts nichts mehr. Das war nicht gut. Wie sollten sie hier Anschluß finden? Dafür wären Kompromisse nötig, und Kompromisse waren fatal für sie. Das hier war eine Welt, in der nichts deutlich unterschieden und getrennt wurde. Dieses Leben widersprach allen hierarchischen Systemen, egal ob natürlicher oder kultureller Art, der Stolz der Männer zerbröckelte, ihre Ehre wurde auf eine harte Probe gestellt, ihr Machtbereich beschnitten. Sie hatten Heimweh, doch nicht nach Moreas roter Erde, sondern nach der Stellung, die ihnen dort zuteil gewesen war.
     Anfangs hatten sie Trost gesucht und gefunden bei den Frauen aus dem Ostteil der Stadt. Mollige, lockige und brillentragende Nachbarinnen mit ausladendem Hinterteil und überwältigender Selbständigkeit. Frauen mittleren Alters, die entweder geschieden oder Witwen waren oder sich für eine selbstbestimmte Existenz entschieden hatten. Manche von ihnen waren einsam, die Hände zitterten und der Atem roch nach Schnaps, die Münder schienen für das stündliche Schnapsglas stets gespitzt zu sein. Unbeholfener Sex, Unverständnis auf beiden Seiten. Das Leben der Frauen wurde allmählich so schäbig wie die Gegend, in der sie wohnten. Die Pflanzenbottiche, die angeblich aufgestellt worden waren, um "alles zu verschönern", wurden zuerst vom Trübsinn erfaßt, die duftlosen Rosen ließen die Köpfe hängen wie Maultiere. Die vielbenutzten Bänke sackten durch, und die Langeweile kratzte ihre Zeichen und Buchstaben hinein.
     "Hey, hör zu, ich sag s dir nur einmal ..." So begannen die meisten Sätze dieser Frauen. Mit Recht. Denn sie konnten nur ein bestimmtes Maß an kulturellen Unterschieden und Widrigkeiten ertragen. Die bemerkenswerteste war Marijken, mit Lockenwicklern, Bademantel und Armen aus Teig. Sie hatte in aller Öffentlichkeit mit dem Teppichhändler geflirtet, ein unschuldiger Flirt mit einem Clown, der ein verrottetes Gebiß voller Löcher hatte, groß wie im Kerngehäuse von Äpfeln. "Du könntest dir mal die Zähne putzen", sagte sie zu ihm, doch der Teppichhändler vermutete sofort eine Zweideutigkeit dahinter. Auch ihr Name gefiel ihm, er war leicht zu merken, denn er klang wie Karima, ein moreanischer Name. Aus diesem Grund nannte er sie auch Marika.
     "Vielleicht du pusten", antwortete er, als er auf der Straße stand, unter dem Arm einen Teppich und einen Fuß bereits Richtung Teehaus gerichtet. Er sagte es tatsächlich: pusten, er sagte auch immer Tefelon oder Pozilei. Sie fand Spaß an diesem vierschrötigen Mann und nahm ihn mit in ihre Stammkneipe, wo er den Alkohol zurückwies und statt dessen Limonade schlürfte. Die Gäste umdrängten ihn, klopften ihm auf die Schulter. Es wurde laut gelacht, und auch er lachte und nickte, obwohl er so gut wie nichts verstand.
     "Weit von Hause", wiederholte er immer wieder. Er hielt diese Wendung für äußerst passend, um damit gleichzeitig das Gefühl des Fremdseins, das Heimweh und das ewige Verlangen nach Liebe auszudrücken. Er betrachtete die kleinen dicken Teppiche, die in vielen hiesigen Kneipen auf den Tischen lagen, und roch den Duft schalen Biers. Er lauschte dem Krach, schüttelte den Kopf über ein Volk, das sich mit solch kehligen Lauten verständigte, und wunderte sich, daß man in dieser Sprache überhaupt Witze machen konnte. Ein hoffnungslos verlorenes Volk, soviel war ihm klar.
     "Hör nicht auf die", sagte sie und drückte seine Hand, "die wollen dich nur ärgern." Ihre Augen mit den durchsichtigen Wimpern, rosafarbenen Augenlidern und grauen Iriden blickten glasig und leutselig. "Ist dir nicht warm in deinem dicken Schlabberkleid?"
     Unter dem Tisch ließ er die Finger über ihre Knie wandern. Er fragte sich, wie viele Gläser mit dieser sirupartigen Flüssigkeit sie noch brauche, bevor er endlich zum Zuge kommen könne. Sie schlug seine Hand weg: "Hey, mach mal halblang, so läuft das bei uns nicht!"
     Als sie endlich - die Dämmerung hatte sich auf die Straße gelegt wie alte Mülltüten - die Kneipe verließen, ging er einfach mit ihr. Vor ihrer Wohnung suchte sie in der Handtasche nach dem Schlüssel, und nachdem sie ihn endlich gefunden hatte, streckte sie ihm die Hand zum Gruß hin. Voll Entsetzen starrte sie darauf, als machte sie ihm damit ein unmoralisches Angebot. Er hatte doch wohl nicht umsonst so geduldig neben ihr ausgeharrt und zehn Gläser Limonade hinuntergewürgt? Mit sanftem Lächeln wedelte er die Hand weg und kniff sie in den Hintern. "Das läßt du mal schön!" rief sie und stieß seine Hand zurück. "Ich habe den Männern endgültig abgeschworen. Mit mir kein Walzertanzen mehr."
     Im Dunkeln erschien sie noch fülliger und war deshalb noch begehrenswerter. Ihr violetter Rock spannte um die Hüften, der schlaffgewordene Kragen ihrer gelben kurzärmligen Bluse entblößte ein Stück Busen, er sah die Kerbe im Fett, schlappes Fleisch, müde vom Alkohol. Das Licht der Straßenlaternen füllte ihre Brillengläser aus. Er blieb stehen und sah zu, wie sie die Haustür öffnete, ins Haus trat und ihm einen Abschiedsgruß zuflüsterte. Aber er ging nicht.
     "Na, dann komm halt. Ist ja auch egal!"
     Hocherfreut folgte er ihrer Aufforderung. :Also doch Wlazertanzen!9 dachte er. In ihrer Wohnung roch es nach Chlor und nassen Hunden. Lebensmittelkonserven standen auf der Anrichte, im Kühlschrank, aus dem sie eine bereifte Schnapsflasche holte, lagen verfaulter Lauch und Salat. Im Wohnzimmer stand ein Sessel mit herausstehender Sitzfeder, und ihr Schlafzimmer war ein hempelhaftes Durcheinander aus Bettlaken, schmutzigen Kleidern, Unterwäsche und, merkwürdigerweise, Wäscheklammern aus Plastik und Holz. Das verstaubte Luxaflex-Rollo war so farblos wie ihre Haut, die Lamellen waren zerknickt, verbogene Gitterstäbe, durch die die Freude die Wohnung einst fluchtartig verlassen hatte. Und an diesem Ort fand ihre traurige Turnübung statt, ein Geziehe und Gezerre an Kleidern und Körperteilen, voller Falten, die unauffindbar, und Stöße, die schmerzhaft waren. Zum Glück war sie zu betrunken, um ein Vergnügen oder Mißvergnügen daran zu empfinden, trotzdem war ihr die armselige Gymnastik mit einem unbeholfenen Mann, der nur aus Knie und Stoppeln zu bestehen schien, nicht unangenehm. Er kniete sich aufs Bett, auf dem sie schon lag, und machte ein paar ziellose Bewegungen, er riß am Halter ihrer ausschweifenden Büste, als zäumte er einen Esel ab, dabei hielt er den Saum seines Gewands unters Kinn geklemmt, die Zunge zwischen den Zinnen seines Gebisses aufgerollt; hastig machte er sich an die Arbeit, voller Angst, seine innere Bombe würde schon auf der Fußmatte losgehen, wenn sie nur endlich mal aufhören würde zu lachen, dann ginge alles viel besser. Es war Holzschuhsex im Schlamm, und küssen tat er auch nicht. Das Bett, das nur das Gewicht einer Einzelperson kannte, und zwar immer auf derselben Stelle, war mit dieser erotischen Rammelei überfordert und geriet in Panik. Als das Scharmützel endlich vorbei war, stieß es einen erleichterten Seufzer aus.
     "Als bimse man einen Brunnen", berichtete er am nächsten Tag im Teehaus. "In diesem Land ist alles naß. Und vom ständigen Fahrradfahren werden die Frauen untenherum ganz weit."
     Er hatte den Teppich bei ihr vergessen, zum Glück, denn jetzt hatte er einen Grund, noch mal zu ihr zu gehen, wie immer in sein mausgraues Gewand gekleidet, drunter ein weißes Hemd, aber keine Hose, nicht mal eine Pumphose.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta

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